Kafka und die Biopolitik
»Das Wissen vom Menschen: Franz Kafka und die Biopolitik« heißt die Doktorarbeit von Markus Jansen, abgeschlossen 2011 an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. Die Studie, 2012 im Verlag Königshausen & Neumann als Buch erschienen, beleuchtet auf 436 Seiten Leben und Werk Franz Kafkas als Autor der biopolitischen Moderne. In bekannten Texten wie »Die Verwandlung«, »Der Verschollene« oder »Das Schloss« spürt Markus Jansen jene Dynamiken auf, die sowohl die wissenschaftlichen Diskurse als auch das gesellschaftliche Leben um 1900 bestimmten.
Eine ausgesprochen material- und lehrreiche Studie über die enge Verflechtung von Biologie und Ökonomie; über das »Wissen vom Menschen«, das sozialdarwinistisch, eugenisch, bakteriologisch und antisemitisch aufgeladen war. Wir können auch im 21. Jahrhundert noch viel lernen über die hoch aktuelle Funktionsweise moderner Biopolitik – vom Prager Juden Franz Kafka und seiner literarischen Verarbeitung der Zeit um 1900.
Genomforschung
Berichte, Hintergründe, Analysen
»Digitale Herrschaft«
heißt das neue Buch von Markus Jansen, das Mitte 2015 im Stuttgarter Schmetterling-Verlag erschienen ist. Der Autor beschreibt auf über 300 Seiten die gesellschaftliche Bedrohung durch umfassende Digitalisierung und analysiert anschaulich, wie Transhumanismus und synthetische Biologie »das Leben neu definieren«. Jansen problematisiert die Macht von Suchmaschinen und Datenbanken, beleuchtet die Funktion sozialer Netzwerke sowie neuartige Formen der Kontrolle und Überwachung im vernetzten Alltag. Und er gibt aufschlussreiche Einblicke in die tiefenwirksame Digitalisierung des Lebens in Biologie und Medizin.
Pioniere der Synthetischen Biologie, die anstrebt, eine der führenden Wissenschaften des 21. Jahrhunderts zu werden, definieren »Leben« im digitalen Code von Eins und Null – Organismen sollen nichts anderes sein als »Informations-maschinen«. Langfristig drohe, so die These des Berliner Philosophen, »eine grundlegende Manipulation der Natur im Rahmen technologischer und computergestützter Eingriffe in die Evolution«. Dagegen plädiert Markus Jansen für eine grundlegende Korrektur des Verhältnisses zur Technik und zur Natur, die in neuen Gemeinschaften, autarken Inseln der Vielfalt und Freiheit einen Ausdruck finden könnte.
BioSkop meint:
Absolut lesenswert!
Gentests
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Patientenverdatung
Berichte, Hintergründe, Analysen
MARKUS JANSEN, Kulturwissenschaftler
Totale Transparenz
- Über Biotechnologie, »digitale Medizin« und Leben 2.0
aus: BIOSKOP Nr. 59, September 2012, Seiten 14+15
Unsere Gesellschaft wird von einem obszönen Zwang zur Sichtbarmachung und Selbstdarstellung beherrscht. In »sozialen« Netzwerken wie Facebook, Google+ und Twitter geben Menschen mittlerweile bereitwillig Vieles über sich preis, was bis vor Kurzem noch als absolut privat und intim gegolten hätte. Dem entspricht die Anstrengung der Biowissenschaften, die – hypothetische – Substanz des Lebens, das Genom bzw. die DNA, sichtbar und transparent zu machen.
Das Internet ist zur neuen Sphäre der Öffentlichkeit und des Wirtschaftens geworden. Im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts werden sogenannte »soziale« Netzwerke genutzt, um ökonomisch verwertbare Fähigkeiten wie Mobilität, Flexibilität und die Bereitschaft zu permanenter Kommunikation einzuüben. Unternehmerisches Handeln ist das Leitbild vom einzelnen Online-User bis zum großen Konzern; es gilt sich anzugleichen an Gefordertes.
Die Teilnehmer deprivatisieren sich freiwillig und ohne Zwang – Freiheit realisieren sie dadurch aber in keiner Weise, vielmehr erzeugen sie in Vollzeit einen sozialen Autismus in Echtzeit. Nicht von ungefähr spielen die sozialen Praktiken der Transparenzgesellschaft den Mechanismen der Überwachungsgesellschaft voll in die Hände. Die »Organisation« von Leben – das heißt oft nur noch: von Lebensläufen – orientiert sich zusehends an den »sozialen« Netzwerken. Freundschaften und intime Beziehungen, Arbeitsverhältnisse und mittlerweile sogar Arzt-Patient-Verhältnisse werden über Facebook, Xing oder andere spezialisiertere Anbieter und Apps abgewickelt. Das Scannen ist zum globalen Symbol der Transparenzgesellschaft geworden.
»Das Ziel ist, die menschliche Bevölkerung lesbar zu machen.«
»Das Ziel ist, die menschliche Bevölkerung lesbar zu machen.« So lautet das Fazit der Eröffnungsrede, die Eben Moglen, amerikanischer Juraprofessor und Free-Software-Aktivist, auf der Internetkonferenz re:publica im Mai 2012 in Berlin gehalten hat. Moglen bezog sich auf Internet-Konzerne wie Facebook und Google, die mittlerweile nahezu jeden Aspekt des menschlichen Lebens restlos erfassen.
An einer sogenannten »Schnittstelle« von Biotechnologie und Leben 2.0 steht die digitale Medizin. Pioniere der digitalen Medizin sind die sogenannten »Self-Tracker« – anschaulich beschrieben im Spiegel_-Artikel »Der überwachte Körper« vom 23. April 2012. Self-Tracker überwachen ihre persönlichen Biodaten mithilfe eigens dafür entwickelter mobiler Geräte (»Tracker«) rund um die Uhr und laden sie dann per Smart-Phone-Apps in spezialisierte Datenbanken und Netzwerke hoch, um sie öffentlich zu machen. »Selbsterkenntnis durch Daten« ist das Credo der »Self-Tracker«. Das »soziale« Netzwerk Quantified Self aus den USA (_www.quantifiedself.com) ist Speerspitze der Bewegung, regionale Gruppen gibt es mittlerweile in jeder größeren europäischen Stadt.
Amerikanische Start-up-Unternehmen wie Fitbit (www.fitbit.com) bieten die kaum zu bemerkende Gesundheitsüberwachungstechnik im Mini-Format (»hochempfindlicher 3-D-Bewegungssensor«) an. Fitbit-User erhalten durch das systematische Tracking eine »persönliche Statistik« ihrer Biodaten. In der Fitbit-Datenbank können so »alle demografischen Gruppen auf einen Blick« verglichen werden, für den User würden »interessante Trends in Bezug auf Geschlecht, Alter und Figur« erkennbar. Fitbit motiviert den User, seine Biodaten auch in anderen »sozialen« Netzwerken zu veröffentlichen: »Du kannst deine Statistik auch über Twitter und Facebook mit deinen Freunden teilen.« Fitbit-Mitarbeiter machen es selbst vor: Auf der Homepage des Unternehmens können getrackte Biodaten von Managern öffentlich eingesehen werden.
Was wird passieren, wenn die »Digital-Natives« der heutigen Generation in Zukunft zusätzlich zu »Genetically Screened before Birth-Natives« (vorgeburtlich genetisch Getesteten) werden?
Die dänische Neurobiologin und Wissenschaftsjournalistin Lone Frank hat ihr Genom analysieren lassen. Das Ergebnis publizierte sie 2011 in ihrem Buch Mein wundervolles Genom. Ein Selbstversuch im Zeitalter der persönlichen Genforschung. Der Verlag wirbt auf seiner Homepage mit folgenden Worten für das Buch: »Wer bin ich? Woher komme ich? Woran werde ich sterben? Und wann? Antworten auf diese Fragen finden sich in unserer DNA. Schon bald wird die Entschlüsselung unseres Erbguts nur noch tausend Dollar kosten. Eine neue Ära der Medizin bricht an.« Diese ausgerufene Ära der digitalen Medizin verspricht totale Transparenz des Humanen und damit endlich verbindliche Antworten auf die großen Menschheitsfragen. Die Antwort der digitalen Medizin kommt aus der geschichtslosen Oberfläche der analysierten DNA.
Was aber wird passieren, wenn die »Digital-Natives« der heutigen Generation in Zukunft zusätzlich zu »Genetically Screened before Birth-Natives« (vorgeburtlich genetisch Getesteten) werden, wofür sich bereits erste deutliche Anzeichen finden lassen? Was, wenn nicht nur private und intime Details in den »sozialen« Netzwerken und für Google jederzeit verfügbar sind, sondern auch das individuelle Genom jedes Einzelnen? Wird es in Zukunft so etwas wie ein »Genom-Facebook« geben? Ist es undenkbar, dass die Teilnehmer in absehbarer Zukunft ihr analysiertes Genom, ergänzend zu anderen Biodaten wie Blutdruck oder Gewicht, freiwillig der digitalen Öffentlichkeit zugänglich machen?
In diesem »Genom-Facebook« würden biologische/genetische und soziale/private Transparenz in einer einzigen Datenbank zusammengeführt, für alle und jeden jederzeit an allen Orten und zu jedem Zweck einsehbar. Als technische Ausrüstung würden ein Smartphone und entsprechende Apps genügen. Totale Transparenz.
Die User können nun angeben, ob sie Organspender sind und werden von Facebook zu Organisationen verlinkt, bei denen sie sich als Organspender registrieren lassen können.
Die »Self-Tracker« und Unternehmen wie Fitbit sind bereits auf dem Weg in diese neue Welt. Und auch wenn »Google Health« Anfang 2012 wieder eingestellt wurde, hat das Firmenimperium Google Ventures mehrere Start-up-Unternehmen aus dem Bereich der digitalen Medizin auf dem Gesundheitsmarkt: Foundation Medicine (www.foundationmedicine.com) bietet als Geschäftsmodell personalisierte Krebsvorsorge und -behandlung auf Basis modernster Genomanalyse an. DNAnexus (www.dnanexus.com) fusioniert neueste Cloud-Computing-Technologie im großen Maßstab mit der kommerziellen Analyse und Speicherung von DNA-Sequenzen zu einem geschlossenen, webbasierten Bioinformatik-System.
Das Unternehmen 23andMe (www.23andme.com – eine bezeichnende Anspielung auf die Anzahl der menschlichen Chromosomen) bietet für 299 US-Dollar eine individuelle Genomanalyse an: Der Kunde bestellt privat bei 23andMe online ein Genomanalyse-Set, registriert dieses online, spuckt offline in das gelieferte Teströhrchen seinen Speichel und schickt diese DNA-Probe anschließend an das 23andMe-Labor. Zwei, drei Wochen später kann der Auftraggeber das analysierte Genom in der Online-Datenbank von 23andMe einsehen, möglich ist auch ein Abgleich mit Genomen anderer Kunden. Mehr noch: Stimmt der DNA-Geber zu, können auch 23andMe-Wissenschaftler seine Genomdaten verwerten – kostenfrei. 23andMe hat mittlerweile über 100.000 individuelle Genomanalysen in seiner digitalen Datenbank gespeichert – die laut eigenen Aussagen größte Genom-Datenbank der Welt.
Googles Konkurrent Microsoft ist mit seiner Online-Plattform zur digitalen Gesundheitsüberwachung und -kontrolle »Microsoft HealthVault« ebenfalls erfolgreich auf dem Markt präsent. Facebook selbst hat in den USA und in Großbritannien den Usern immerhin eine neue Funktion eröffnet: Diese können nun angeben, ob sie Organspender sind und werden von Facebook zu Organisationen verlinkt, bei denen sie sich offiziell als Organspender registrieren lassen können.
Sowohl die Biotechnologien als auch die »sozialen« Netzwerke und Google folgen der gleichen ökonomistischen Verwertungslogik.
»Das Schulsystem, die Medien, die Massenkultur und -information sind es, die dafür sorgen, dass die Menschen zu Kopien werden, die einander entsprechen. Und diese faktische Klonierung, die soziale, die industrielle Klonierung der Menschen und Dinge ist die Grundlage, auf der das biologische Denken des Genoms und der genetischen Klonierung entsteht, welches die mentale und verhaltensmäßige Klonierung nur sanktioniert«, schreibt der französische Philosoph Jean Baudrillard in Der unmögliche Tausch. Sowohl die Biotechnologien als auch die »sozialen« Netzwerke und Google folgen der gleichen ökonomistischen Verwertungslogik. Die totale Transparenz ist eine neue Form der Herrschaft, die uns digital überwacht und biologisch analysiert.
Deutlich intransparenter sind die Konzerne; vor allem hinsichtlich Datenschutz, -verarbeitung und -weitergabe. Facebook und Google sind Varianten der neuen Herrschaft, in der gleichen Weise flüchtig, auswechselbar und den gleichen Marktlogiken unterworfen wie ihre User. Es handelt sich bei den aktuellen Machttechniken nicht mehr in erster Linie um »harte« Techniken der Bestrafung, der Ausschließung oder des Verbots, sondern um »weiche« Techniken, wie Selbstoptimierung und -management, Aktivierung, Feedback und Evaluation – der französische Philosoph Gilles Deleuze hat dieses bereits in seinem Text Postskriptum über die Kontrollgesellschaften analysiert.
Auch im Sinne von Deleuze gilt es, jenseits sowohl von apokalyptischem Alarmismus als auch einer nur allzu bequemen, verdrängenden und verharmlosenden Gleichgültigkeit, die mancher Zeitgenosse äußerst transparent und systematisch an den Tag legt, neue Aufklärungen zu entwickeln. Denn die in einer nominellen Demokratie vielleicht entscheidende Frage ist: In welcher Welt will die Mehrheit der Gesellschaft leben?
© Markus Jansen, 2012
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