BioSkop unterstützen! Kontakt Über uns

Begrifflichkeiten mit Folgen

Die – noch unter der großen Koalition – im Jahr 2005 angestoßene Pflegereform orientiert Pflegebedürftigkeit stärker an den Begriffen Selbstständigkeit und gesellschaftliche Teilhabe. Zwecks Einstufung des Pflegegrades wurde ein Einschätzungsverfahren entwickelt – mit einer Vorgabe, die technischen Assistenzsystemen perspektivisch den Weg bahnen könnte.

Das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit hängt wesentlich davon, wie selbstständig ein Begutachteter alltägliche Verrichtungen ausführen kann. Dabei ist Selbstständigkeit definiert »als die Fähigkeit einer Person, die jeweilige Handlung bzw. Aktivität allein, d.h. ohne Unterstützung durch andere Personen durchzuführen«.

Das bedeutet: Als selbstständig gilt auch, wer die jeweilige Handlung unter Einsatz von Hilfsmitteln ausführen kann. So ist zumindest vorstellbar, dass immer mehr Aktivitäten Pflegebedürftiger durch technische Assistenz übernommen und personelle Unterstützungen reduziert werden. Der Grad der definierten Pflegebedürftigkeit ließe sich so eher niedrig halten – und damit auch die Leistungen aus der Pflegeversicherung.


Zum Weiterlesen

»Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme« heißt eine interessante Studie, erstellt im Rahmen der vom Bundesministerium für Forschung beauftragten Begleitforschung AAL. AutorInnen sind vier WissenschaftlerInnen aus drei Universitäten: Arne Manzeschke und Elisabeth Rother (beide München) sowie Karsten Weber (Cottbus) und Heiner Fangerau (Ulm).

Die wichtigsten Studienergebnisse fasst eine im Januar 2013 publizierte, 40-seitige Broschüre zusammen. Die AutorInnen stellen darin auch »ethische Leitlinien« zur Diskussion, die für »Orientierung« und »Sensibilität« beim Umgang mit altersgerechten Assistenzsystemen sorgen sollen. Die Publikation steht gratis zum Download im Internet bereit.



ARNE MANZESCHKE, Leiter der Fachstelle für Ethik und Anthropologie im Gesundheitswesen, Institut Technik, Theologie, Naturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Mehr Selbstbestimmung im Alter?

  • Technische Assistenzsysteme könnten Freiheitsgewinne ermöglichen – und zu permanenter Kontrolle führen

aus: BIOSKOP Nr. 64, Dezember 2013, Seiten 4+5

Die Lebenserwartung hierzulande steigt, der Anteil der Menschen mit körperlichen Einschränkungen wächst. Gleichzeitig sinken die Geburtenzahlen; Erwerbsbiographien werden brüchiger und finanzielle wie zeitliche Spielräume vieler Berufstätiger schrumpfen. Das wirft Fragen zur Zukunft der Pflege auf: Wer ist in der Lage, sich angemessen um hilfsbedürftige Menschen zu kümmern? Wie kann Pflege mittelfristig sichergestellt und finanziert werden? Einen Ausweg soll der verstärkte Einsatz technischer Hilfen bieten. Ist das realistisch und wünschenswert?

Technische Assistenzsysteme unterstützen ältere Menschen bei ihren alltäglichen Verrichtungen. Sie kontrollieren Wasser, Herd und Heizung, helfen bei der Kommunikation mit Angehörigen, Nachbarn, Ärzten und Apothekern, erinnern an notwendige Medikamente, sichern den nächtlichen Toilettengang und alarmieren bei Stürzen oder auffälligen Ereignissen zuständige Angehörige oder Notdienste. Darüber hinaus bieten Sie ein »Gesundheitsmanagement«, bei dem die Betroffenen über ihre Gesundheitsdaten informiert werden und gegebenenfalls Fachkräfte zur Beratung oder Behandlung hinzugezogen werden können.

Je stärker die physischen und psychischen Kräfte der alten Menschen abnehmen, desto stärker übernehmen die technischen Assistenzsysteme die Überwachung und Steuerung der nötigen Vorgänge. In nicht allzu ferner Zukunft dürfte auch eine direkte Verkoppelung von technischen Geräten und menschlichem Körper, wie sie bereits beim Herzschrittmacher medizinische Routine ist, häufiger angewendet werden.

Die Entwicklung altersgerechter Assistenzsysteme ist zum einen durch den demographischen Wandel getrieben, zum anderen aber auch von ökonomischen Erwartungen.

Dass Menschen jenseits der Erwerbs- und Leistungsgrenze weiterhin an der Gesellschaft teilhaben und ihr Leben möglichst selbstbestimmt leben können sollen, ist auch das Ergebnis eines gesellschaftlichen Diskurses. Menschen wollen mehrheitlich so lange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden wohnen bleiben und nicht in ein Pflege- oder Altenheim ziehen. Politisch ist das durchaus erwünscht, denn die stationäre Versorgung dürfte teurer werden als die ambulante Versorgung zu Hause. Die Pflege und Sorge für Menschen, die das nicht mehr oder nur noch in Teilen für sich selbst schaffen können, wird vom Gesetzgeber als gesellschaftliche Aufgabe begriffen (siehe § 8 Abs. 1 Sozialgesetzbuch XI) – und das ist zweifellos ein sozialer Fortschritt.

Die Entwicklung altersgerechter Assistenzsysteme ist zum einen durch den demographischen Wandel getrieben, zum anderen aber auch von den Erwartungen, die dieser neue Markt hinsichtlich technischer Innovation und ökonomischem Absatz zu versprechen scheint.

Entscheidend für die Beurteilung und die weitere Entwicklung ist es, den grundlegenden Ansatz solcher technischen Assistenzsysteme zu verstehen. Es geht nicht um eine Ansammlung einzelner nützlicher technischer Hilfen, die hier und da abnehmende Fähigkeiten kompensieren. Der Begriff Ambient Assisted Living (AAL) beschreibt eine intelligente Wohnumgebung, in der alle technischen Geräte miteinander kommunizieren können und dem Bewohner ein auf seine Bedürfnisse und Bedarfe ausgerichtetes Lebensumfeld herstellen.

Ein tiefes Eindringen in die Lebensumgebung und Leiblichkeit des Menschen wirft grundlegende, auch ethische Fragen auf.

Das Szenario: Verrichtungen des täglichen Lebens wie das Einkaufen werden mit dem Gesundheitszustand des Bewohners abgestimmt, oder es werden Rehabilitationsmaßnahmen durch einen Computer zu Hause angeleitet, der die Fortschritte an ein medizinisches Zentrum sendet, welches das weitere Trainingsprogramm darauf abstimmt. In seiner maximalen Variante verbindet das intelligente Wohnumfeld telemedizinische Anwendungen mit einer technischen unterstützten Pflege und Verrichtungen des alltäglichen Lebens.

Betrachtet man die Anwendungsbereiche altersgerechter Assistenzsysteme (in der häuslichen Umgebung, am Körper und im Körper implantiert) und ihre Invasivität (Monitoring, Kontrolle und Steuerung von Vitalparametern), so wird deutlich, dass ein immer tieferes Eindringen in die Lebensumgebung und Leiblichkeit des Menschen grundlegende, auch ethische Fragen aufwirft: nach Privatheit, Freiheit, Selbstbestimmung, Identität.

Der Einsatz von AAL beeinflusst die Menschen unterschiedlich stark: Das betrifft nicht nur diejenigen, die technisch unterstützt werden, sondern auch ihre Angehörigen, Nachbarn und professionellen Pflegekräfte. Sie alle sind betroffen in ihrer jeweiligen Leiblichkeit, in der Weise, wie sie sich selbst und die Anderen in dem sozio-technischen Arrangement wahrnehmen und agieren. Ihr Umgang wird durch die technischen Apparate mitbestimmt, zum Teil normiert und kontrolliert, zum Teil sind wohl auch Nebenfolgen, die gar nicht beabsichtigt sind, zu erwarten.

Der Wunsch nach personaler Fürsorge sollte nicht allein technisch beantwortet und damit ignoriert werden.

AAL-Anwendungen sollen die Selbstbestimmung und die gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen stärken. Man kann argumentieren, dass Menschen an Selbstbestimmung gewinnen, wenn sie nicht auf die Hilfe anderer Personen angewiesen sind. Doch die technischen Systeme eröffnen nicht nur Handlungsoptionen und Freiheitsgewinne, sondern sie schließen auch andere. Es ist nicht allein eine Frage der empirischen Forschung, wie sich das Verhältnis von Selbstbestimmung und Abhängigkeit verändert, sondern auch eine gesellschaftliche Entscheidung, wie wir künftig mit der Bedürftigkeit von Menschen im Alter umgehen wollen. Hierbei wird es einerseits um die individuellen Bedürfnisse der Nutzer von AAL-Anwendungen gehen. Andererseits wird es gesellschaftlich aber auch den Freiraum geben müssen, um nicht zwischen Technik und Alleinsein entscheiden zu müssen. Der Wunsch nach personaler Fürsorge sollte nicht allein technisch beantwortet und damit ignoriert werden. Zugleich wäre zu fragen, wann die Assistenz zur Teilhabe befähigt und wann sie zur Isolation der Unterstützten beiträgt – z. B. wenn Angehörige oder Nachbarn aufgrund der technischen Absicherung ihre sozialen Kontakte glauben einschränken zu können.

Zur Selbstbestimmung gehört auch das »informationelle Selbstbestimmungsrecht« über die beim technischen Unterstützungsbetrieb erhobenen Daten. Es ist bereits jetzt absehbar, dass solche Gesundheitsdaten eine interessante und vor allem kapitalisierbare Ressource darstellen. Es muss gesichert werden, dass die Personen jederzeit Einsicht in ihre erhobenen Daten haben müssen und auch verfügen können, wer was mit diesen Daten zu welchen Zwecken unternimmt. Das gilt in einem verstärkten Maße für die Menschen, die unterstützungsbedürftig sind, aber die Tragweite ihrer Entscheidungen selbst nicht mehr vollständig überblicken können. Hier ist die Verantwortung der Angehörigen, Anbieter und Verwerter um so größer zu gestalten und sicher zu stellen.

Die dem AAL-Diskurs zugrunde liegenden Altersbilder sind kritisch zu reflektieren.

AAL-Systeme können ihre Dienstleistungen nur im komplexen Zusammenspiel vieler Unternehmen und Institutionen, technischer Subsysteme und Individuen erbringen. Fehlverhalten und/oder Fehlfunktionen in solchen technischen Systemen können die zu unterstützenden Personen oder ihr Umfeld gefährden. Hier ist es wichtig, System- und Detailverantwortung so zu definieren, dass nicht das schwächste Glied in der Kette – nämlich der Pflegebedürftige – Risiko und Verantwortung tragen muss.

Der medizinisch-technische Fortschritt befördert Hoffnungen und Erwartungen auf immer bessere Leistungen. Menschliche Zustände, Verhaltensweisen oder bestimmte Eigenschaften
erscheinen plötzlich als Krankheiten, die behandelt werden können. Das Altern scheint zu einer Lebensphase zu werden, die – mit entsprechender technischer Unterstützung – lange produktiv und frei von Einschränkungen erlebt werden kann. Die dem AAL-Diskurs zugrunde liegenden Altersbilder sind kritisch zu reflektieren. Hier ist künftig genau zu unterscheiden zwischen notwendiger Assistenz für bedürftige Menschen und Anwendungen, die vielleicht »nur« nützlich sind. Das gilt insbesondere, wenn diese Leistungen solidarisch finanziert werden sollen. Zudem ergibt sich bei Menschen mit Pflegebedürftigkeit oder Behinderung die Frage, wann die Unterstützung in ein fragwürdiges »Verbessern« umschlägt.

Wie ändert sich durch solche Assistenzsysteme mittel- bis langfristig unser Verständnis von Gesundheit, Alter, Selbstständigkeit, Fürsorge oder Privatheit? Wie verändert sich die Selbstwahrnehmung von Menschen unter zum Teil permanenter technischer Kontrolle?

In einer alternden Gesellschaft, können technische Assistenzen ein wichtiges sozialpolitisches Instrument liefern, um der individuellen wie gesellschaftlichen Verantwortung zur Gestaltung des Alterns gerecht zu werden. Technik ist ambivalent in ihrer Nutzung und ihrem Nutzen. Dass Technik die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt, hängt wesentlich von ihrer sozialen, rechtlichen und ethischen Rahmung ab. Dabei werden Nüchternheit und Augenmaß helfen – auch gegenüber allzu optimistischen Versprechungen der Technikbranche.

Mit der Entscheidung für eine technische Unterstützung von Alternsprozessen stellen sich einige ernste ethische Fragen, für die wir überzeugende und tragfähige Antworten finden müssen: Wie ändert sich durch solche Assistenzsysteme mittel- bis langfristig unser Verständnis von Gesundheit, Alter, Selbstständigkeit, Fürsorge oder Privatheit? Wie ist Verantwortung unter technischen Bedingungen wahrzunehmen? Wie verändert sich die Selbstwahrnehmung von Menschen unter zum Teil permanenter technischer Kontrolle? Welche normierenden und normalisierenden Inhalte haben die technischen Kontrollregime für den Einzelnen und für das soziale Miteinander? Wollen wir an der Differenz von Mensch und Maschine festhalten – und wie und warum?

Es sind Fragen, zu denen wir als Gesellschaft Antworten finden müssen, um auch in Zukunft in der gegenseitigen Sorge und Verantwortung unsere menschliche Bestimmung zu finden.

© Arne Manzeschke, 2013
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Autors