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65.245 Fragebögen

Die Einstellung von Ärzten und Pflegepersonen zur aktiven Sterbehilfe bei Menschen im Wachkoma heißt der Titel der Doktorarbeit von Grit Böttger-Kessler, die sie im Herbst 2004 an der Universität Witten/Herdecke vorgelegt hat. Betreut wurde die Dissertation vom Medizinprofessor Karl-H. Beine.

Für ihr Forschungsprojekt hatte Böttger-Kessler im Oktober 2002 insgesamt 65.245 Fragebögen an 2.203 Krankenhäuser und Heime geschickt. Adressaten waren sämtliche Kliniken und Reha-Abteilungen, die mehr als 15 intensivmedizinische Betten vorhielten oder über eine Abteilung für Unfallchirurgie, Neurologie, Neurochirurgie oder Neuropädiatrie verfügten. Angeschrieben wurde auch alle deutschen Reha-Einrichtungen für WachkomapatientInnen.

Fast 9.000 ausgefüllte Fragebögen konnte Böttger-Kessler auswerten, geantwortet hatten 5.785 Krankenschwestern- und pfleger, 2.652 ÄrztInnen und 397 AltenpflegerInnen.




Im BIOSKOP-Interview: GRIT BÖTTGER-KESSLER, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin

Unter Umständen zum Töten bereit

  • Was Pflegekräfte und MedizinerInnen von Euthanasie bei Menschen im Wachkoma halten

aus: BIOSKOP Nr. 32, Dezember 2005, Seiten 12+13

Wie denken MedizinerInnen und Pflegekräfte über »aktive Sterbehilfe« bei Menschen im Wachkoma? Aufschluss gibt eine große Befragung in über 2.200 Kliniken und Heimen. Initiiert und ausgewertet hat sie Grit Böttger-Kessler, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, im Rahmen ihrer Doktorarbeit. Zu ihren Ergebnissen hat sie Erika Feyerabend befragt.

BIOSKOP: Gibt es eindeutige Indikatoren, die positive Einstellungen zur Euthanasie bedingen?

GRIT BÖTTGER-KESSLER: Ja. Von den statistisch erfassten acht Einflussfaktoren wurden vier besonders prägende herausgefiltert: Berufsgruppenzugehörigkeit, Lebensalter, Religiosität, Beurteilung der medizinischen Leistung am eigenen Arbeitsplatz. Das Pflegepersonal spricht sich deutlicher für aktive Tötung aus, bei WachkomapatientInnen waren es 70,38%. Die ärztliche Berufsgruppe stimmte zu 51,35% zu. Je jünger die Befragten sind, desto eher befürworten sie die Sterbehilfe. Religiosität war in den neuen Bundesländern über lange Zeit nicht so prägend. Dort sind die Jüngeren zu einer überwältigenden Anzahl für legalisierte Sterbehilfe, egal ob sie in der Pflege oder als Ärzte arbeiten. Auch Hilflosigkeit spielt eine Rolle, wenn sich trotz medizinischer Versorgung der Zustand des Patienten nicht bessert.

BIOSKOP: Aber es gibt anscheinend nicht den einen Faktor, der zur Akzeptanz von Tötungen führt?

GRIT BÖTTGER-KESSLER: Neben den bereits genannten Indikatoren gibt es weitere, etwa Einschätzungen wie »freiwillige Entscheidung«, zum Beispiel bei Vorliegen eines Patiententestamentes oder »kumulierendes Leid«, wenn also zum Wachkoma weitere Komplikationen hinzu kommen. Erst dann entstehen Einstellungen wie: Das hier ist »unerträgliches Leid«, und Sterbehilfe wird befürwortet. Das scheint ganz häufig der Entscheidungsweg gewesen zu sein bei den Befragten.

BIOSKOP: Ist dieses Krankheitsbild für die Pflegenden besonders belastend?

GRIT BÖTTGER-KESSLER: Beim Wachkomapatienten ist es schwieriger, etwas Deutliches zurück zu bekommen, sich zu identifizieren mit dem, was man den ganzen Tag arbeitet, als bei anderen Patienten, mit denen man direkt kommunizieren kann. Krankenschwestern sind täglich und viel näher am Patienten. Wenn sie das als Leid empfinden, gibt es wenige Distanzierungsmöglichkeiten. Sie sehen, ob jemand Fortschritte macht, ob die Wunden heilen, und stöhnen tun Wachkomapatienten auch. Als Arzt sehe ich das seltener, kann mich auf meine Analysen und Daten, wie auch in mein Arztzimmer zurückziehen. Ich glaube, das ist ein gewichtiger Grund, warum Pflegende dieses «kumulierende Leid« deutlicher fühlen.

»Mit zunehmender Unzufriedenheit im Beruf wächst die Bereitschaft, sich für eine gesetzliche Zulassung der aktiven Sterbehilfe auszusprechen.«

BIOSKOP: Ihr Erhebungsbogen fragte, ob und unter welchen Umständen Euthanasie gerechtfertigt sei und entwarf dafür konkrete Situationen. Welche Antworten haben Sie bekommen?

GRIT BÖTTGER-KESSLER: Böttger-Kessler: Ganz deutlich ist der Einfluss von Patientenverfügungen. Liegt eine solche Erklärung vor, befürworten zwischen 68 % und 78% die Tötung. Spielt Geld eine Rolle – wie bei dem konstruierten Beispiel des 15-jährigen Mädchens, dessen Eltern sich die aufwändige Pflege nicht mehr leisten können – sinkt die Bereitschaft zur Sterbehilfe rapide ab, auf 9%. Das Alter des Patienten ist nicht entscheidend, eher, ob jemand neben der Grunderkrankung noch weitere Beschwerden hat.

BIOSKOP: Wie relevant ist die Zufriedenheit der MitarbeiterInnen?

GRIT BÖTTGER-KESSLER: Mit zunehmender Unzufriedenheit im Beruf wächst die Bereitschaft, sich für eine gesetzliche Zulassung der aktiven Sterbehilfe auszusprechen. Jene, die sich als zufrieden einschätzen, wollen zu 42% aktive Sterbehilfe legalisieren, bei den Unzufriedenen sind es knapp 60%, bei den sehr Unzufriedenen 66%. Das gilt für die Sterbehilfe allgemein, im Falle des Wachkomas ist sie noch größer. Ich muss das Leid wegdrücken, ich habe keine Zeit, es klingelt, da habe ich noch drei Kranke auf dem Topf. Dass diese tägliche Situation ins »tödliche Mitleid« führt, kann ich mir vorstellen.

BIOSKOP: Auffällig ist, dass MitarbeiterInnen in Palliativstationen und Spezialeinrichtungen Sterbehilfe weit weniger akzeptieren.

GRIT BÖTTGER-KESSLER: Dort ist das Wissen über Therapien und das Wachkoma größer, und das gilt auch für die Identifikation mit der Arbeit. Ein Ergebnis meiner Studie ist, dass dieses Wissen in den meisten Heimen und Kliniken fehlt. Und: Mit der Erfahrung, dass ein Mensch auch in seinen letzten Tagen noch eine Beziehung zu Pflegekräften aufnehmen und diese als tragend und vertrauensvoll erfahren kann, entsteht eine praktische Alternative zur aktiven Sterbehilfe.

»Bei der Erstversorgung von WachkomapatientInnen gibt es in normalen Krankenhäusern weiterhin große Wissensdefizite.«

BIOSKOP: Wie gut ist die Erstversorgung der WachkomapatientInnen?

GRIT BÖTTGER-KESSLER: Die Acht-Wochen-Frist, binnen derer Krankenkassen über Rehabilitation oder Unterbringung in Pflegeheim oder Familie entscheiden, wird heute eher unterschritten. Die Kassen wollen generell nach drei Wochen wissen, wie es weiter geht. Das ist der Ist-Zustand. Gut versorgt wird in Spezialeinrichtungen. Auch die Rehabilitation in Wohngruppen ist ein großer Fortschritt. Doch bei der Erstversorgung, in den ganz normalen Krankenhäusern, gibt es weiterhin große Wissens- und Versorgungsdefizite.

BIOSKOP: Euthanasie ist zum öffentlichen Diskussionsthema geworden. Welchen Einfluss hat dies auf die Einstellungen der Pflegenden?

Grit Böttger-Kessler: Das habe ich nicht untersucht. Wer sich im Krankenhaus aufhält und mit den Menschen redet, weiß aber: Das, was ich höre, verändert mich und verändert auch die Patienten. Die Diskussion um Patientenverfügungen blendet aus, dass auch ein schwer Kranker zwei Tage vor seinem Tod eine Qualität in seinem Leben sehen kann, die er zwei Jahre vorher, als er noch gesund war, so nie geahnt hätte. Das Gerede von Rentnerschwemme, Soziallasten und Kosten setzt alle unter Druck, die alt, krank und gebrechlich sind. Sollte Sterbehilfe legal werden, wird man sich rechtfertigen müssen – auch gegenüber der Allgemeinheit, da Pflege nun mal teuer ist.

BIOSKOP: Die Frage ist ja auch: Wer leidet? Der Komapatient oder der Zuschauende?

GRIT BÖTTGER-KESSLER: Auch die Angehörigen müssen sich um ihr Gleichgewicht kümmern. Sie werden allerdings nicht sagen, dass sie das Leid nicht mehr ertragen können; dass sie nicht jeden Tag zu Besuch kommen wollen. Ich habe hier in der Klinik eine Frau gehabt, die sagte ihrem komatösen Ehemann: »Du musst jetzt gehen.« Sie war verzweifelt und überfordert in dieser Situation, und dann griff eben auch bei ihr das »tödliche Mitleid.« Die Existenzform des Wachkomas, die schlecht einzuordnen ist und über die es noch zu wenig breites Wissen gibt, gerade diese Existenzform macht den Zuschauenden auch Angst, gemahnt sie doch auch an die eigene Vergänglichkeit.

© Erika Feyerabend / Grit Böttger-Kessler, 2005
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