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Keiner stirbt für sich allein

Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung beleuchtet fundiert Oliver Tolmein in seinem Buch Keiner stirbt für sich allein. Der Autor plädiert für einen Perspektivenwechsel in der »Sterbehilfe«-Debatte: Sie solle nicht vorrangig darum kreisen, wie der Gesetzgeber Eingriffe oder Unterlassungen legitimieren könne, die den Tod gezielt herbeiführen oder seinen Eintritt beschleunigen. Vielmehr müssten »die eigentlichen Hindernisse für ein selbstbestimmtes Lebensende« in den Blick genommen werden – nämlich: Pflegenotstand, Kostendämpfung und der technokratisch-kalte Umgang mit dem Tod.

Das 256 Seiten starke Werk, für das Tolmein auch in Hospizen und Palliativstationen recherchiert hat, erschien 2006 im C. Bertelsmann Verlag (München).




OLIVER TOLMEIN, Rechtsanwalt und Journalist

Kein Fall für die Medien?

  • Erfahrungen und Wünsche eines Menschen, der ein selbstbestimmtes Leben am Lebensende führen will

aus: BIOSKOP Nr. 37, März 2007, Seiten 4+5

Berichte über PatientInnen, die fordern, lebensnotwendige Therapien und Pflege zu stoppen, häufen sich. Der Alltag in Kliniken und Heimen wie auch die sozialpolitischen Rahmenbedingungen werden dabei meist ausgeblendet. Oliver Tolmein, Rechtsanwalt und Buchautor, schildert eine Geschichte, die für JournalistInnen offenbar nicht attraktiv ist: Erfahrungen, Bedürfnisse und der Kampf eines Menschen, der ein selbstbestimmtes Leben am Lebensende führen will.

Der Fall hat es leider nicht in die Medien geschafft – sondern nur in mein Buch. Es geht um einen meiner Mandanten, der an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt ist. In den EU-Staaten ist diese Erkrankung durch das Schicksal der Britin Diane Pretty bekannt geworden. Sie ist bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gezogen, um dort dafür zu streiten, dass ihr Mann ihr Beihilfe zum Suizid leistet. In England sind die juristischen Verhältnisse anders als in Deutschland, wo – anders als in Großbritannien – Beihilfe zum Suizid nicht verboten ist. An Diane Prettys Schicksal, an ihrer Angst vor dem Tod, den sie sich als qualvollen Erstickungstod vorgestellt hatte, und an ihrer Situation haben sehr viele Menschen Anteil genommen. Die Reaktion in den Medien war überwiegend positiv; die JournalistInnen konnten gut verstehen, dass Frau Pretty mit dieser überaus schweren Krankheit nicht weiter leben wollte. Sie sahen es als Akt der Humanität, ihr dieses Recht auf Beihilfe zum Suizid zu gewähren.

Mein Mandant hat es, wie gesagt, nicht in die Medien geschafft – obwohl ich mich sehr darum bemüht habe. Ich habe das nicht etwa versucht, weil ich denke, dass es attraktiv und unterhaltsam wäre, solche Geschichten medial zu verbreiten, sondern weil ich gehofft habe, dass wenigstens das, also eine gewisse, empathische Öffentlichkeit, eine Chance sein könnte zu erreichen, was für den Mandanten so wichtig ist: ein selbstbestimmtes Leben am Lebensende.

Die Geschichte ist kurz erzählt: Als mein Mandant mit seiner Diagnose ALS überlegte, wie es weitergehen kann, hat er den Fehler begangen, sich von seiner Krankenkasse beraten zu lassen. Die Krankenkasse hat ihm nach Diagnose der Erkrankung vor allem klar gemacht, wie schwerwiegend ALS ist und dass er mit so einer schweren Erkrankung auf keinen Fall zu Hause gepflegt werden könne, sondern statt dessen sich dringend ein Heim suchen müsse.

Auf seine Bedürfnisse nimmt im Heim kaum jemand Rücksicht – wie auch, angesichts der personellen Besetzung.

Mein Mandant ist kein widerspenstiger, sondern ein freundlicher, gutwilliger Mensch. Er hat geglaubt, was die Kasse ihm gesagt hat und ist in ein Heim gezogen. Je schwerer die Krankheit wurde, desto mehr musste er allerdings feststellen, dass das kein guter Rat war, den er von der Kasse bekommen hatte. Denn auf seine Bedürfnisse nimmt im Heim kaum jemand Rücksicht – wie auch, angesichts der personellen Besetzung. Er hatte mehrere Erstickungsanfälle. Auf seiner Etage sind ein bis zwei Pflegekräfte für rund zehn Pflegebedürftige zuständig. Die können nicht plötzlich einen Pflegevorgang abbrechen, um dann zu ihm zu eilen und dafür zu sorgen, dass sein Beatmungsgerät richtig funktioniert.

Es ist auch sehr schwierig, mit meinem Mandanten zu kommunizieren, weil er nicht reden kann, denn er wird künstlich beatmet. Schreiben kann er auch nicht mehr. Er kann sich nur noch mit Augenblinkern verständigen. Das geht eigentlich sehr gut, aber es dauert seine Zeit – Zeit, die auf so einer Pflegestation fehlt. Deswegen gibt es mittlerweile dort ein Set von sechs Tafeln auf denen jeweils ein bis zwei Worte stehen. »Fernsehen aus!«, »Umbetten«, »Schlafen«. Das und noch ein bisschen mehr reicht nach Auffassung des Pflegedienstes für die Bewältigung seines Alltags aus. Er hat also sechs Äußerungen zur Verfügung – und damit soll es gut sein. Halt, dreimal die Woche für jeweils dreißig Minuten setzt sich eine Pflegekraft an sein Bett und hat Zeit für ihn. Für Extras. Für Kommunikation. Für Vorlesen. Der Sozialhilfeträger bezahlt das als »Eingliederungshilfe«. Der Mandant möchte aber trotzdem nach Hause.

Das ist nachvollziehbar, aber durch das Sozialgesetzbuch XII mit gewissen Schwierigkeiten behaftet. Denn weil der Mandant nunmehr seit über zwei Jahren im Heim lebt und freiwillig dorthin gekommen ist, ist ihm die Pflege dort – so die Auffassung der Verwaltung – zuzumuten. Und eine ambulante Pflege käme zudem erheblich teurer – sie wäre allerdings, was in diesem Zusammenhang den Sozialleistungsträger nicht interessiert, auch besser, denn bei ambulanter Versorgung wäre jemand rund um die Uhr für ihn da und nicht nur dreimal 30 Minuten in der Woche. Es gibt Menschen in seiner Lage mit ALS, die ambulant gepflegt und nicht ins Heim gezwungen werden, weil bei ihnen die zwangsweise Verbringung ins Heim nicht als zumutbar angesehen wird. Wenn aber jemand schon im Heim lebt, hat er es viel schwerer, wieder raus zu kommen.

Das Heim hat er schließlich freiwillig gewechselt, weil es im neuen Heim eben dreimal 30 Minuten psychosoziale Betreuung gibt, im alten Heim war es nur einmal 30 Minuten.

Das Sozialgericht in Hamburg hat im Eilverfahren gesagt, die Kosten sind zu hoch, es ist zumutbar, dort zu sein, denn er ist freiwillig ins Heim gegangen. Außerdem habe er jetzt ja auch kein Zuhause mehr, in das er gehen könnte. Die Berufungsinstanz, das Landessozialgericht, hat das ähnlich gesehen und schließlich auch im Eilverfahren das Bundesverfassungsgericht, das die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen, aber gleichwohl auf die Finanzierungsnöte der Sozialleistungsträger verwiesen hat, was angesichts der erheblichen Mehrkosten ein Abwägungsgrund sei.

Das heißt: Mein Mandant lebt heute noch im Heim – allerdings in einem anderen. Das erste Heim hat ihm nämlich, wegen des Verfahrens, gekündigt. Wir haben zwar der Kündigung widersprochen. Daraufhin hat der Landesbetrieb Pflege in Hamburg, der Träger der Einrichtung, einen anderen Weg eingeschlagen. Mein Mandant hat eine Bevollmächtigte, seine Tochter. Der Landesbetrieb Pflege wollte statt dessen einen Berufsbetreuer einsetzen, der den Heimvertrag kündigen und eine Verlegung in eine andere Institution ermöglichen sollte. Auch das gelang nicht. Im letzten halben Jahr ist dieser Mensch, der durchaus andere Probleme hat, so damit beschäftigt, Übergriffe von Betreuungsgerichten, des Landesbetriebes Pflege und anderer Institutionen abzuwehren. Das Heim hat er schließlich freiwillig gewechselt, weil es im neuen Heim eben dreimal 30 Minuten psychosoziale Betreuung gibt, im alten Heim war es nur einmal 30 Minuten. Menschen können genügsam werden. Das Verfahren wird nunmehr – wieder vor dem Sozialgericht Hamburg – weiter geführt. Ob der Mandant den Ausgang erlebt, erscheint ungewiss…

Hätte ich einen Mandanten, der schnell sterben möchte, würden viele Medien sofort rührselig reportieren: Er kämpft gegen das Heim, um sich nicht mehr künstlich ernähren lassen zu müssen…

Was man aus diesem Fall für die Sterbehilfe-Debatte lernen kann: Dieser Fall ist nicht attraktiv für die Medien und für die Öffentlichkeit. Eine Journalisten-Kollegin fragte: Ja, warum will der denn nicht sterben? Das wäre eine so elende Situation, das könnte sie nicht nachvollziehen. Die Kollegen von einer Tageszeitung meinten: Das ist sehr kompliziert, und wenn die Gerichte doch auch gesagt haben, dass ambulante Pflege zu teuer sei, können wir das unseren LeserInnen nicht plausibel machen, dass es anders ist. Die Redaktion eines öffentlich-rechtlichen, investigativen TV-Politmagazins hat festgestellt: Wir kriegen ja keine Drehgenehmigung im Heim. Es sei zudem auch ein sehr atypischer Fall, der wahrscheinlich keine allgemeine gesellschaftliche Relevanz habe.

Die Geschichte dieses Menschen, der auch am Ende noch menschenwürdig und selbstbestimmt leben will, ist mehr oder weniger ungeschrieben. Sie wird die öffentliche Sterbehilfe-Debatte nicht beeinflussen, denn der betroffene Mensch will nicht, was alle Welt von ihm erwartet: schnell sterben. Hätte ich einen Mandanten, der schnell sterben möchte, würden viele Medien sofort rührselig reportieren: Er kämpft gegen das Heim, um sich nicht mehr künstlich ernähren lassen zu müssen…

In der Sterbehilfe-Debatte werden Lebenssituationen nicht mehr in einem sozialen Zusammenhang begriffen.

Die Sterbehilfe-Debatte ist verbunden mit vielen ausgeprägten Vorwahrnehmungen von dem was ist, was erträglich ist, was sein soll und was nicht sein kann. Die Freiheit und Autonomie, die hier gefordert wird, ist immer eine Freiheit und Autonomie des Verzichts, nie eine von Anspruchsleistungen. So wie die Debatte augenblicklich geführt wird, werden Lebenssituationen nicht mehr in einem sozialen Zusammenhang begriffen. Sie werden nicht eingeordnet in die Kontexte der gesundheitspolitischen und gesundheitsökonomischen Debatte, in die pflegepolitische Diskussion, in den Kontext einer Debatte über Antidiskriminierungs- und Gleichbehandlungsgesetze. Menschen, die schwerste chronische – irgendwann zum Tode führende – Krankheiten haben, werden nicht als benachteiligte Menschen begriffen, sondern als TodeskandidatInnen. Das ist das einzige, was sie auszeichnet. Diese Dekontextualisierung, dieses Herausreißen des Sterbens aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen, führt dann zur einzigen Frage: Wie kann man diese Menschen möglichst schnell und schmerzlos und ohne dass sie – aber auch die Gesellschaft – »leiden« müssen, in ihren Tod begleiten?

© Oliver Tolmein, 2007
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