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Lesetipps

200.000 Frauen und 50.000 Männer, die demenziell verändert sind, wohnen allein zuhause. Deren Lebenssituation haben eine Reihe von Studien analysiert. Einen prägnanten Überblick über die entsprechende Literatur gibt das bereits 2002 publizierte, 59-seitige Buch Verwahrlosung allein stehender älterer Menschen unter pflegerischer Perspektive. Autor ist Heiko Fillibeck, Referent für Pflegepraxis beim Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) in Köln (Telefon: 0221-931847-0).

Für Das Recht der Alten auf Eigensinn engagiert sich seit vielen Jahren der Neusser Diplompädagoge Erich Schützendorf. Sein gleichnamiges Buch, 2004 bereits in dritter Auflage (E.-Reinhardt-Verlag, 228 Seiten) erschienen, will Angehörige und Pflegende ermutigen, alten Menschen und ihren Bedürfnissen gerechter zu werden. Gleichzeitig beschreibt und kritisiert Schützendorf alltägliche Verhaltensweisen, durch die pflegebedürftige Ältere unnötig reglementiert und eingeschränkt werden.



BETTINA RUDHOF, für die Studiengruppe Demenz des interdisziplinären Masterstudiengangs Barrierefreie Systeme der Fachhochschule Frankfurt am Main

Alternativen zum Pflegeheim

  • Menschen mit Demenz können auch in Wohnprojekten, WGs und Hausgemeinschaften leben und versorgt werden

aus: BIOSKOP Nr. 34, Juni 2006, Seiten 8+9

In Deutschland gibt es rund eine Million Menschen mit Demenz. Die meisten leben zu Hause und werden von Angehörigen, FreundInnen und Pflegediensten versorgt; etwa jede/r vierte Betroffene wohnt allein. Gleichzeitig ist Demenz die häufigste Ursache für den Umzug in ein Pflegeheim. Dies werden sich aber immer weniger Menschen leisten können: Altersarmut schreitet voran. Auch deshalb sind alternative Wohnformen für das Leben im Alter notwendig.

Auf der Suche nach zukunftsorientierten Konzepten für demenziell Erkrankte rücken Wohnformen in den Blick, bei denen Hilfe- und Pflegebedürftige in Gruppen von bis zu acht Personen in einer »vollstationären Hausgemeinschaft« leben. Solche Hausgemeinschaften stellen, juristisch gesehen, ein »Heim« dar. Sie werden mit den stationären Vergütungssätzen der Pflegeversicherung finanziert und unterliegen den Regeln der Heimaufsichtsbehörden. PflegerInnen und TherapeutInnen richten ihre Arbeit darauf aus, gewohnte Lebensweisen der PatientInnen so lange und gut wie möglich fortzusetzen. Als Alternative zu den anstaltsähnlichen Altenpflegeheimen stehen sie für eine Abkehr vom institutionalisierten, vordergründig auf Pflegequalität ausgerichteten Modell und für eine einem Umgang mit Dementen, der sich an ihrem alltäglichen Wohlbefinden orientiert.

Was wird darunter in Fachkreisen verstanden? Am bekanntesten ist das um 1990 vom englischen Gerontopsychiater Thomas Kitwood entwickelte »Dementia Care Mapping«. Es geht davon aus, dass die – als physisch bedingt gesehene – Krankheit durch eine negative, bösartige Umgebung, eine »maligne Sozialpsychologie«, in ihrem Verlauf stark beschleunigt wird. Umgekehrt erkennt Kitwood, dass persönliche Zuwendung und Geduld kompetenter Betreuer den Krankheitsverlauf nicht nur aufhalten, sondern sogar umkehren können.

Neben den Pflegenden kann auch die Umgebung den Verlauf der Demenz beeinflussen.

Ähnlich argumentieren die Entwickler des »Heidelberger Instruments zur Erfassung der Lebensqualität Demenzkranker H.I.L.D.E.«. Es erweitert Kitwoods »personenzentrierten Ansatz” um die »Dimensionen der Umwelt in ihrer potenziellen Bedeutung für die Lebensqualität«. Neben den unmittelbar Pflegenden kann auch die erweiterte städtische und räumliche Umgebung den Verlauf der Demenz nachweislich beeinflussen.

Praktisch kann das so aussehen: In einer vollstationären Hausgemeinschaftswohnung gibt es einen Bereich für alle, möglichst mit angrenzendem Garten. Die Wohnküche bildet das Zentrum, denn der Lebensrhythmus der BewohnerInnen ist von den gemeinsamen Mahlzeiten und alltäglichen Aktivitäten geprägt, die für die Organisation eines vielköpfigen Haushalts notwendig sind. Die alten Menschen können daran teilnehmen, auch um ihre Alltagsfähigkeiten aufrecht zu erhalten, ohne dass die Tätigkeiten zielgerichtet sein müssen. So werden Kartoffelschälen und Wäschewaschen als therapeutisches Mittel eingesetzt, ohne dass unbedingt angestrebt wird, dass die Kartoffeln gegessen und die Kleidungsstücke tatsächlich sauber werden. Vielmehr sind die BewohnerInnen aktiv, sie erfahren die Nähe der MitbewohnerInnen und die Zuwendung der MitarbeiterInnen in der Wohnküche. Zwei Personen sind hier 24 Stunden anwesend, ihr beruflicher Hintergrund ist unterschiedlich: Einige sind Kranken- und AltenpflegerInnen, andere BeschäftigungstherapeutInnen. Sie tragen keine traditionelle Berufskleidung und folgen vor allem zwei Grundprinzipien: Alltagsvertrautheit und individuelle Lebensführung sollen so weit wie möglich und so lang wie möglich erhalten werden, Versorgungssicherheit und Wohlbefinden sind zu gewährleisten. Ähnliche Konzepte sind seit den 1990-er Jahren vor allem in den Niederlanden (Anton-Pieck-Hofje), in Frankreich (Cantou-Bewegung) und in Schweden gemacht worden.

Ausnahmegenehmigungen von der Heimpersonal- und der Heimmindestbauverordnung, die sich auf die so genannte »Experimentierklausel« berufen, können neue Möglichkeiten eröffnen.

Die Vorgaben der Heimaufsichtsbehörden sind vielfältig, zum Beispiel: Rufanlagen in Einzelzimmern, Lautsprecher und Handläufe in den Fluren, die mit wischfesten Bodenbelägen ausgestattet sind, obligatorische Nachtbeleuchtung, Fäkalienspüle in den Wohnungen. Derartige Regularien normieren und schränken auch Handlungsspielräume ein. Es gibt aber Schlupflöcher: Ausnahmegenehmigungen von der Heimpersonal- und der Heimmindestbauverordnung, die sich auf die so genannte »Experimentierklausel« berufen, können neue Möglichkeiten eröffnen.

Neben den Hausgemeinschaften etablieren sich zunehmend »ambulant betreute Wohngemeinschaften (WGs) für demenziell erkrankte Menschen«. Die Kosten für Miete und Einrichtung der Räume müssen individuell aufgebracht werden, ansonsten ist von gemeinschaftlicher Haushaltsführung auszugehen. Vom Bedarf des jeweiligen WG-Mitglieds hängt ab, was Pflege, Betreuung und hauswirtschaftliche Hilfen kosten dürfen. Sie werden als Sachleistungen im Sinne des SGB XI bezuschusst – und zwar in Höhe des Pflegesatzes der per Begutachtung festgestellten Pflegestufe; sie sind also deutlich niedriger als die Pflegesätze bei vollstationärer Heimunterbringung. Darüber hinaus ergibt sich ein Mehrbedarf an therapeutischer Betreuung, um die Alltagsorientierung der verwirrten Alten zu fördern.

In den WGs für Demente, betreut von ambulanten Pflegediensten, ist Hilfe von geschulten Angehörigen und engagierten Nachbarn ausdrücklich erwünscht. Tatkräftige HelferInnen sind auch deshalb wichtig, weil sie die Arbeit der Pflegedienste überprüfen.

In diesen WGs, die oft auf Initiative von befreundeten Angehörigen entstehen, bestimmen die BewohnerInnen, wie ihre Umgebung ausgestattet ist, was gegessen und getrunken wird. Orientiert am therapeutischen Ansatz der »basalen Stimulation« empfiehlt der Gerontologe Jan Wojnar, der in Hamburg eine experimentelle Einrichtung betreut, Speisen auch in Form von Fingerfood (Essenshäppchen) anzubieten. Beim Einkaufen können die PatientInnen mithelfen, dem Kochen und Tischdecken wird große Aufmerksamkeit gewidmet. Wenn in Wojnars Hamburger »Oase« die Lieblingsspeise zubereitet wird und deren Düfte die BewohnerInnen stimulieren, dann trägt das Essen zum Wohlbefinden bei. Die Hygienerichtlinien stehen dabei sicherlich nicht im Vordergrund. Das gilt auch für die bewusste Entscheidung der BetreiberInnen, sämtliche Räume mit Teppichboden auszustatten, um eine »typische Heim-Atmosphäre« zu vermeiden. Ist der Bodenbelag abgenutzt, wird er großflächig erneuert. Auch der gemeinschaftliche Schlafraum, der Möglichkeiten zum Kuscheln gibt, wirkt stimulierend – und ist trotzdem unvereinbar mit den Richtlinien des Heimgesetzes. Die offene Feuerstelle, deren warmes Licht nachweislich als besonders anziehend erfahren wird, kann aus brandschutztechnischen Gründen nicht öffentlich empfohlen werden. Aber sie wird doch zunehmend und sehr erfolgreich in den 143 verzeichneten betreuten Wohngruppen für Demente eingesetzt: in Form eines elektrisch betriebenen Kamins mit künstlichem Feuer.

In den WGs für Demente, betreut von ambulanten Pflegediensten, ist Hilfe von geschulten Angehörigen und engagierten Nachbarn ausdrücklich erwünscht. Tatkräftige HelferInnen sind auch deshalb wichtig, weil sie die Arbeit der Pflegedienste überprüfen. Erste Studien über das Leben mit Demenz in kleinen Wohngruppen belegen nicht nur den erstaunlich niedrigen Krankenstand der dort tätigen Pflegekräfte. Auffällig ist auch die deutlich reduzierte Vergabe von Psychopharmaka und die geringe Zahl an Klinikaufenthalten bei betreuten Demenzkranken.

Ob die neuen Wohnformen auf lange Sicht die traditionellen Verwahranstalten ablösen können, werden wir, die Alten von morgen, entscheiden.

Beispielhaft für diese Wohnform ist das 2002 gegründete Projekt einer Selbsthilfeorganisation in der nordhessischen Gemeinde Wetter. Engagierte Laien wollten die Lebensbedingungen für demenziell Erkrankte und ihre Angehörigen im Landkreis Marburg-Biedenkopf nachhaltig verbessern. So bezogen acht Demenzkranke in einem Einfamilienhaus ihre neue, gemeinsame Wohnung. Alltagsbegleitung und Unterstützung werden durch Kooperation von professionellen HelferInnen, geschulten Laien und Angehörigen sicher gestellt. Dabei verringert die ehrenamtliche Hilfe nicht nur die Betreuungskosten, sie bindet die PatientInnen auch in das dörfliche Leben ein. Neben Initiativen zur Gründung von Wohngruppen fördern immer mehr Kommunen stadtteilorientierte Umbauprojekte, die darauf abzielen, verwirrte alte Menschen so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung wohnen zu lassen.

Hausgemeinschaften, Wohngruppen und quartiersbezogene Wohnprojekte bieten eine gute Alternative zu den leidvoll bekannten Pflegeheimen. Ob die neuen Wohnformen auf lange Sicht die traditionellen Verwahranstalten mit den »drei s« (sauber, satt, still) ablösen können, werden wir, die Alten von morgen, entscheiden. Hilfreich dafür kann sein, sich schon heute zu überlegen, wie das eigene Alter gelebt werden kann. Unterstützung aus Stadtverwaltungen und Politik, die sich nicht allein am Faktor Geld orientiert, sondern am Wohlbefinden und Teilhabe von alten und hochbetagten Menschen, ist dabei unabdingbar.

© Bettina Rudhoff, 2006
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