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Unvorstellbar

»Ich habe 13 Jahre als Krankenschwester gearbeitet, überwiegend auf einer internistischen Intensivstation. Wir wissen aus der Palliativmedizin, dass in der Sterbephase Ernährung nicht angezeigt ist, weil sie eher Unwohlsein und Unbehagen beim Patienten verursacht. Wir wissen aber nicht, wie eine Einstellung der künstlichen Ernährung zu einem früheren Zeitpunkt, deutlich vor der Sterbephase, vom Patienten erlebt wird. Ganz klar sind aber die körperlichen Folgen: Die Einstellung der Ernährung hätte den Tod des Patienten nach Wochen, wenn sowohl die Ernährung als auch die Flüssigkeitsgabe eingestellt wird, oder – bei Fortsetzung der Flüssigkeitsgabe – bis zu Monaten zur Folge. Im Klartext heißt das: Verhungern und Verdursten. (…)

Es ist für mich schlechterdings unvorstellbar, dass eine Patientenverfügung dies in Zukunft möglich machen könnte. Wie sollen wir Bundestagsabgeordnete den Schwestern und Pflegern klar machen, dass es zukünftig zu ihren Aufgaben gehören soll, Menschen zu pflegen und sie gleichzeitig über Wochen verhungern zu sehen?«

aus einer Rede der grünen Politikerin Christa Nickels, gehalten am 10. März 2005 im Deutschen Bundestag. Beraten wurde der Zwischenbericht der damaligen Enquete-Kommission zur Medizinethik. Im Herbst 2005 schied Nickels aus dem Parlament aus; nach dem Scheitern von Rot-Grün hatte sie bei der Neuwahl keinen sicheren Listenplatz mehr von ihrer Partei erhalten.



BIOSKOP-Interview

»Das wünsche ich niemandem«

  • Erfahrungen einer Altenpflegerin, die mithelfen soll, das Leben einer Heimbewohnerin gezielt zu beenden

aus: BIOSKOP Nr. 39, September 2007, Seiten 4+5

*Über den Alltag von AltenpflegerInnen wird gelegentlich berichtet: knapp kalkulierte Personalschlüssel, enorme Arbeitsverdichtung, körperliche und seelische Anstrengungen beim Umgang mit den Hochbetagten sind die Themen. Kaum aber wird darüber gesprochen, was manche Richter den Pflegekräften zumuten: Sie sollen das Leben von HeimbewohnerInnen, die sie jahrelang versorgt haben, per Abbruch der Sondenernährung beenden. BioSkoplerin Erika Feyerabend hat eine Altenpflegerin getroffen, die bereit war, ihre Erfahrungen anonym zu schildern. Den Namen ihrer Interviewpartnerin haben wir geändert, ihre Antworten drucken wir unter dem Pseudonym »Sibylle Meier«.

BIOSKOP: Sie müssen derzeit eine Bewohnerin begleiten, die gemäß Gerichtsbeschluss nicht mehr ernährt werden darf. Wie kam es dazu?

SIBYLLE MEIER: Unsere Bewohnerin, nennen wir sie Frau X, ist seit ungefähr zehn Jahren hier im Haus. Sie hat Chorea Huntington. Anfang 2007 verschlechterte sich ihr Zustand. Sie konnte nicht mehr selbstständig essen und trinken. Da mussten wir Abhilfe schaffen. Ihre Berufsbetreuerin und das Amtsgericht befürworteten, dass eine PEG-Magensonde gelegt wird, um die Frau ernähren zu können. Aber ihre Tochter, die seit drei Jahren Zusatzbetreuerin ist, war dagegen und begann einen Rechtsstreit. Landgericht und später auch das Oberlandesgericht haben dann anders als das Amtsgericht entschieden. Die Sonde bleibt zwar. Aber es darf keine Nahrung gegeben werden, sondern nur noch kalorienfreie Flüssigkeit und Medikamente.

BIOSKOP: Die Gerichte haben die Familienangehörigen befragt. Sie mutmaßen, dass Frau X sterben will. Wurden auch die Pflegekräfte, die seit Jahren täglich mit der Betroffenen zu tun haben, angehört?

SIBYLLE MEIER: Nein. Keine Pflegerin ist jemals angehört worden. Da hätte ich viel beitragen können, ich hatte ja jahrelang mit Frau X. zu tun. Sie selbst konnte wenig reden. Bei diesem Krankheitsbild und bei ihren Schluckstörungen, die sie schon früher hatte, war abzusehen, dass sie irgendwann eine Sonde brauchen würde. Aber nie haben die Tochter oder auch ihr Ehemann, von dem wir lange Zeit nur wussten, dass er auf dem Papier existiert, davon gesprochen. Nun behaupten alle, Frau X. hätte immer gesagt, dass sie nicht an »Schläuchen« hängen wolle. Sie hat ja eine Magensonde, die nicht mal mit einem Pflaster fixiert ist. Also könnte Frau X. das Ernährungsgerät im Prinzip selbst entfernen. Dafür haben wir aber nie Anzeichen erkennen können. Keiner hat vorher von ihr gehört, dass sie sterben oder nicht ernährt werden will. Keiner, während der ganzen zehn Jahre.

BIOSKOP: Wie haben Sie denn Ihre Bewohnerin erlebt?

SIBYLLE MEIER: Huntington ist eine schlimme Krankheit, der Umgang mit den Betroffenen ist oft anstrengend. Es kommt zum Beispiel vor, dass Frau X. mal um sich schlägt, auch andere Huntington-Patienten machen das. Frau X. ist jetzt im Endstadium der Erkrankung und hat auch deswegen diese Schluckstörungen. Aber ich und alle hier haben den Eindruck: Sie nimmt noch teil, etwa wenn ein Film gezeigt wird. Sie wird dann im Bett rausgefahren und schaut ganz interessiert Fernsehen, besonders Sportsendungen. Natürlich ist sie eingeschränkt. Aber wer hat das Recht zu behaupten: Das ist kein lebenswertes Leben mehr?

»Für mich ist das hier ein Verbrechen. Ich beteilige mich an einem Mord.«

BIOSKOP: Wie erleben Sie Ihre Arbeitssituation?

SIBYLLE MEIER: Verzweifelnd. Das macht mich wütend und traurig. Und unsere Bewohnerin, die bekommt alles mit. Sie ist jetzt auch viel wacher als sonst. Wir alle haben den Eindruck, dass sie weiß, was mit ihr gemacht wird. Für mich ist das hier ein Verbrechen. Ich beteilige mich an einem Mord. Das ist einfach für mich so. Ich beteilige mich daran, einen Menschen umzubringen.

BIOSKOP: Und wie ist die Stimmung im Haus?

SIBYLLE MEIER: Niederschmetternd. Keiner will das, die Ernährung verweigern. Erst hatten wir nicht damit gerechnet, dass das Oberlandesgericht so entscheidet. Dann haben wir gedacht, dass der Heimvertrag gekündigt wird, also Frau X. in eine andere Einrichtung verlegt wird. Aber dass sie sich noch an andere Gesichter gewöhnen muss und an andere Umstände für ihre letzten Wochen oder Tage, da denke ich: Das ist ja auch keine Alternative. Wir haben darüber im Team gesprochen. Aber man hat ja keine Wahl. Manche sagen, wenn Frau X. woanders ist, dann geht es uns noch schlechter. Schlechter als jetzt kann es mir gar nicht gehen. Aber es wäre eben ein wenig Distanz da und wir müssten das nicht jeden Tag erleben. Ich meine, wer versucht, so ein Urteil zu vollstrecken oder ausführen zu lassen, der müsste dann auch sagen: Ich nehme die Frau zum Sterben mit nach Hause. Ich bin nicht davon überzeugt, dass das alle ohne Handicap überstehen.

BIOSKOP: Gibt es in ihrem Heim weitere Menschen, die auf Ernährung per Sonde angewiesen sind?

SIBYLLE MEIER: Ja, wir haben hier auch eine Wachkoma-Abteilung. Das sind zum Teil reanimierte Leute, für die es wenig medizinische Hoffnung gibt. Dass wir die nicht mehr ernähren sollen, das sind wir nie gefragt worden. Wir haben hier auch einen Mann, der hatte sich vor den Zug geworfen. Er ist wieder aus dem Koma erwacht und inzwischen ganz gut dabei. Er hat nur noch ein Bein und liegt viel. Wir können ihn aber auch in den Sessel setzen. Was wir für einen Spaß mit dem haben, das kann sich keiner vorstellen. Das ist einfach nicht zu fassen. Überhaupt, so eine Magensonde, das ist ja keine Herz-Lungen-Maschine. Es ist ein Eingriff in die Persönlichkeit. Aber wenn es eben nicht anders geht: Auch mit Magensonden laufen die Leute über den Flur, sofern sie es noch können. Und erfreuen sich ihres Lebens.

»Übrigens hatte der Amtsrichter in seiner Begründung geschrieben, dass auch finanzielle Motive der Angehörigen nicht auszuschließen sind.«

BIOSKOP: Haben Sie als Pflegeteam überlegt, sich zu weigern, die Ernährung einzustellen?

SIBYLLE MEIER: Im Moment bin ich ratlos. Der Rechtsbeistand des Heimes sagt, die Möglichkeiten seien ausgeschöpft. Wir haben einen Brief geschrieben, den wir zum Oberlandesgericht schicken wollen. Wir möchten den Richtern zeigen, was sie mit uns arbeitender Bevölkerung machen. Was sie uns zumuten. Wir wollen informieren und mitteilen, dass keine der Pflegenden gefragt worden ist. Aber wir dürfen den Brief nach Meinung der kaufmännischen Leitung unseres Hauses nicht an diejenigen Richter schicken, die uns in diese Situation gebracht haben. Nur an das Amtsgericht, das ja den Ernährungsabbruch abgelehnt hatte, sollen wir schreiben dürfen. Übrigens hatte der Amtsrichter damals in seiner Begründung geschrieben, dass auch finanzielle Motive der Angehörigen nicht auszuschließen sind.

BIOSKOP: Wie geht es jetzt weiter?

SIBYLLE MEIER: Wir können nur hingehen und alles Gute für Frau X. tun. Ihr Duftöl geben, den Mund mehr reinigen als sonst. Sie kriegt auch nachts das Fernsehen eingeschaltet, denn sie ist wacher, wenn sie keine Nahrung zu sich nimmt. Wir versuchen sie schmerzfrei zu halten. Aber nicht mal dazu haben wir die Möglichkeit, denn der Neurologe will erst mit der Tochter sprechen. Bislang bekommt Frau X. keine Schmerzmittel. So was wünsche ich niemandem, das mitzumachen. Niemandem.

© Erika Feyerabend, 2007
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