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»Wir sammeln Hirne«

Beim 7. Weltkongress für Biologische Psychiatrie, der im Juli 2001 in Berlin stattfand, zog Peter Falkai, beschäftigt damals an der Bonner Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, zufrieden Bilanz: Im Rahmen des vom Bundesforschungsministerium bis Juli 2011 geförderten »Brain-Net« seien bis dato 340 Hirne in die kooperierenden Universitäten geliefert worden. »Allein in Bonn«, so Falkai, »sammeln wir fünf bis zehn Hirne pro Monat«, klinische Dokumentation und Familiengeschichte inklusive.




ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin und FABIAN KRÖGER, Kulturwissenschaftler

Im Netz der molekularen Vernunft

  • Konzertiert und mit Steuergeldern konstruieren Forscher genetische Erklärungen für abweichendes Verhalten

aus: BIOSKOP Nr. 15, September 2001, Seiten 8-10

Berlin war im Juli Schauplatz des »7. Weltkongresses für Biologische Psychiatrie«. Als selbstverständlich galten dort molekularbiologische und genetische Entwürfe von Schizophrenie, Depression, Angst und Alkoholismus. Sind das nur Positionen wissenschaftlicher Außenseiter? Wer studiert, welche Forschungsprojekte hierzulande mit Steuergeldern gefördert werden, gewinnt einen anderen Eindruck.

Psychiatrie und medizinische Wissenschaften halten schon seit langem einen Monolog über die »Geisteskrankheiten«. In Fachbegriffen und mit unterschiedlichsten Methoden wurde der Wahnsinn zum Gegenüber der Vernunft. In Kerkern und Anstalten wurden die so genannten »Irren« dem öffentlichen Blick entzogen und der wissenschaftlich-rationalen Beobachtung zugänglich. In den verzweigten Räumen des Wissens, von der Anthropologie, der Anatomie bis zur Psychiatrie und Physiologie, nahmen Experten Geist und »Geisteskrankheit« in den Griff – und lokalisierten sie im Gehirn.

Die Vorherrschaft des Gehirns ist geblieben, die Methoden und dominierenden Wissenschaften haben sich gewandelt. Heute sollen wir uns irgendwo zwischen Hirnbildern, genetisch bestimmten Hirnstörungen und Hirntod als Subjekte ansiedeln. Die Neurowissenschaften und das molekulare Methodenrepertoire sind eindeutig auf dem Vormarsch.

  • Biologische Psychiatrie im Aufwind

Rund 6.000 Menschen nahmen Anfang Juli am »7. Weltkongress für Biologische Psychiatrie« teil, zu dem die World Federation of Societies of Biological Psychiatry und die Deutsche Gesellschaft für Biologische Psychiatrie nach Berlin geladen hatten. Der Präsident des Kongresses, der Münchner Psychiater Hans-Jürgen Möller, entwarf das Szenario einer »neuen Klassifikation psychiatrischer Krankheiten … die im großen Maße auf molekulargenetischen Ursachenbestimmungen und anderen biologischen Urteilen beruhen könnte«. Die Organisatoren des Kongresses zeigten sich davon überzeugt, dass die »Alkoholabhängigkeit zu etwa 50-60 Prozent genetisch determiniert« sei, auch wenn noch gänzlich unklar ist, »welche Gene oder Genkombinationen im einzelnen an der Entstehung der Suchtkrankheiten beteiligt sind«.

Molekulargenetische Hintergründe für Schizophrenie, Depression, Angstzustände und Nikotinsucht sind biologischen Psychiatern ein – mit der Zugehörigkeit zur Institution der Wissenschaft ausgestatteter – Glaubenssatz. Daniel R. Weinberger, der Vorsitzende des wissenschaftlichen Kongress-Komitees und Direktor der Abteilung für Hirnstörungen am Nationalen Gesundheitsinstitut (NIH) der USA, leitete gar die Fähigkeiten der Menschen »abstrakt zu denken und strategisch voranzugehen«, aus den Genen ab.

  • Der Verbund der »Hirnbanken«

Das enorme Ausbreitungspotenzial derartiger molekulargenetischer »Wahrheiten« ist aber nicht nur für schlichte Gemüter attraktiv; es lockt auch Wissenschaftler auf der Suche nach Arbeit, Fördermittel und Ruhm. Denn mehr als Antworten entstehen ja Fragen, und die können in unzähligen Forschungsprojekten bearbeitet werden – vorausgesetzt, es finden sich Geldgeber. Außerdem lassen die molekularen Ursachenbehauptungen Raum für die Konzentration auf rein pharmakologische »Lösungen« und gendiagnostische »Risiko«-Ermittlungen. Das ist für Pharmaunternehmen interessant; zu den Sponsoren der bio-psychiatrischen Präsentation in Berlin gehörten denn auch Firmen wie Pfizer, Eli Lilly, Novartis oder AstraZeneca.

Seit Oktober 1999 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein so genanntes Brain-Net (Hirn-Netz). Acht universitäre Hirnbank-Zentren kooperieren im neuen Verbund, um »neurologisch psychiatrische Krankheiten nach pathologischen und genetischen Kriterien (zu) diagnostizieren«. Als Zentrale fungiert das Institut für Neuropathologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Dort sorgt man mit einem »24 Stunden-Autopsie-Management« für den reibungslosen Transport von Leichen, Gehirnen und Gewebe zum nächstgelegenen Hirnbank-Zentrum.

Die Zentren sind »themenspezifisch ausgerichtet«. In Bonn werden vor allem die Gehirne von Menschen mit Depression oder Epilepsie gesammelt und beforscht. In Magdeburg ist bereits »eine umfangreiche Sammlung von Gehirnen psychiatrischer Patienten und … unauffälliger Kontrollfälle« vorhanden, die im Rahmen des Brain-Net erweitert wird, mit dem Schwerpunkt »Schizophrenie«. In Würzburg interessieren die Gehirne von Süchtigen, und in München arbeitet man an Demenz-Hirnen. Das Zentrum in Münster ist auf den plötzlichen Kindstod konzentriert und Ende 1999 mit Autopsien ohne Wissen und Einwilligung der Eltern aufgefallen. In den beteiligten Kliniken wird nicht nur nach Genen, sondern nach molekularen Prozessen und Stoffen aller Art Ausschau gehalten. Die Mitarbeit des Humangenetischen Institutes in Gießen, das »genetische Spezialdiagnostik« anbietet, sorgt für molekulargenetische Interpretationen.

  • Verzahnung ist Trumpf

Das Brain-Net steht nicht allein. Es ist Teil einer Initiative des BMBF, die Klinik und Forschung verzahnen will. Bis 2002 werden mit 8,5 Millionen DM so genannte Kompetenz-Netzwerke für Schizophrenie, Depression und Parkinson gefördert, vom BMBF, von Janssen Cilag, Lilly und anderen. Initiator und Koordinator des Kompetenz-Netzwerkes Schizophrenie ist neben Hans-Jürgen Möller, dem Präsidenten des Berliner Kongresses für Biologische Psychiatrie, auch der Präsident der gleichnamigen deutschen Gesellschaft, Professor Wolfgang Gaebel von der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf. Als »gesichert« gilt im Kompetenz-Netzwerk, »dass eine genetische Disposition zur Erkrankung beiträgt, wobei mehrere bisher nicht identifizierte Gene eine Rolle spielen«. Die Experten haben sich vorerst auf einen Anteil von 50 Prozent geeinigt. Das lässt genügend Raum für Forschungsvorhaben verschiedenster Ausrichtung, vermeidet aber gleichzeitig den Vorwurf molekulargenetischer Dominanz.

Am Netzwerk beteiligt sind 16 psychiatrische Universitätskliniken, 5 Kinder- und jugendpsychiatrische Universitätskliniken, 14 Landes-, Bezirks-, und Fachkrankenhäuser sowie 6 nervenärztliche und allgemeinärztliche Praxenverbünde. Gesichert ist so der permanente Zugriff auf psychiatrisierte und ambulant behandelte, auf klassifizierte und vage verdächtigte Menschen.

  • Die totale Prävention

Eine Hälfte des Vorhabens gehört der molekularen Vernunft – komprimiert in Gestalt eines Projektverbundes Molekular- und Pharmakogenetik. In diesem Forschungsraum werden in Bonn und München Ressourcenzentren für DNA und Zelllinien aufgebaut, von PatientInnen, die an den Therapie- und Verlaufsstudien des Netzwerkes teilnehmen. Projektziele sind die Konstruktion molekulargenetischer Erklärungen für Schizophrene, für Therapieversager sowie für Medikamentenempfindliche. So werden »Risikopersonen« gemacht und neue Arzneimittelstudien begründet. Die wertvollen Substanzsammlungen sollen auch außerhalb des Netzwerkes genutzt werden – zum Beispiel für das Human-Genomprojekt.

Das Netzwerk ist ein weites Feld des Wissenstransfers zwischen »Forschung und Versorgung«. Neben den erwähnten »Hirnbanken« und dem genetischen Projektverbund bietet es »Früherkennung« und Prävention (Projektverbund I), »innovative Behandlungsansätze« und »Rehabilitation« (Projektverbund II). Was sich wie ein breit gefächertes und vielfältiges Angebot anhört, das verschiedene Behandlungsformen fördert, ist faktisch ein Projekt finaler Erfassung. Die Zukunftsvision im Kompetenznetz: In so genannten Vorfeldeinrichtungen – gemeint sind Schulen, Erziehungsberatung oder Praxis des Hausarztes – sollen mehr oder weniger systematisch Screening-Bögen verteilt werden, um psychiatrisch verdächtige SchülerInnen oder Erwachsene dingfest zu machen. Auffällige Ergebnisse oder ungewöhnliches Verhalten leiten geradewegs in Früherkennungszentren weiter. Dort werden weitere Interviews geführt, familiäre Belastungen errechnet und Hirnstrukturen visualisiert. All das führt auch zu enormen Datenmengen, zu Risikoindikatoren und zur »gefährdeten Person«.

Dann folgt die Intervention – die psychologische, die pharmakologische. Flankierende Maßnahmen kommen aus dem Bereich der Molekulargenetik und der neurobiologischen Grundlagenforschung. Ein »bio-psycho-sozio-Modell«, das keine Unverdächtigen mehr kennt. Und sich auch ökonomisch rechnen soll, denn: Schizophrenie gilt den Architekten des Netzwerkes als »teuerste psychische Erkrankung«, vergleichbar mit Diabetes und Herzleiden.

Das parallel aufgebaute »Kompetenznetz Depression« ist nach gleichem Muster entworfen. Sinnfällig wird die anvisierte Psychiatrisierung und Molekularbiologisierung der gesamten Gesellschaft in der bildlich dargestellten Kompetenznetz-Struktur. Eine stilisierte, depressiv erscheinende Person steht im Fadenkreuz , das aus Forschungseinrichtungen, Universitätskliniken, Pharmaindustrie, Haus- und Fachärzten, psychosomatischen Kliniken, Instituten für Statistik und Didaktik, Krankenkassen und Selbsthilfegruppen besteht.

Durch »die ganze europäische Kultur hindurch«, so die Analyse des französischen Philosophen Michel Foucault, habe »die Vernunft dem, was sie nicht ist, das Maß der eigenen Maßlosigkeit gegenübergestellt«. Das kann deutlicher nicht werden.

© Erika Feyerabend / Fabian Kröger, 2001
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