Niederlande: Zahlen, Schätzungen, Dunkelziffern
JEROEN BREEKVELDT, BioSkopler, Mitarbeiter des NoGen-Archivs in Wageningen (Niederlande) und in der AG Linke Analyse Biopolitik
Zahlen, Schätzungen, Dunkelziffern
- Neue Berichte zur Euthanasie in den Niederlanden
aus: BIOSKOP Nr. 22, Juni 2003, Seite 13
Rund ein Jahr nach Inkrafttreten des Euthanasiegesetzes sind in den Niederlanden zwei umfangreiche Berichte erschienen, die über PatientInnentötungen auf Verlangen informieren sollen. Der Öffentlichkeit werden zwar detaillierte Zahlenreihen zur Euthanasiepraxis präsentiert. Wie aussagekräftig ihre Tabellen sind, wissen aber nicht einmal diejenigen, die sie zusammengestellt haben.
ÄrztInnen, die PatientInnen auf deren Bitte ums Leben gebracht haben, müssen dies anschließend einer regionalen Kontrollkommission melden. Die erste Statistik nach Inkrafttreten des Euthanasiegesetzes im April 2002 liegt nun vor: Binnen zwölf Monaten haben MedizinerInnen insgesamt 1882 Tötungen mitgeteilt. In der Regel hätten sie den PatientInnen ein tödlich wirkendes Medikament gespritzt; in 184 Fällen sei »Hilfe bei der Selbsttötung« geleistet worden, wobei der Kranke das Tod bringende Barbiturat selbst getrunken habe. Die meisten Getöteten hätten an Krebs gelitten und seien zu Hause ums Leben gebracht worden, aber auch Krankenhäuser, Pflegeheime und Hospize seien Orte der Euthanasie gewesen.
PatientInnentötungen werden in den Niederlanden nicht strafrechtlich verfolgt, wenn der Arzt schriftlich versichert, er habe einen Katalog definierter »Sorgfaltskriterien« eingehalten. Beispielsweise muss er angeben, dass der Zustand des Kranken »aussichtslos« und sein »Leiden unerträglich« sei; der Todeswunsch muss »freiwillig« und nach reiflicher Überlegung geäußert worden sein. _(Siehe BIOSKOP Nr. 17 Zweifel, dass ÄrztInnen sich an die Vorgaben gehalten haben, hätten die Kontrollkommissionen nur in 5 der 1882 Fälle gehabt; Staatsanwältinnen sollen nun ermitteln, ob gesetzeskonform getötet worden ist oder nicht.
Regierung und Parlamentsmehrheit aus Sozialdemokraten und Liberalen hatten wiederholt betont, das Gesetz werde die Euthanasiepraxis transparent machen. Daran glaubt aber nicht mal der Vorsitzende der Kontrollkommissionen so recht. Reina de Valk erklärte bei Vorlage des Tätigkeitsberichts, die Euthanasie-Dunkelziffer liege vermutlich doppelt so hoch wie die gemeldeten Zahlen. Selbst das Gesundheitsministerium ist offenbar skeptisch und lässt untersuchen, warum ÄrztInnen PatientInnentötungen wohl verschweigen.
Dass die vorgelegten Zahlen tatsächlich exakt sind, kann niemand ernsthaft behaupten.
Eine verlässliche Abbildung der Wirklichkeit ist sicher auch nicht der Report »Medizinische Entscheidungen am Lebensende«, der Ende Mai 2003 veröffentlicht worden ist. Das 269 Seiten dicke Werk, erstellt im Auftrag der Regierung von einem Team um den Amsterdamer Sozialmediziner Prof. Gerrit van der Wal, hat eine Stichprobe der jährlich rund 140.000 Todesfälle in den Niederlanden ausgewertet und außerdem 410 ÄrztInnen interviewt, denen Anonymität zugesichert wurde.
Auf dieser Basis haben die WissenschaftlerInnen hochgerechnet, wie viele PatientInnen im Jahr 2001 – also noch vor Gültigkeit des Euthanasiegesetzes – durch MedizinerInnen getötet bzw. bei der Selbsttötung »unterstützt« worden seien. Insgesamt, so die Schätzung, sollen in den Niederlanden 3.800 Menschen auf diese Weise ums Leben gekommen sein; offiziell gemeldet hatten MedizinerInnen in 2001 exakt 2.054 Tötungen. Und euthanasiert wird in den Niederlanden mitunter wohl auch ohne Zustimmung der Kranken: In 900 Fällen, schätzen van der Wal und KollegInnen, habe keine ausdrückliche Einwilligung des Getöteten vorgelegen.
Dass die vorgelegten Zahlen tatsächlich exakt sind, kann niemand ernsthaft behaupten. Darauf kommt es der Euthanasielobby aber auch nicht entscheidend an: Sie setzt auf die politische Wirkung des Reports, der einmal mehr suggeriert, es sei normal, Menschen zu töten, wenn sie nur damit einverstanden sind.
© Jeroen Breekveldt, 2003
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Autors