Praktischer Ratgeber
Wie sieht eine Pflege aus, die nicht nur Gesundheit oder das Wiederherstellen von Funktionen zum Ziel hat, sondern die Lebensgestaltung von LangzeitpatientInnen? Praxisorientierte Antworten geben die ProfessorInnen Christel Bienstein (Pflegewissenschaft) und Hans-Joachim Hannich (Medizinische Psychologie). Der Abschlussbericht ihres Forschungsprojekts Förderungs- und Lebensgestaltungskonzepte für Wachkoma- und Langzeitpatienten versteht sich auch als Ratgeber für Betroffene, Angehörige und beruflich Pflegende.
Die Studie, rund 400 Seiten dick und herausgegeben im Auftrag des Sozialministeriums in Nordrhein-Westfalen, erschien bereits 2001. Das Werk kostet 25 Euro; bestellen kann man es direkt beim Verlag Ingrid Zimmermann (Telefon 02369-23366) in Dorsten.
Wachkoma: Pflegerische Defizite
Im BIOSKOP-Interview: CHRISTEL BIENSTEIN, Leiterin des Instituts für Pflegewissenschaften an der Universität Witten/Herdecke
Pflegerische und finanzielle Defizite
- Wie die Versorgung von Menschen im Wachkoma aussieht – und wie sie verbessert werden könnte
aus: BIOSKOP Nr. 36, Dezember 2006, Seiten 4+5
In Deutschland fallen jedes Jahr zwischen 3.000 und 4.000 Menschen ins Wachkoma. Ihr Schicksal war viele Jahre kein öffentliches Thema. Inzwischen wird über diese PatientInnengruppe gesprochen – allerdings vornehmlich, wenn es darum geht, »Hilfe« zum Sterben zu bewerben und einzufordern. Selten wird diskutiert und berichtet, wie die Versorgung der Betroffenen und die Lage ihrer Angehörigen aussieht und verbessert werden könnte. Intensiv dazu geforscht hat Christel Bienstein, Leiterin des Instituts für Pflegewissenschaften an der Universität Witten/Herdecke. BioSkoplerin Erika Feyerabend hat die Professorin gefragt, was im Argen liegt – und was dagegen zu tun ist.
BIOSKOP: Wachkoma ist ja meist Folge eines Unfalls. Wie werden Betroffene versorgt?
CHRISTEL BIENSTEIN: Beim Unfall am Arbeitsplatz tritt die Berufsgenossenschaft ein. In einigen Bundesländern ist das sehr gut geregelt. Ein so genannter Case-Manager ist schon in der Unfallklinik. Er kümmert sich um die Anschlussheilbehandlung, um die richtigen Einrichtungen, Hilfsmittel, Physiotherapien, und er unterstützt die Familien langfristig. Bei Fremdverschulden muss die Versicherung des Unfallverursachers zahlen. Anders beim Badeunfall in der Freizeit: Zuständig sind hier die gesetzliche Krankenversicherung und die Pflegeversicherung. Da läuft das ganz normale Programm ab, mit Begutachtung des Medizinischen Dienstes, Einschätzen der Pflegestufe. Die Familie des Wachkomapatienten muss sich komplett selber kundig machen. Da begleitet sie niemand. Es stehen ihnen nur eingeschränktere Finanzmittel zur Verfügung, beispielsweise 2.200 Euro für »anpassende Maßnahmen«, also für Hilfsmittel.
BIOSKOP: Wie sieht die anschließende Rehabilitation aus?
CHRISTEL BIENSTEIN: Das Koma wird in verschiedene Phasen eingeteilt. Wird Phase F 2 angenommen, dann stehen therapeutische Bemühungen schnell in Frage. Bei Phase F 1 wird noch mehr für die PatientInnen gemacht. Aber Angehörige berichten zunehmend, dass sie Schwierigkeiten haben – weil der Hausarzt Sorge hat, dass er zu viele Therapien verschreibt. Dann gibt es nur ein – oder zweimal Physiotherapie pro Woche. Ob jemand eine Reha bekommt, hängt in der Praxis von den MedizinerInnen ab. Früher wurden locker sechs Monate bewilligt, das ist heute wesentlich kürzer. Die Einrichtungen müssen Folgeanträge stellen und begründen. Bestimmte Therapien werden gar nicht bezahlt, obwohl sie gerade für diese Zielgruppe einen hohen therapeutischen Wert haben, beispielsweise Musiktherapie.
»Es fällt so viel an: Man braucht Spezialkissen, mehr Bettwäsche, andere Schuhe, besondere Hilfsmittel für den Rollstuhl. Die Auffahrt zum Haus muss gepflastert werden, eine Rampe muss her. Das summiert sich.«
BIOSKOP: Müssen dann die Angehörigen bezahlen, was die Versicherungen ablehnen?
CHRISTEL BIENSTEIN: Gerade junge Familien setzen ihr ganzes Hab und Gut ein. Die haben Hoffnung und sind richtig getrieben. So beschreiben sie das auch. Sie sagen, sie trauen sich nicht, irgend etwas außer acht zu lassen, weil sie immer denken: Du hast dem Angehörigen vielleicht diese entscheidende Chance nicht gegeben. Es fällt so viel an: Man braucht Spezialkissen, mehr Bettwäsche, andere Schuhe, besondere Hilfsmittel für den Rollstuhl. Die Auffahrt zum Haus muss gepflastert werden, eine Rampe muss her. Das summiert sich. Viele stellen Anträge. Die Verhandlungen über Erstattung der Kosten dauern lange, bis dahin haben die Angehörigen das selbst bezahlt.
BIOSKOP: Um welche Beträge geht es konkret?
CHRISTEL BIENSTEIN: Ich schreibe gerade ein Gutachten für eine Familie. Das Verfahren der Versicherung des Unfallverursachers läuft seit 1993. Es liegt Fremdverschulden vor, aber über die Höhe der Leistungen wird immer noch mit der Versicherung verhandelt. Der Vater hat sich völlig verschuldet. Die wachkomatöse Tochter wird zu Hause versorgt. Die Eltern sind alt. Sie bekommen 1.900 Euro für die normale Pflegestufe III mit Härtefallregelung, sie zahlen aber jeden Monat 7.000 Euro drauf. Davon ist aber noch keine Physiotherapie bezahlt. Die Pflege von Menschen im Wachkoma ist so umfänglich, die kann nicht mit dreimal täglichen Pflegediensten sichergestellt werden. Auch spezialisierte Heime sind nicht billig. Ihre Tagessätze liegen zwischen 190 und 230 Euro pro Tag. Hochgerechnet sind das jeden Monat 7.000 Euro. Wer zahlt die fehlenden 5.000 Euro? Da sagen viele Familien: Das können wir nicht und pflegen zu Hause.
»Wir waren zutiefst entsetzt, wie viele Familien, die ohne Sozialhilfe ausgekommen waren, nach Auftreten des Wachkomas darauf angewiesen sind.«
BIOSKOP: Gibt es Untersuchungen über die soziale und finanzielle Lage der Angehörigen?
CHRISTEL BIENSTEIN: Wir haben eine Studie mit 29 WachkomapatientInnen und ihren Familien gemacht. Wir waren zutiefst entsetzt, wie viele Familien, die ohne Sozialhilfe ausgekommen waren, nach Auftreten der Erkrankung auf eben diese Unterstützung angewiesen sind – für die Versorgung ihrer Kinder beispielsweise. Wir haben auch Familien gehabt, die ihre Wohnung verlassen mussten. Wir haben Eltern, wo das Haus vorher auf das verunglückte Kind überschrieben war. Die Sozialämter haben das Recht, bis zehn Jahre nach der Übertragung des Hauses eine Rückübertragung einzufordern, bevor sie die Differenz zwischen Pflegegeld und tatsächlichen Versorgungskosten übernehmen. Die meisten, mit denen wir gesprochen haben, pflegen zu Hause. Nach einiger Zeit stellen sie fest: Wir schaffen das nicht alleine. Sie bestellen einen Pflegedienst, der aber nur teilweise von der Pflegeversicherung bezahlt wird. Was übrig bleibt, müssen sie selbst erbringen.
BIOSKOP:Es gibt sicher nicht »nur« finanzielle Probleme?
CHRISTEL BIENSTEIN: Am Anfang krempeln die Familien die Ärmel hoch und rücken in einer solchen Lage enger zusammen. Aber auf die Dauer geht das nicht. Zum Schluss bleibt meist eine Kerntruppe. Familien geraten an Grenzen. Oft leiden die Geschwister, werden psychisch krank, weil sich die Eltern auf das Kind im Wachkoma konzentrieren. Ehen zerbrechen, das passiert ganz häufig. Üblich ist, dass die Frau ihren Job aufgibt. Sie kann nur noch über das pflegebedürftige Kind reden. Wegfahren geht auch nicht mehr. Es gibt viele Vereinsamungsprozesse. Familien entscheiden sich in solchen Krisen manchmal für eine stationäre Betreuung – mit furchtbar schlechtem Gewissen. Sie sehen, dass die Versorgung nicht befriedigend ist. Es gibt Auseinandersetzungen. Sie haben das Gefühl, versagt zu haben. Es gibt auch Angehörige, die sich nicht zuständig fühlen. Man sieht das in Einrichtungen, dass die Besuche weniger werden oder es überhaupt keine Angehörigen mehr gibt. Das alles muss die Pflege kompensieren.
»Eigentlich geht es darum, dass alle dem Lebensrhythmus der Betroffenen mehr Aufmerksamkeit geben können.«
BIOSKOP: Was müsste sich denn ändern?
CHRISTEL BIENSTEIN: Wichtig ist ein Hilfemix, wo auch geschaut wird: Welche Unterstützung braucht die Person, die hauptsächlich pflegt? Wir haben dafür kaum Instrumente und stationär wie ambulant zu wenig qualifiziertes Personal. Es gibt viele, zunächst einfach klingende Überlegungen. Wie ist so etwas wie Regelmäßigkeit hinzubekommen? Zum Beispiel in der Strukturierung des Tages, so dass der Patient merkt: Jetzt ist es hell, das Frühstück kommt, oder jetzt ist Sonntag, oder jetzt ist Winter. Wie macht man Jahreszeiten erlebbar? Oder wie schaffe ich personelle Kontinuität im Betreuungsprozess. Das geht nicht mit wechselnden 400-Euro-Jobs. Aus diesen Überlegungen leiten sich Versorgungsprozesse ab, zum Beispiel Arbeitszeitmodelle.
BIOSKOP: Wie sollen die gestaltet sein?
CHRISTEL BIENSTEIN: Der heute übliche Schichtdienst ist nicht geeignet. Wir bräuchten vormittags mehr Leute, die helfen, dass die Menschen in die Rollstühle und an den Frühstückstisch kommen. Im Schichtdienst sind die Pflegenden zu dritt. Die schaffen es gerade, bis mittags alle PatientInnen zu waschen. Aber in der Regel sind sie noch nicht mobilisiert, sitzen weder im Rollstuhl noch am Frühstückstisch. Wir brauchen einen anderen Personalmix. Es ist gefährlich, nur Pflegende in der Wohngruppe oder der Bewohnerabteilung zu haben, da wird dann schnell ein Krankenhaus draus. Es braucht eine Hauswirtschafterin, HeilpädagogInnen und Physiotherapeuten. Denn die Menschen sind nicht nach Terminkalender fit. Eigentlich geht es darum, dass alle dem Lebensrhythmus der Betroffenen mehr Aufmerksamkeit geben können.
© Erika Feyerabend / Christel Bienstein, 2006
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