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»Gesunde Kranke«

»Die Pharmakogenetik und -genomik zielt unter dem medienwirksamen Leitbild der ‘individualisierten Medizin’ auf die Ermittlung einer optimal auf den einzelnen Patienten abgestimmten Medikamentenwirksamkeit. Neben dem unmittelbar einleuchtenden Nutzen für den Patienten werden hier Kostenersparnisse für das Gesundheitswesen in Aussicht gestellt.

In den Entwicklungsstrategien der pharmazeutischen Unternehmen wird unter dem Leitbild der Individualisierung der Medizin aber nicht nur die Optimierung der Behandlung Kranker verfolgt. Sondern Ziel ist die präventive Anwendung von Medikamenten bei Menschen mit entsprechender genetischer Struktur, die keine Krankheitssymptome haben.

Damit ist die Pharmakogenetik Türöffner für die Erschließung des neuen Marktes der so genannten ‘gesunden Kranken’, ohne deren Einbeziehung sich die hohen Kosten für die Entwicklung von individuellen Medikamenten für kleine Gruppen nicht lohnen würde.«

aus einem Vortrag der Rechtsanwältin Ulrike Riedel zum »Einfluss der Genomforschung auf die Medizin«, den die Frankfurter Rundschau am 6.10.2001 unter der Überschrift »Die Erfindung der gesunden Kranken« nachdruckte. Riedel ist Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestages zu Recht und Ethik der modernen Medizin.



KLAUS-PETER GÖRLITZER, Journalist und redaktionell verantwortlich für BIOSKOP

»Maßgeschneiderte Medikamente«

  • Eine »Vision« der Pharmaindustrie und die möglichen Risiken und Nebenwirkungen ihrer Realisierung

aus: BIOSKOP Nr. 17, März 2002, Seiten 8+9

Die Pharmaindustrie träumt von der Produktion »maßgeschneiderter Medikamente«, die zum Genprofil ihrer KonsumentInnen passen sollen. Wird diese Vision irgendwann Realität, drohen erhebliche Nebenwirkungen: Gentests und die Offenbarung ihrer Ergebnisse könnten zur alltäglichen Routine werden, »gesunde Kranke« könnten zur medikamentösen Vorsorge verpflichtet werden.

Der Skandal um den Cholesterinsenker Lipobay hat das Image der Pharmabranche nicht gerade gefördert. Weil das Medikament im Verdacht steht, schwerwiegende Nebenwirkungen bis hin zu Todesfällen verursacht zu haben, lieferte es im Sommer 2001 wochenlang Stoff für negative Schlagzeilen. Vom großen öffentlichen Interesse offensichtlich beeindruckt, holte die Herstellerfirma schließlich zum Befreiungsschlag aus: Die Bayer AG zog am 8. August Lipobay aus dem Markt zurück _(Siehe BIOSKOP Nr. 15.

Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA), dem auch Bayer angehört, ging zwei Wochen später in die PR-Offensive und lud zur Pressekonferenz, Motto: »Unsere Arzneimittel sind sicher – der Verunsicherung der Patienten entgegentreten«. Dabei rechnete VFA-Hauptgeschäftsführerin Cornelia Yzer vor, dass dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte allein im Jahr 2000 rund 150.000 Meldungen über Nebenwirkungen mitgeteilt worden seien, und zwar meist durch die Hersteller selbst. Mit einem »kurzen Blick in die Zukunft« skizzierte Yzer dann, wie die Pharmaindustrie perspektivisch gedenkt, unerwünschte Medikamenten- Effekte in den Griff zu bekommen: »Unsere Vision ist die maßgeschneiderte Medizin.«

  • Chipkarten mit Gen-Daten

Die »Vision« basiert auf der so genannten »Pharmakogenetik«. Dieses noch recht junge Forschungsgebiet geht von der Annahme aus, dass der Stoffwechsel sowie Wirkung und Verträglichkeit von Arzneimitteln maßgeblich abhängen von der genetischen Ausstattung der KonsumentInnen. Vor diesem Hintergrund ist es erklärte Strategie der VFA-Firmen, in Zukunft »das richtige Arzneimittel für den richtigen Patienten« zu entwickeln; neue Wirkstoffe sollen jeweils bestimmten Gruppen mit einem bestimmten genetischen Profil vorbehalten werden. Das Konzept vom »maßgeschneiderten Medikament« setzt außerdem voraus, dass der verschreibende Arzt sich eingehend über das Genprofil der potenziellen KonsumentInnen informiert. Zu diesem Zweck sollten PatientInnen vor Beginn einer medikamentösen Therapie pharmakogenetisch getestet werden. Der Check soll Aufschluss darüber geben, ob die ausgewählte Arznei überhaupt für sie geeignet ist. Angaben zu persönlichen Gen-Varianten, die womöglich Nebenwirkungen auslösen, sollten möglichst auf Chipkarten gespeichert und beim Arztbesuch stets mitgebracht werden.

Eine technische Voraussetzung für solche Ideen könnte der elektronische »Arzneimittelpass« schaffen, den Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) nach dem Lipobay-Skandal angekündigt hat. Allerdings ist die Einführung der Chipkarte für alle Krankenversicherten zur Zeit ebenso ungewiss wie ihr Inhalt. Ob darauf auch genetische Daten gespeichert werden sollen, sei »noch nicht geklärt«, antwortete Schmidts Ministerium im Dezember auf eine »Kleine Anfrage« der CDU/CSU-Fraktion zur »Verbesserung der Arzneimittelsicherheit«.

  • Blut- und Gewebeproben gefragt

Mehr als eine »Vision« sind auch »maßgeschneiderte Medikamente« bislang noch nicht. Tatsache ist aber, dass die forschenden Arzneimittelhersteller erhebliche Mittel in die Pharmakogenetik investieren. Eifrig sammeln sie, vornehmlich im Rahmen klinischer Studien, Blut und Gewebeproben von ProbandInnen, um die gratis gewonnenen Substanzen nachträglich genetisch zu analysieren. So soll ermittelt werden, ob unterschiedliche Wirkungen, die während der Prüfung eines Arzneimittels beobachtet worden sind, mit bestimmten genetischen Merkmalen der Testpersonen zu tun haben könnten. Den Betroffenen selbst, das räumt der VFA ausdrücklich ein, nützt eine solche Bevorschung ihrer Körperstoffe nichts; die einschlägigen Vordrucke für Einwilligungserklärungen weisen auf die Fremdnützigkeit hin und stellen obendrein klar, dass die Forschungsergebnisse Eigentum der analysierenden Firma seien – sowohl in geistiger, als auch in kommerzieller Hinsicht.

Mit ihren eigennützigen Motiven hausieren die Pharmafirmen zwar nicht gerade, aber sie leugnen sie auch nicht. In Stellungnahmen der Unternehmen kann man nachlesen, dass es ihnen darum geht, Entwicklung und Prüfung von Arzneimitteln erheblich zu beschleunigen, preiswerter zu gestalten, Zulassungsrisiken zu minimieren und die Zahl vermarktbarer Präparate deutlich zu erhöhen. Wie Pharmakogenetik dabei helfen kann, erläutert anschaulich eine Studie, welche die deutsche Niederlassung der Unternehmensberatung »Boston Consulting Group« im vergangenen Jahr vorgestellt hat: »Unternehmen müssen häufig die Entwicklung von Medikamenten einstellen, weil ein Wirkstoff zwar für das Gros einer Probandengruppe verträglich ist, bei einigen wenigen aber Nebenwirkungen auslöst, die u.U. durch einen genetischen Defekt bedingt sind.« Können solche ‘Negativgruppen’ vorab vom Test ausgeschlossen werden (und auch vom späteren Medikamentengebrauch), dann könnten mehr Arzneien zur Marktreife gebracht werden, die ansonsten an den Zulassungsvoraussetzungen für breite Probandengruppen scheitern würden.«

  • Neue Chance für »Versager«

Diese Strategie soll aber nicht nur für neue Wirkstoffe gelten, sondern auch für solche, die bei früheren Prüfungen durchgefallen sind. Das Potenzial ist groß: Vier von fünf Neuentwicklungen überstehen derzeit die klinische Erprobungsphase nicht, weil sie sich – zumindest für einen Teil der Versuchspersonen – als zu gefährlich erwiesen haben. Die »Versager«-Medikamente könnten künftig teilweise »rehabilitiert«, also doch noch zugelassen werden – und zwar für solche PatientInnen, deren definiertes Gen-Profil zum Arzneimittel »passt«. Die Verträglichkeit belegen könnte ein pharmakogenetischer Test, den Hersteller und Apotheke gleich mit verkaufen.

Dass es sich bei der Pharmakogenetik um »ein tragfähiges Konzept« handele, untermauert der VFA gern mit dem Beispiel Herceptin. Dieses Arzneimittel ist die erste auf Pharmakogenetik beruhende Innovation, die hierzulande eine Zulassung erhalten hat. Das Medikament mit dem Wirkstoff Trastuzumab darf seit dem Jahr 2000 zur Behandlung einer bestimmten Brustkrebsart eingesetzt werden; es wirkt laut VFA »nur bei einer Untergruppe von Patientinnen, die aufgrund ihrer genetischen Ausstattung ein bestimmtes Protein (den HER2-Rezeptor) im Tumorgewebe überexprimieren«. Diejenigen Frauen, die für die Behandlung mit Herceptin geeignet sein sollen, werden durch einen ebenfalls zugelassenen pharmakogenetischen Test ermittelt; seit Oktober 2001 erstatten die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten des Herceptins.

  • Einzelfall Herceptin

Noch ist das Beispiel Herceptin ein Einzelfall. Sollte sich das Konzept von den »maßgeschneiderten Medikamenten« aber tatsächlich in der Praxis durchsetzen, ist mit erheblichen Nebenwirkungen zu rechnen. Die Juristin Ulrike Riedel, sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestages zur Medizinethik, warnt:

»Zu befürchten ist ein Versorgungsgefälle zwischen pharmakogenetisch günstig ausgestatteten Menschen einerseits und den genetischen Therapieversagern andererseits, für die sich die Entwicklung von entsprechend angepassten Medikamenten nicht lohnt.« Lukrativ sind große pontenzielle KonsumentInnengruppen, das gilt auch für »individualisierte« Arzneien, die ja eigentlich für kleine Gruppen gedacht sein sollen. Vor diesem Hintergrund dürften die Hersteller sehr daran interessiert sein, ihre neuen Präparate zwecks vorbeugender Einnahme zu empfehlen und zu vermarkten. »Ziel«, sagt Riedel, »ist die präventive Anwendung von Medikamenten bei Menschen mit entsprechender genetischer Struktur, die keine Krankheitssymptome haben.« (Siehe Randspalte »Gesunde Kranke«)

  • Pflicht zur individuellen Vorsorge?

Spürbar ist der Druck auf Menschen mit »genetischer Belastung« bereits heute, weshalb ein Gentestgesetz sie nun vor Diskriminierung in Versicherungs- und Arbeitsverhältnissen schützen soll. Druck könnte irgendwann auch die Verfügbarkeit genetisch klassifizierter Arzneimittel ausüben: Sind solche Präparate erst einmal auf dem Markt, kann die »maßgeschneiderte« medikamentöse »Vorsorge« für »gesunde Kranke« unversehens zur Pflicht erklärt werden, weil dies im finanziellen Interesse der Solidargemeinschaft angeblich dringend geboten sei.

© Klaus-Peter Görlitzer, 2003
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