BioSkop unterstützen! Kontakt Über uns

Solidarität in Frage gestellt

»Die Diskussion um Patientenverfügungen ist verbunden mit der Diskussion um lebenswertes Leben im hohen Alter und bei schwerer und chronischer Krankheit. Es ist gerade ein Zeichen einer solidarischen und kulturell reichen Gesellschaft, dass sie allen Menschen ein Lebensrecht zuspricht und jenen einen besonderen gesellschaftlichen Wert zuordnet, die Menschen in Grenzsituationen ihres Lebens begleiten, wie etwa Angehörige, Pflegende und freiwillig Tätige.

Patientenverfügungen stehen in der Gefahr, dass in der Bevölkerung mit bestimmten Krankheitsbildern Vorstellungen von lebensunwertem Leben assoziiert werden. Damit verstellen sie den Blick auf ein Leben, dem unter anderen Vorzeichen durchaus Lebenswert innewohnt. Die Offenheit des Menschen für eine andere Art des Seins wird durch die Propagierung von Patientenverfügungen ebenso in Frage gestellt wie die Solidarität der Gesellschaft mit denen, die ihr Leben trotz der schweren Krankheiten und Behinderungen leben wollen.«

aus dem »Appell: Cave Patientenverfügungen!«, adressiert an den Bundestag. Wer den Freiburger Appell unterstützen möchte, findet den Wortlaut auf der Homepage von Professor Christoph Student



THOMAS KLIE, Professor für Öffentliches Recht an der ev. Hochschule Freiburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie

Ein säkulares Ritual?

  • Patientenverfügungen sollten nicht geregelt werden

aus: BIOSKOP Nr. 41, März 2008, Seiten 12+13

Noch in dieser Legislaturperiode soll der Deutsche Bundestag entscheiden, ob Patientenverfügungen per Gesetz verbindlich gemacht werden sollen oder nicht. Thomas Klie, Jurist und Mitverfasser des Freiburger Appells Cave – Patientenverfügungen!, rät davon ab.

Es ist vernünftig, auch rechtlich Vorsorge zu treffen – für den Fall, dass ich einmal nicht mehr selbst entscheiden kann. Führt man sich die rechtliche Situation vor Augen, so drängt sich rechtliche Vorsorge als persönliches Muß geradezu auf: sind doch etwa nahe Angehörige gar nicht berechtigt, für mich zu entscheiden und auch Ärzte darauf verwiesen, sich an meinem Willen zu orientieren. Eine Patientenverfügung, verbunden mit einer Vorsorgevollmacht, die einen Vertrauten zur Vertretung meiner Interessen bestimmt, verschafft entsprechende Legitimität. Auch die Bilder von Wachkoma-Patienten, Schilderungen von in der Sterbephase wiederbelebten und per Schlauch beatmeten Kranken, legen es nahe, sich mit dem Thema »Patientenverfügung« konstruktiv auseinanderzusetzen. Entsprechend sehen inzwischen mehrere europäische Rechtsordnungen Regelungen zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen vor, so etwa in Österreich, Dänemark, Großbritannien, Belgien und den Niederlanden. Allerdings sind sie in ihrer Ausgestaltung durchaus unterschiedlich.

Das was nahe liegt, das was im Trend der Zeit liegt – nämlich die Selbstbestimmung und Autonomie bis zum Lebensende zu verteidigen, wird von etwa zehn Prozent der Bevölkerung genutzt. Das besagen jedenfalls die (neuen) Zahlen, vorgelegt vom Erlanger Psychogerontologen Frieder Lang. Hört man genauer hin, dürften es nur 2,5 Prozent der Bevölkerung sein, die tatsächlich eine Patientenverfügung unterzeichnet haben. Die Bereitschaft, derartige Willenserklärungen zu verfassen, steigt – insbesondere bei älteren Menschen.

Was allzu vernünftig erscheint, was sich für einen aufgeklärten Menschen gehört, ist möglicherweise gar nicht so »rational« wie es scheint.

Der Bundestag hat sich in einer seiner so genannten »Sternstunden« im April 2007 parteiübergreifend und kontrovers mit Patientenverfügungen und deren Reichweite auseinander gesetzt. Nach Österreich _(Siehe BIOSKOP Nr. 34 ist nun auch für Deutschland ein Gesetz zu erwarten, das die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen regelt.

Im Freiburger »Appell Patientenverfügungen« warnen wir allerdings vor einer gesetzlichen Regelung. Denn was allzu vernünftig erscheint, was sich für einen aufgeklärten Menschen gehört, ist möglicherweise gar nicht so »rational« wie es scheint. Abgesehen von den bekannten Gefahren der Verbreitung von Patientenverfügungen – Verankerung sozialer Normen im Umgang mit schwerer Krankheit und Behinderung, gesundheitsökonomische Hintergründe, die Schwierigkeit, für qualitativ andere Lebenssituationen vorab tragfähige Entscheidungen zu treffen – lösen Patientenverfügungen auch in anderer Hinsicht Nachdenklichkeit aus: Inwieweit kommt ihnen eigentlich eine rituelle Bedeutung zu?

Ohne Rituale funktioniert keine Gesellschaft, und jede Zeit gebiert ihre eigenen. Rituale vereinfachen die Bewältigung komplexer lebensweltlicher Situationen, indem sie durch Wiederholungen hochaufgeladene, krisenhafte Ereignisse in routinierte Abläufe überführen. Auf diese Weise erleichtern Rituale den Umgang mit der Welt, das Treffen von Entscheidungen und die Kommunikation. Rituale ermöglichen darüber hinaus die symbolische Auseinandersetzung mit Grundfragen der menschlichen Existenz, dem Streben nach Sicherheit und Ordnung, dem Wissen um die eigene Sterblichkeit.

Rituale zeichnen sich dadurch aus, dass ihre vordergründige Aussage eine andere sein kann als der eigentliche Bedeutungsgehalt.

Das passt in mancher Hinsicht zu Patientenverfügungen: Sie lassen uns dort, wo religiöse Rituale ihre Bedeutung verlieren, traditionale Autorität Legitimation einbüßt, gleichwohl in gleichförmiger Weise Grundfragen der Existenz, des Sterbens und Leidens fassen, Entscheidungen rechtfertigen und Sicherheit und Ordnung der letzten Dinge herstellen.

Rituale zeichnen sich dadurch aus, dass ihre vordergründige Aussage eine andere sein kann als der eigentliche Bedeutungsgehalt. In Vordrucken für Patientenverfügungen, in Kraft gesetzt mit einer Unterschrift, legt der aufgeklärte Mensch eine Willensäußerung für den Fall nieder, dass er selber nicht mehr entscheiden kann, ohne in der Regel genau zu wissen, welche Situation ihn zukünftig erwartet. Es mögen berechtigte Sorgen und Ängste sein, dass nicht in seinem Sinne entschieden werden wird, es mag auch die Vorstellung sein, unter ganz bestimmten Bedingungen nicht mehr leben zu wollen. Der Sprachgehalt der Patientenverfügung liegt in der Betonung dieser Autonomie des eigenen Willens, der Selbstbestimmung.

Was Patientenverfügungen im Einzelfall bedeuten, ist oft erst im Wege der Interpretation richtig zu erschließen – gerade dann, wenn man den Einzelnen ernst nehmen will.

Schauen wir mit dem Arzt und Medizinethiker Stephan Sahm genauer hin. Laut seiner Studie “Sterbebegleitung und Patientenverfügung _(Siehe BIOSKOP Nr. 36 ist es gar nicht dieses in jedem Fall Am-eigenen-Willen-festhalten-wollen – sondern oft eher der Wunsch, dass mit mir und für mich eine Entscheidung getroffen wird, die mir entspricht, die mich nicht übergeht, die meine Integrität schützt. Es ist davon auszugehen, dass man mit der Unterschrift unter eine Patientenverfügung Befürchtungen entgegentritt, genau dieses könnte nicht geschehen. Autonomie und Fürsorge sind in der modernen Ethik keine Gegensätze, sondern sie bedingen sich: Patientenverfügungen als kollektive Auflehnung gegen Fremdbestimmung, gegen die Furcht, nur noch Objekt einer seelenlosen Medizin und ausgeliefert zu sein; aber auch darüber hinausgehend als Versuch, krisenhaften Ereignissen und der Angst vor ihnen etwas entgegenzusetzen.

Patientenverfügungen, so will es der Gesetzgeber scheinbar regeln, sollen verbindlich sein. Was sie im Einzelfall bedeuten, ist oft erst im Wege der Interpretation richtig zu erschließen – gerade dann, wenn man den Einzelnen ernst nehmen will. Patientenverfügungen als Phänomen unserer Zeit lassen sich ebenfalls deuten, eben auch als Ritual, als kollektiver Versuch, sich in einer säkularisierten Welt individuell mit dem Sterben auseinanderzusetzen.

© Thomas Klie, 2008
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Autors