PETRA GEHRING, Philosophin und ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin
Ethik – ein Passepartout
- Einige Überlegungen zur Funktion der Bioethik
aus: BIOSKOP Nr. 10, Juni 2000, Seiten 14+15
Wo Wissenschaft und Technik Bedenken auslösen, da ruft man nach »Ethik«. »Ethik-Kommissionen« begleiten die Forschungsaktivitäten an Universitätskliniken; interdisziplinäre »Institute« widmen sich dem Verhältnis von (Bio)Ethik und Biowissenschaften; das Bundesgesundheitsministerium hat einen »Ethik-Beirat« eingerichtet und der Bundestag eine Enquete-Kommission »Recht und Ethik der modernen Medizin«; zahllose Fachzeitschriften widmen sich den Feldern angewandter Ethik – von Bioethics bis Ethica oder Ethik in den Sozialwissenschaften.
Signalisiert werden allerorten »Problembewusstsein« und mehr oder weniger Willen zur »Grenzziehung« angesichts biowissenschaftlicher Forschungen. Betont wird aber auch die Kompetenz zum Überblick: die Notwendigkeit interdisziplinärer (und internationaler) Experten-Meinung. Die Wissenschaft selbst zeigt sich dialogbereit und »verantwortlich« gegenüber der Gesellschaft und der Politik. Man kann sich nun mit den Inhalten angewandter Ethik, namentlich der Bioethik, in ihren verschiedenen institutionellen Spielarten auseinandersetzen. Man kann aber auch nach ihrer Funktion fragen, und das werden wir im folgenden tun.
- Das entscheidungstheoretische Raster
Wo ethische Positionen vorgetragen werden, präsentieren sie sich als auf den Plan gerufen: durch ein Problem, eine praktische Entscheidungsnotwendigkeit, ein »Dilemma«. Was aber wird allein schon durch diese Vorgabe verschwiegen? Die Voraussetzungen, die zum »Problem« führen, die institutionellen Abläufe, in denen die Entscheidungsnotwendigkeiten ihren Platz haben, der relative Charakter der Expertenempfehlungen. Worauf es ankommt sind »Antworten«, hilfreiche »Optionen«, die vor allem eines sein müssen: anschlussfähig im Rahmen einer institutionengünstigen Normalität. Gefragt sind Entscheidungsgrundlagen. Damit ist das eigentliche Produkt von Ethik die Suggestion der Lösbarkeit.
Für Entscheider, aber auch für die Forschung entstehen kalkulierbare Bedingungen. Ethik modelliert »Betroffene«, den »Fall«, »Fallgruppen«, »Konkurrenzen«, »Alternativen«, »Lösungswege«. Als angewandte Ethik bewerkstelligt sie im selben Atemzug das hinreichend endgültige Rede-Klima für einen »vernünftig« erscheinenden und öffentlich akzeptablen Kompromiss. Die wählbaren – und das heißt machbaren, auch: bezahlbaren – Alternativen werden damit festgelegt. So kann sich (ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel) in Gestalt eines Forschungsprojektes »Altersbezogene Rationierung von Gesundheitsleistungen im liberalen Rechtsstaat« die Rhetorik der Sorge um Sicherstellung zukünftiger medizinischer Leistungen mit der Präferenz »potentiell rechtfertigungsfähiger Zuteilungsregeln« verbinden. Angelpunkt ethischer Überlegungen ist das Angebot der »freien Wahl«. Wer Betroffene/r ist, im »Dilemma« steckt, entscheiden muss, kann – lässt er sich auf ethische Modellangebote ein – letztlich »frei« wählen. Das vernünftige Wir hat entschieden. Das produziert Zukunft in berechenbarer Form.
- Bedarfsgerechte Anbindung an das Recht
Ethik findet Formeln, in denen das Rechtssystem sich seine Verankerungspunkte schaffen kann. Auch in Deutschland greifen Gesetzgeber und Gerichte auf Vorgaben von Ethikern zurück. Wer im Namen der Gerechtigkeit spricht – von »schutzwürdigen Interessen«, »gesellschaftlichen Werten«, »legitimen Eingriffen«, »Güterabwägung«, das Bewerten von »Schäden« und das Offenhalten von »Chancen« – tut gut daran, sich auf (bio)ethisch belehrte Mehrheiten und auf beratende Experten zu berufen. Nur so kann eine bedarfsgerechte Anbindung an das Rechtssystem geschaffen werden ohne als Politik in Erscheinung zu treten.
Vielmehr kann Politik im Namen von Experten und Öffentlichkeit Neuerungen rechtssicher machen. Dabei tritt sie selbst nicht als Politik in Erscheinung. Ein eigens geschaffener Ort für diese Anbindungsleistung sind »Ethik-Kommissionen«: halb rechtliche, halb öffentliche Gremien. Ihr Medium ist das »Votum«, halb rechtsverbindlicher Schritt, halb lediglich beratende Meinung. Ethik-Kommissionen sorgen dafür, dass niemand Schuld hat. Sie absorbieren Verantwortung in einem sehr diffusen Sinn. Innerhalb von Institutionen ist durch ihr pures Vorhandensein die Rechtsverantwortung Einzelner – Biomediziner, Politiker, Berater – in Kollektivverantwortung verwandelt.
- Eine profitable Symbolik
Bioethik wird betrieben in dem Grenzstreifen, durch den sich Wissenschaft von Gesellschaft trennt. Professionell veranstaltet gibt es sie dort noch nicht lang. Beteiligt sind Akteure aus den verschiedensten Disziplinen, deren gemeinsames Merkmal – neben dem Praxisbezug, also dem Interesse an Entscheidbarkeit als solcher – die besondere Rolle ist, die sie gegenüber dem eigenen Fach, der Forschungspolitik und den Medien spielen. Wer unter Innovatoren mitmischt, dem sind Stellen, Reputation, Anerkennung und Drittmittel sicher. Namentlich für Theologen und Geisteswissenschaftler ist eine Unentbehrlichkeit als Mitentscheider neu. Oft reicht die Entlohnung durch symbolisches Kapital, um einen hohen Identifikationsgrad zu sichern.
Wie viel die »Ethik« der Wissenschaftspolitik wert ist, zeigt sich an zahlreichen Graduierten-Kollegs, Projekten, Instituten, Gremien und einschlägigen neuen Zeitschriften, in denen insbesondere der wissenschaftliche Nachwuchs dazu gebracht wird, sich auf das interdisziplinäre Terrain festzulegen. Auch ist international Resonanz zu haben: im Beiboot global vorangetriebener Wissensprojekte (Human Genom Project) oder anvisierter Zukunftstechnologien (Klonen, Xenotransplantation, Keimbahnmanipulation) werden auch die kleinen Wert- und Reflexionswissenschaften weltumspannend.
- Argumentativer Generalschlüssel
Ethik wird im Grunde als ein argumentativer Generalschlüssel, als ein Passepartout gebraucht. Sie erfüllt in ihren Inhalten, in ihren Verfahren, in ihren Redeangeboten und Redeaufforderungen politische Funktionen. Programmatische »Offenheit« oder moderationsfreudige Gesten verkehren sich ins Gegenteil, sobald es spezifische Experten für die »Offenheit« der Expertenkulturen gibt. Nach außen wird Akzeptanz hergestellt – möglicherweise.
Vor allem aber bestätigen sich die beteiligten Experten selbst. Sie hören einander zu, und nach innen gewandt kann sich jeder Funktionsträger seiner Rolle gewiss sein. Aus Sicht der Zuschauer werden es immer mehrere Rollen bleiben. Drei solcher Rollen haben wir genannt: die Raster des Entscheidens, die Verrechtlichung von Innovationen und die Selbstbestätigung von gesellschaftsverändernder Forschung. Wir halten sie für tragend.
© Petra Gehring / Erika Feyerabend, 2000
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