»Sterben ist immer unerwartet«
Im BIOSKOP-Interview: INGE KUNZ, Sozialpädagogin, Vorsitzende der Hospizvereinigung OMEGA – Mit dem Sterben leben
»Sterben ist immer unerwartet«
- Ein Gespräch über Erfahrungen und Einstellungen von Hospiz-MitarbeiterInnen, die todkranke Menschen begleiten
aus: BIOSKOP Nr. 18, Juni 2002, Seite 5
Stimmen Ergebnisse von Meinungsumfragen, so wünschen immer mehr Menschen einen geplanten, »selbst bestimmten« Tod. Wie denken MitarbeiterInnen von Hospizen über »Sterbehilfe« und »Patientenverfügungen«? Im _BIOSKOP_-Interview gibt Inge Kunz einen Einblick. Die Sozialpädagogin ist langjährige Hospiz-Mitarbeiterin in Bocholt und Bundesvorsitzende der Hospizvereinigung OMEGA – Mit dem Sterben leben e.V. Die Fragen stellte Erika Feyerabend.
BIOSKOP: Sind Behandlungsabbruch und Euthanasie in der Hospizwelt ein Thema?
INGE KUNZ: Weit verbreitet ist die Haltung: Aktive Sterbehilfe kommt bei uns nicht vor, deshalb brauchen wir darüber nicht nachdenken. Gepaart mit einer gefahrvollen Vorstellung von einem »idealen Sterbeprozess«, sanft, schmerzfrei, ohne Qualen, wird der Behandlungsabbruch aber durchaus erwogen.
BIOSKOP: Die künstliche Ernährung ist umstritten. Es gibt PatientInnen, die fürchten, zwangsernährt zu werden. Ist das berechtigt?
INGE KUNZ: Die künstliche Ernährung sollte man unter den Bedingungen der Institution diskutieren. Es reicht nicht aus, nur die punktuelle Entscheidung zum Abbruch zu thematisieren. Oft kriegen auch Menschen, die schlucken können, die Sonde, weil so die Pflege »rationeller« und billiger wird.
»Nicht ‘Übertherapie‹, sondern pflegerische Unterversorgung ist häufig das Problem.«
BIOSKOP: Kann in einer solchen Situation eine Patientenverfügung Abhilfe schaffen?
INGE KUNZ: Vor kurzem habe ich erlebt, wie ein Parkinson-Patient eine Sonde bekam – nicht, weil er nicht mehr schlucken konnte, sondern damit man ihm die vielen Medikamente problemlos verabreichen kann. Der Betroffene hatte eine Sonde per Patientenverfügung abgelehnt. Rechtssicherheit ist eine Illusion, in diesem Fall sogar, wenn man noch für sich selbst sprechen kann. Die Zustimmung wurde ihm durch intensive Überredung regelrecht abgerungen. Nicht »Übertherapie« durch Mediziner, sondern pflegerische Unterversorgung ist häufig das Problem.
BIOSKOP: Warum wird dieser Illusion denn trotzdem gern geglaubt, auch in Hospizkreisen?
INGE KUNZ: Das schwierigste bei der Begleitung ist das Aushalten. Gerade bei dem Gestaltungs- und Aktivitätsstil, der unserer Gegenwart zu eigen ist. Der Behandlungsabbruch erscheint vielen so attraktiv, weil so doch etwas zu machen ist, eben indem eine Entscheidung getroffen wird. Auch gibt es Situationen, die BegleiterInnen als furchtbar empfinden. Hier gilt es, Distanz zu wahren, zu versachlichen. Das aber entspricht oft nicht ihrem Selbstbild. Extrem gesprochen, kann dies zum tödlichen Mitleid werden.
»Fragen stellen, zu hinterfragen, das ist wichtig. Was ist ‘unheilbar’, ‘austherapiert’? Was ist ein unumkehrbarer Sterbeprozess?«
BIOSKOP: Welche Rolle spielen die Angehörigen?
INGE KUNZ: Sie sind oft überfordert. Das ist mehr als verständlich. Gerade weil das so ist, ist Vorsicht geboten, wenn sie den »Willen« des Betroffenen mutmaßen sollen, wenn sie entscheiden sollen zwischen Pflege und Behandlungsabbruch. Statt sie zu Stellvertretern zu machen, sollten Hospiz-MitarbeiterInnen die schwierige Lage der Angehörigen sehen und tolerieren, aber auch die Schwerstkranken schützen. Wenn es sein muss, auch vor den Angehörigen. Und sie sollten auch die gesellschaftlichen Dimensionen der Diskussion über Patientenverfügungen kennen.
BIOSKOP: Prognosen sind ausdeutbar. Gibt es wenigstens im Sterben Eindeutigkeiten?
INGE KUNZ: Nein, unsere Erfahrung ist das nicht. Vor kurzem lachte und scherzte einer der Betreuten noch, dann verstarb er total plötzlich. Um Weihnachten haben wir einen Tumorpatienten viereinhalb Wochen begleitet. Es gab Nächte, in denen wir gesagt haben, so, jetzt ist es so weit. Wir haben die Ehefrau geweckt. Wider aller Erwartung erholte sich ihr Mann, konnte laufen und seine Bankgeschäfte regeln. Schließlich lebte er über acht Wochen länger als vorher vermutet wurde.
BIOSKOP: Der Tod ist also doch nicht in den Griff zu kriegen?
INGE KUNZ: Sterben ist immer unerwartet. Wie soll man darüber informieren? Fragen stellen, zu hinterfragen, das ist wichtig. Was ist »unheilbar«, »austherapiert«? Was ist ein unumkehrbarer Sterbeprozess? Und: Gibt es überhaupt Sicherheiten im Sterben wie im Leben?
© Inge Kunz / Erika Feyerabend, 2002
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