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»Ich muss ins Krankenhaus … und nun?«

hieß eine Kampagne, die 2006 vom Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen (ForseA) gestartet wurde. Anlass waren zahlreiche Erfahrungsberichte von Menschen mit Behinderungen. »Diese erzählten uns«, sagte die damalige ForseA-Vorsitzende Elke Bartz, »dass sie bei Krankenhausaufenthalten nicht die benötigten, behinderungsbedingten Pflege- und Assistenzleistungen erhielten.« Die Folgen seien »teilweise dramatisch« gewesen.

Im Rahmen der von der Aktion Mensch geförderten Kampagne machte ForseA eine Umfrage zur Pflegequalität in Krankenhäusern. Befragt wurden Menschen mit Behinderungen, Angehörige und professionelles Pflegepersonal. Ihre Antworten, ausgewertet vom Pflegewissenschaftlichen Institut der Universität Witten/Herdecke, offenbarten Unterversorgungen, Unverständnis, Diskriminierungen.
Der Jurist Oliver Tolmein steuerte ein Gutachten bei. Es erläutert, welche gesetzlichen Änderungen notwendig sind, um die Situation behinderter Menschen in Krankenhäusern zu verbessern.

Zur Kampagne gibt es eine 70-seitige Dokumentation. Sie soll dazu ermutigen, Missstände zu beseitigen und steht vollständig auf der ForseA-Homepage zum Gratis-Download bereit




ELKE BARTZ, langjährige Vorsitzende von ForseA, dem Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.. ELKE BARTZ ist im August 2008 verstorben.

Reform oder Reförmchen?

  • Was behinderte Menschen von der Pflegereform erwarten – und was von der Politik zu erwarten ist

aus: BIOSKOP Nr. 40, Dezember 2007, Seiten 8+9

Zwölf Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung (SGB XI) wird nun eine »große« Reform verheißen. Erklärtes Ziel: Die Leistungen für Pflegebedürftige sollen verbessert und die Versicherung »zukunftsfähig« ausgestaltet werden. Ein erster Referenten-Entwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG), gebilligt vom Regierungskabinett, soll Mitte Dezember im Bundestag beraten werden. Eine Analyse der geplanten Reform aus Perspektive behinderter Menschen.

Die Pflegeversicherung war einst für alte, pflegebedürftige Menschen konzipiert worden; die Belange behinderter Menschen und von Menschen mit demenziellen Erkrankungen berücksichtigt sie nur unzureichend. Das muss sich ändern, meint eine Arbeitsgruppe aus VertreterInnen der Behindertenhilfe und -selbsthilfeverbände, die sich erheblich schneller als Regierung und Parlament positioniert hat. Ihre »Empfehlungen für eine teilhabeorientierte Pflege« stehen bereits seit Dezember 2006 im Internet.

Das 20-seitige Positionspapier des Arbeitskreises, der auf Initiative der Bundesbehindertenbeauftragten Karin Evers-Meyer aktiv wurde, setzt den Menschen mit seinem gesamten Hilfebedarf in den Fokus. Praktisch bedeutet das: Zunächst soll der gesamte individuelle Hilfebedarf ermittelt werden – also nicht nur die Hilfen bei der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung, sondern auch gegebenenfalls die Arbeitsassistenz und die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (Eingliederungshilfe). Anschließend wird der Bedarf den einzelnen Leistungsbereichen wie dem SGB XI zugeteilt.

Pflege ist eine Grundvoraussetzung für Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, heißt es in den Empfehlungen. Weiter wird gefordert, die Leistungsgewährung am tatsächlichen Pflegebedarf der Leistungsberechtigten zu orientieren und nicht an deren Aufenthaltsort (ambulant, stationäre Pflegeeinrichtung, stationäre Einrichtung der Eingliederungshilfe).

  • »Ambulant vor stationär«

Stärker berücksichtigt werden müssen die Bedürfnisse von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, etwa Menschen mit Demenz oder so genannter geistiger Behinderung. Mit der Orientierung an der Person – und nicht wie bisher am Aufenthaltsort – würde der Grundsatz “ambulant vor stationär« automatisch gestärkt. So erhalten beispielsweise pflegebedürftige Menschen, die in die Pflegestufe I eingestuft und ambulant versorgt werden, Sachleistungen in Höhe von 384 Euro, bei einer stationären Versorgung jedoch 1.023 Euro.

Für behinderte Menschen, die ihre Assistenzpersonen im so genannten Arbeitgebermodell selbst beschäftigen, fordert die Arbeitsgruppe die Möglichkeit, Geldleistungen in Höhe der Sachleistungen zu beziehen. Die Geldleistungen sind »Anerkennungsleistungen« für ehrenamtlich Pflegende, während die wesentlich höheren Sachleistungen dazu dienen, Leistungen durch professionelle Anbieter wie ambulante Dienste oder stationäre Einrichtungen zu bezahlen.

Schließlich leben diese Menschen genau so, wie es ihnen Paragraph 2 SGB XI (»Selbstbestimmung”) ermöglichen soll (Siehe Randbemerkung). Und in puncto Qualitätssicherung setzt das Positionspapier die Zufriedenheit der Leistungsberechtigten, für die ja die Pflegeversicherung (angeblich) geschaffen wurde, an oberster Stelle – eigentlich eine Selbstverständlichkeit.

  • Merkwürdige »Qualitätssicherung«

Schaut man sich den Referenten-Entwurf der Bundesregierung vom 10. September 2007 an, findet man von den Empfehlungen der Behindertenverbände nichts wieder. In den Passagen zur Qualitätssicherung gelten »Expertenstandards« als Kriterien zur Ermittlung der Leistungsqualität. Der pflegebedürftige Mensch und seine individuellen Bedürfnisse kommen nirgendwo vor.

Behinderten ArbeitgeberInnen soll der Zugang zu Geldleistungen an Stelle und in Höhe der Sachleistungen weiterhin verwehrt bleiben. Dabei beschäftigen diese – wie professionelle Anbieter auch – ihre Pflegepersonen (Assistentinnen) in regulären Arbeitsverhältnissen. Sie werden also nicht von ehrenamtlichen Pflegepersonen gepflegt, für die die niedrigeren Geldleistungen gedacht sind. Die Ablehnung wird nicht offiziell begründet. Aber das BMG fürchtet wohl »drastische Mehrkosten« für die Pflegeversicherung und dass Geldleistungen quasi abgeschafft würden, sollte jeder Pflegebedürtfige seine Angehörigen beschäftigen. Dies ist nicht nachvollziehbar, denn den Kreis der Leistungsberechtigten zu begrenzen, könnte mit wenigen Worten geregelt werden, etwa durch ausdrückliche Beschränkung auf reguläre Arbeitsverhältnisse und das Festhalten am Verbot, Angehörige zu beschäftigen. Wie das Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen (ForseA) ausgerechnet hat, würden die jährlichen Mehrkosten für alle behinderten ArbeitgeberInnen rund 12 Millionen Euro betragen – Peanuts.

  • Befürchtungen und Ablehnung

Peanuts vor allem im Vergleich zu dem im Referenten-Entwurf angekündigten Vorhaben, PflegebegleiterInnen und Pflegestützpunkte einzuführen. Es ist zwar generell zu begrüßen, dass pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige kompetente AnsprechpartnerInnen vorfinden. Hier soll jedoch eine bisher so noch nicht vorhandene Infrastruktur aufgebaut werden, denn auf je 20.000 EinwohnerInnen soll ein solcher Stützpunkt kommen. Dazu müssten folglich bundesweit rund 10.000 PflegebegleiterInnen eingestellt werden. Das würde immense Personal- und Verwaltungskosten verursachen – für ein System, das mögli­cherweise nicht angenommen wird. Die dafür notwendigen Finanzmittel würden damit nicht mehr für die originären, also die Pflegeleistungen zur Verfügung stehen.

Diese Befürchtungen teilen viele Verbände, da die Pflegestützpunkte bei den Pflegekassen angesiedelt werden sollen. Wer lässt sich schon von einem Pflegebegleiter der Pflegekasse beraten, wenn diese gerade seine/ihre Einstufung in die begehrte Pflegestufe abgelehnt hat? Hinzu kommt, dass die Teilhabeorientierung hier wieder nicht stattfände, da die PflegebegleiterInnen nur zu Fragen der Pflegeversicherung beraten und unterstützen würden. Der ganzheitliche Ansatz bliebe außen vor, und der leistungsberechtigte Mensch müsste sich bei Fragen zu anderen Leistungsbereichen wieder an eine weitere Beratungsstelle wenden. Viel sinnvoller wäre es folglich, entweder die MitarbeiterInnen der schon bestehenden Beratungsstellen besser zu qualifizieren oder Beratungsstellen aufzubauen, die unabhängig von den Leistungsträgern sind.

Auf große Ablehnung bei den Verbänden stößt Paragraph 92d des Referenten-Entwurfes. Danach sind weitere Modellvorhaben beabsichtigt, die aus Mitteln der Pflegeversicherung finanziert werden sollen. Die KritikerInnen meinen, dass ausreichend Erkenntnisse aus den bereits abgeschlossenen Modellversuchen vorliegen. Da diese überwiegend positiv sind, ist es an der Zeit, die Erkenntnisse in die Alltagspraxis umzusetzen.

  • Ziemlich unverbindlich

Das BMG ignoriert weitere wichtige Passagen aus den »Empfehlungen für eine teilhabeorientierte Pflege«. Dies betrifft zum Beispiel die verlangte Weiterleistung bei zeitlich begrenzten Auslandsaufenthalten wie Auslandssemestern und Auslandspraktika sowie das Weitergewähren der Leistungen bei Klinikaufenthalten, damit die Assistenzpersonen dorthin mitgenommen werden können, um Unterversorgung zu vermeiden.

Selbst der langjährigen Forderung nach dem Recht auf Pflege durch eine Person des gleichen Geschlechts kommt das BMG nur unzureichend nach. § 2 Abs. 2 ist ziemlich unverbindlich: »Wünsche der Pflegebedürftigen nach gleichgeschlechtlicher Pflege sollen nach Möglichkeit Berücksichtigung finden.« Diese Formulierung hilft vielleicht, die Forderung verstärkt ins Bewusstsein zu rücken. In der Praxis wird jedoch jeder Leistungsanbieter Argumente finden, um zu erklären, warum es gerade ihm nicht möglich war oder ist, entsprechende Pflegepersonen einzusetzen.

Fazit: Eine Reform der Pflegeversicherung ist notwendig und längst überfällig. Wenn sie jedoch den Bedürfnissen pflegebedürftiger Menschen gerechter werden soll, muss der Referenten-Entwurf in vielen – auch wesentlichen Passagen – überarbeitet werden. Sonst wird aus der Reform ein Reförmchen.

© Elke Bartz, 2007
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