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»Bekannt« – aber nicht identifiziert

»Zwar ist bekannt, dass ca. 80 % der seltenen Erkrankungen genetischen Ursprungs sind oder dass genetische Risikofaktoren vorliegen. Für viele der Erkrankungen sind die betroffenen Gene allerdings noch nicht identifiziert.«

aus dem Aufsatz »Gesundheitsforschung – Forschung für den Menschen: Einrichtung von Netzwerken zu seltenen Erkrankungen«, veröffentlicht im März 2003 in der Zeitschrift Medizinische Genetik, S. 22-26. Autorin Birgit Wetterauer managt im Auftrag des Bundesforschungsminsteriums das Netzwerk-Förderprogramm.



KLAUS-PETER GÖRLITZER, Journalist, redaktionell verantwortlich für BIOSKOP

Herausforderung für Genforscher

  • Zehn neue »Netzwerke zu seltenen Erkrankungen« erfassen PatientInnen und ihre Körpersubstanzen

aus: BIOSKOP Nr. 24, Dezember 2003, Seiten 8+9

Ohne großes Aufsehen hat das Bundesforschungsministerium zehn »Netzwerke zu seltenen Erkrankungen« etabliert. Zunächst sollen möglichst viele PatientInnen und Körpersubstanzen erfasst, »Krankheitsgene« identifiziert, die Zusammenarbeit von ForscherInnen verbessert und klinische Studien angeregt werden. Verheißen werden Gentherapien und neue Gentech-Medikamente – vorausgesetzt, viele Kranke machen mit.

In Europa gilt eine Erkrankung definitionsgemäß als »selten«, wenn sie weniger als 5 von 10.000 Menschen im Laufe ihres Lebens trifft. “Über 7.000« solcher seltenen Erkrankungen mit »mehreren Millionen Betroffenen« in Deutschland gebe es, schreibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) auf seiner Homepage – und fügt hinzu: »Ihre häufigste Ursache sind Fehler im Erbgut.«

Auf welchen Quellen diese als “Daten und Fakten« präsentierten Behauptungen beruhen, verrät das BMBF nicht. Fakt ist aber, dass das Ministerium »was tut«: Es zahlt bis 2008 insgesamt 25 Millionen Euro für zehn »Netzwerke zu seltenen Erkrankungen«, die mindestens drei, maximal fünf Jahre gefördert werden können. Eine »international besetzte Jury« hatte aus 56 beantragten Projekten zehn Gruppen seltener Erkrankungen ausgewählt, die allesamt genetische Ursachen haben sollen.

Als erstes Netzwerk startete im Frühjahr 2003 das »MD-Net«. Laut BMBF »bündelt es Kompetenzen aus ganz Deutschland« zu Muskeldystrophien (MD), deren gemeinsames Kennzeichen fortschreitende Muskelschwäche ist; betroffen seien, so Schätzungen, zwischen 26.000 und 40.000 Menschen hierzulande. »Aufgrund der ständig wachsenden Anzahl von derzeit ca. 30 verschiedenen Genorten«, heißt es in der Netzwerkbeschreibung, “wird es auch für Experten zunehmend schwierig, alle Formen der MD zu unterscheiden.« Ziel sei daher, »eine umfassende molekulare Diagnostik für die derzeit bekannten Genorte« zu etablieren und außerdem »bislang unbekannte MD-Gene« zu identifizieren.

»Es muss eine 50-prozentige Rekrutierung der betroffenen Patienten sichergestellt werden.«

Als »Servicestruktur« baut die Universität München im Rahmen des MD-Nets eine Muskelzellbank auf, in der Gewebe und Zellen von MD-PatientInnen aufbewahrt und für Studienzwecke zur Verfügung gestellt werden. »Zentrale Einheit zur Sequenzierung von Genen für neuromuskuläre Erkrankungen« ist die Uni Würzburg. Als »Koordinierungszentrum für klinische Studien bei Muskeldystrophien« fungiert die Uni Freiburg.

»Wir wollen es mit Kompetenznetzwerken schaffen, dass mindestens fünfzig Prozent der Betroffenen in Deutschland an klinischen Studien teilnehmen«, sagt der MD-Net-Koordinator Hanns Lochmüller, der als Professor für Molekulare Neurogenetik an der Münchner Uni arbeitet. Die massenhafte Erfassung würde realisieren, was die Förderrichtlinien des BMBF verlangen: »Über das Netz muss eine 50-%ige Rekrutierung der in Deutschland von den jeweiligen Erkrankungen betroffenen Patienten sichergestellt werden.«

Allerdings ist mit molekulargenetischen Therapiemethoden, die seit Anfang der neunziger Jahre am Menschen weltweit ausprobiert werden, bisher noch niemand geheilt worden.

Zweck der Versuche mit Menschen sei die »Verbesserung der Patientenversorgung«, heißt es in der MD-Net-Beschreibung. Inzwischen läuft die erste klinische Studie im Rahmen des Netzes: Münchner ForscherInnen testen an mindestens 35 PatientInnen den Wirkstoff Deflazacort, der zu den Corticosteoriden gehört.

Lochmüller selbst kümmert sich im Rahmen des MD-Nets um sein persönliches Steckenpferd, das er seit Jahren beharrlich verfolgt: die Erforschung der »somatischen Gentherapie« bei Muskeldystrophie Duchenne. Allerdings ist mit molekulargenetischen Therapiemethoden, die seit Anfang der neunziger Jahre am Menschen weltweit ausprobiert werden, bisher noch niemand geheilt worden; auch die 45 Millionen Euro, die das BMBF seit 1995 in Entwicklung von Gentherapien gesteckt hat, konnten bisher keinem Patienten helfen.

Ein Teilprojekt des MD-Nets widmet sich »populationsgenetischen Aspekten«. Leiter ist der Würzburger Professor Tiemo Grimm, der durch seine Verwicklung in den Eisinger Fall (Siehe BIOSKOP Nr. 8-13) bundesweit bekannt geworden war. »Die Häufigkeit von Muskeldystrophien in unserer Bevölkerung« sei, so Humangenetiker Grimm, »aus sozial- und gesundheitspolitischer Sicht von einiger Bedeutung«. Mittels molekularer Diagnostik böten sich »bessere Möglichkeiten der Schätzung für die deutsche Bevölkerung«; und auch die Mutationsraten seien “von großer Bedeutung in der täglichen humangenetischen Beratung von Familien«. Grimm gibt sein Wissen gern weiter, bei Workshops zum Thema »Risikoberechnung in Familien« doziert er regelmäßig vor MedizinerInnen und BiologInnen.

Ähnliche Methoden und Ziele wie MD-Net verfolgen die neun weiteren »Netzwerke zu seltenen Erkrankungen«, die Mitte 2003 angelaufen sind. Ob bei »angeborenen Störungen der Blutbildung«, »erblichen Bewegungsstörungen« oder »genetisch bedingten Hauterkrankungen« – stets geht es zunächst darum, möglichst viele PatientInnen und Körpersubstanzen zu erfassen, das »biologische Material« molekulargenetisch zu analysieren und Betroffene zur Teilnahme an klinischen Studien zu motivieren.

Die BMBF-Förderrichtlinien verlangen ausdrücklich die Einbindung von Selbsthilfeorganisationen

Die BMBF-Förderrichtlinien verlangen ausdrücklich die Einbindung von Selbsthilfeorganisationen. Im SKELNET, das erbliche Skeletterkrankungen erforscht, wird dies besonders augenfällig: Erprobt wird dort ein »kooperativer Ansatz von Selbsthilfegruppen und Fachleuten zum Verständnis und zur Versorgung von Skelettdysplasien« (Gewebsdefekte), Ansprechpartner ist der Geschäftsführer des in Bremen beheimateten Bundesverbandes Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien (BKMF), Karl-Heinz Klingebiel.

Der BKMF ist auch Mitglied von Eurordis, einer in Paris ansässigen »Europäischen Organisation für Seltene Erkrankungen«. Laut Selbstdarstellung handelt es sich um eine Koalition von PatientInnenverbänden, die – mittels Lobbying bei EU-Institutionen – erreichen möchte, dass die »Lebensqualität« von Menschen mit seltenen Erkrankungen verbessert wird. Aus Deutschland dabei ist auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte, die über achtzig Verbände mit mehr als 850.000 Mitgliedern repräsentiert.

Eurordis sieht es als »unsere Mission« an, klinische Forschung zu promoten und die Entwicklung von Therpaien und Medikamenten gegen seltene Erkrankungen zu stimulieren. Gefördert aus EU-Mitteln, startet Eurordis nun ihr größtes Projekt: die »EuroBioBank«. Der Begriff meint ein Netzwerk aus Sammlungen von 150.000 Proben von Geweben, DNA und Zellkulturen. Verknüpft werden sollen zwölf Biomaterial-Banken aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Malta, Slowenien, Spanien und Ungarn. Für dieses Projekt werben soll vor allem eine spezielle Website im Internet, die derzeit aufgebaut wird.

Kranken wird angeboten, sich im Internet für die Teilnahme an einer klinischen Studie zu bewerben.

Präsenz im virtuellen Raum soll nicht nur PatientInnen direkt ansprechen, sie dient auch dazu, ForscherInnen und Firmen das Geschäft zu erleichtern. Wie das funktioniert, macht eine Datenbank namens »Orphanet« vor, die seit 1998 von Paris aus online betrieben wird. www.orpha.net präsentiert sich als Informationszentrale für seltene Erkrankungen. Das Internetportal bietet in mehreren Sprachen Beschreibungen und Artikel zu Krankheitsbildern; es listet Gentests auf, empfiehlt bestimmte Medikamente und informiert über Forschungsprojekte und klinische Versuche. Neben PatientInnengruppen stellen sich auch Labors und Kliniken dar. So können sie für ihre Leistungen in einem glaubwürdigen Ambiente werben – und mit geringem Aufwand Menschen, Materialien und Adressen rekrutieren: PatientInnen und ihren gesetzlichen VertreterInnen wird angeboten, online ein Formular auszufüllen, mit dem sie sich für die Teilnahme an einer klinischen Studie bewerben.

Inzwischen existiert auch ein deutscher Ableger des Orphanets, Koordinator ist der Humangenetikprofessor Jörg Schmidtke von der Medizinischen Hochschule Hannover. Noch ist das Angebot beschränkter als das französische Vorbild, und Funktionen zur Registrierung surfender PatientInnen soll es auf den deutschen Internetseiten vorerst nicht geben. Dessen ungeachtet, empfiehlt der Koordinator sein Projekt schon mal als Pflichtlektüre für MedizinerInnen: »‘Orphanet’«, schrieb Schmidtke im September im Deutschen Ärzteblatt, »stellt die einzige Datenquelle dar, mit der der Arzt den diagnostischen Ansprüchen von Patienten mit seltenen Krankheiten vollständig gerecht werden kann.«

© Klaus-Peter Görlitzer, 2003
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