Das Problem der Verantwortung
»Wie häufig erleben wir die Situation, dass jemand seinen Elternteil vom Altenheim ins Krankenhaus bringt mit typischer Konstellation: schluckt schlecht, trinkt schlecht, ist ausgetrocknet, hat eine Lungenentzündung. Das ist die typische Situation von einem schlecht geführten Altenheim. Therapie: Flüssigkeit und Antibiotikum. In einer Woche ist er wieder entlassbar.
Da kommt ein Angehöriger, der sagt: Hier gibt es eine Patientenverfügung, bitte keine lebensverlängernden Maßnahmen. Dann frage ich: Warum bringen Sie dann Ihre Mutter? Glauben Sie, ich übernehme die Verantwortung? Da sehen Sie das Problem – und zwar das der Verantwortung. Wir sind nicht alleine auf der Welt.
Es hat keinen Sinn, eine Patientenverfügung zu schreiben, wenn nicht mein Umfeld, das mich pflegt, mich betreut, mit dem ich wohne, bereit ist, beispielsweise mein Sterben zu Hause zu begleiten.«
aus einem Vortrag des Arztes Paolo Bavastro, gehalten am 19. Oktober 2002 bei der BioSkop-Tagung »Planungssicherheit am Lebensende?«. Eine Dokumentation der Veranstaltung kann man bei BioSkop bestellen.
In der Praxis gescheitert
KLAUS-PETER GÖRLITZER, Journalist und redaktionell verantwortlich für BIOSKOP
In der Praxis gescheitert
- US-amerikanische BioethikerInnen haben Effekte von Patientenverfügungen eingehend untersucht
aus: BIOSKOP Nr. 29, März 2005, Seite 9
Die USA sind bekannt als Vorreiterstaat in Sachen Patientenverfügungen. Die Schriftstücke, mit denen Menschen vorsorglich erklären, im Falle ihrer Nichteinwilligungsfähigkeit auf medizinische Behandlung verzichten zu wollen, sind in den Vereinigten Staaten seit über 20 Jahren im Umlauf. Die Effekte haben US-BioetikerInnen nun untersucht. Ihr Fazit: »Die Patientenverfügung ist gescheitert. Und es ist Zeit, dies zu sagen.«
Als Mentor gilt der Chikagoer Rechtsanwalt Luis Kutner. Schon Ende der 1960-er Jahre plädierte er dafür, Patientenverfügungen (»living wills«) rechtsverbindlich zu machen. Zustimmung erntete er vor allem in der Euthanasie-Lobby: Organisationen wie »Society for the Right to Die« und »Concern for Dying« warben für Kutners Idee, und schon bald konnten sie den ersten Erfolg feiern: 1976 beschloss Kalifornien den »Natural Death Act«, der Patientenverfügungen gesetzlich anerkannte. Andere US-Bundesstaaten zogen nach, und im Dezember 1991 kam der landesweite Durchbruch: In Kraft trat der »Patient Self-Determination Act« (PSDA). Das Gesetz betrifft alle Klinken, Pflegeeinrichtungen und Hospize, die staatlich gefördert werden. Sie sind seitdem verpflichtet, Kranken zu erklären, wozu Patientenverfügungen und Bevollmächtigte in Gesundheitsangelegenheiten nützlich sein sollen.
Auf dieser Basis folgern sie, dass die Papiere gar nicht einlösen können, was die »Selbstbestimmungs«-Propaganda verheißt.
Die Werbekampagnen verschlingen Zeit und Geld; der Bioethiker Jeremy Sugarman schätzt, dass die Vorgaben des PSDA die US-Kliniken bereits Anfang der 1990-er über 100 Millionen Dollar gekostet haben. Was dabei heraus gekommen ist, haben zwei ForscherInnen aus Michigan untersucht. Ihre Ergebnisse bilanzierten Angela Fagerlin und Carl E. Schneider im März 2004 in einem Aufsatz für der Fachzeitschrift Hastings Center Report, die Quintessenz steht schon in der Überschrift: »Genug. Das Scheitern der Patientenverfügung«.
Die AutorInnen, erklärtermaßen keine GegnerInnen vorab verfügter Lebensbeendigung, haben über 100 Studien zum praktischen Umgang mit Patientenverfügungen ausgewertet. Auf dieser Basis folgern sie, dass die Papiere gar nicht einlösen können, was die »Selbstbestimmungs”-Propaganda verheißt.
Etliche Studien hätten jedoch nachgewiesen, dass Meinungen zu lebenserhaltenden Therapien schwanken können.
Rund 18 Prozent der US-BürgerInnen sollen eine Patientenverfügung geschrieben haben – eine Zahl, die Fagerlin und Schneider angesichts des enormen Werbeaufwands niedrig finden. Wenn sie nicht mehr selbst entscheiden können, würden sich die meisten lieber auf Angehörige und ÄrztInnen verlassen. Die AutorInnen halten es für kaum möglich, im Vorhinein festzulegen, welche unbekannten Behandlungsalternativen zu unbekannten Krankheiten man später in Anspruch nehmen möchte oder nicht; in der Regel hätten PatientInnen nur wenig medizinische Kenntnisse. Für ungeeignet halten die BioethikerInnen Standard-Formulare, weil deren Sprache und Funktion für viele Menschen schlicht unverständlich sei.
Patientenverfügungen sollen einen verlässlichen Willen bezeugen. Etliche Studien hätten jedoch nachgewiesen, dass Meinungen zu lebenserhaltenden Therapien schwanken können. Für die Wahrscheinlichkeit von Sinneswandeln spreche auch, dass nur jeder Zehnte, der einen Selbsttötungsversuch überlebt habe, binnen zehn Jahren einen weiteren starte.
Fagerlin und Schneider fordern, die Werbekampagnen für Patientenverfügungen zu beenden.
Keine Belege haben die ForscherInnen dafür gefunden, dass Patientenverfügungen ÄrztInnen und Kranke stimulieren könnten, sich frühzeitig und ernsthaft über Therapiealternativen bei tödlichen Krankheiten zu unterhalten. MedizinerInnen äußerten sich in der Regel vage, die durchschnittliche Gesprächsdauer liege bei fünf Minuten.
Den Praxistest, schließen Fagerlin und Schneider, hätten Patientenverfügungen nicht bestanden. Sie fordern daher, die aufwändigen Werbekampagnen zu beenden. Als Alternative empfehlen sie den US-BürgerInnen, Vorsorgevollmachten auszufüllen, also Vertraute zu ermächtigen, stellvertretend für sie zu entscheiden, wenn sie dies selbst nicht mehr können. Dieser Weg sei zwar keine Garantie für die spätere Befolgung persönlicher Wünsche, könne aber dabei helfen.
© Klaus-Peter Görlitzer, 2005
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