Euthanasie
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Patientenverfügungen
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ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin
Die Normalisierung von Tötungshandlungen
- Unterhalb der Schwelle von Euthanasie kehrt ärztliches Tötungsrecht auf leisen Sohlen ins deutsche Rechtsleben zurück
aus: Frankfurter Rundschau, 07. Dezember 2000, Dokumentationsseite
In den Niederlanden soll die aktive Sterbehilfe demnächst gesetzlich legalisiert werden. In Deutschland haben sich sofort Politiker und Ärzteorganisationen von diesem Vorstoß distanziert. Dennoch, stellt die Essener Sozialwissenschaftlerin Erika Feyerabend fest, dass sich auch in Deutschland die Normalisierung von Tötungshandlungen einschleicht – ohne großen Knall. Wir (= die Redaktion der Frankfurter Rundschau) dokumentieren ihre Analyse in einer gekürzten Fassung. Sie ist entnommen dem Buch Schöne, heile Welt? Biomedizin und Normierung des Menschen, Christian Mürner u.a., Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 2000).
Die Bundesärztekammer hat u. a. mit dem Verweis auf die Euthanasiepraxis in den Niederlanden 1998 eine revidierte Fassung ihrer Richtlinie zur Sterbebegleitung verabschiedet. Die deutsche Standesorganisation grenzt sich ausdrücklich von der niederländischen Praxis »aktiver Sterbehilfe« ab. Verschiedene Gerichte, die Urteile zum Abbruch künstlicher Ernährung und medizinischer Behandlung mit Todesfolge fällten, beschwören Ähnliches. Aktive Tötungen durch Ärzte darf es hier nicht geben. Das Signal: Wir haben aus der Geschichte gelernt. Die Grenze dessen, was Medizinern und Juristen zu tun und zu entscheiden erlaubt ist, scheint eindeutig festgelegt zu sein.
Zwar gibt es auch hier zu Lande »Tabubrecher« – wie den Mainzer Juristen Norbert Hoerster, der die Tötung behinderter Neugeborener fordert, oder den Bochumer Philosophen Hans-Martin Sass, der solche Taten als »nachfragbare Dienstleistung« der Medizin versteht. Auch organisierte Kräfte wie die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben und der Humanistische Verband, die offen die niederländische Euthanasiepraxis einfordern, sind eine Realität. Doch politischer, medizinischer und juristischer Konsens ist derzeit das Nein zur Giftmischung.
Die neu eröffnete Frage lautet: Bei welchen Krankheitskategorien ist die Tötung durch Unterlassung standesrechtlich geboten?
Die vorherrschenden Argumentationsmuster der Diskussion zeigen jedoch, dass unterhalb dieser Grenze der Anschluss an die europäische und internationale Euthanasie-Entwicklung auch in diesem Land gesucht wird:
Die Richtlinien der Bundesärztekammer zur »Sterbebegleitung« beschäftigen sich seit 1998 nicht mehr allein mit den Sterbenden. Es geht nicht um die Zeit des Sterbens, sondern die Zeit davor. Gemeint sind Patienten mit »infauster Prognose« – also unheilbar Kranke -, »schwerstbehinderte Neugeborene« und »KomapatientInnen«. Die neu eröffnete Frage lautet: Bei welchen Krankheitskategorien ist die Tötung durch Unterlassung standesrechtlich geboten? Die Richtlinie bietet verschiedene Standardsituationen an, bei denen die generelle ärztliche Pflicht zur Behandlung nicht mehr gilt.
Im Endeffekt wird das Gebot der Behandlung an prognostizierte Besserungsaussichten, den individuellen Vernunftwillen und – falls das nicht mehr möglich ist – den mutmaßlichen Willen anderer gebunden. Therapie und Versorgung werden begründungspflichtig (vgl. Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung).
Gerichte haben in Einzelfallentscheidungen das Zu-Tode-Bringen durch Nahrungsentzug begründet und weisen damit den Weg in eine generelle juristische Legitimation solcher Taten.
…ohne überhaupt von Euthanasie reden zu müssen.
Zahllose Vereinigungen – die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben, die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, interdisziplinäre Expertenkreise, verschiedene Hospiz-Gruppen und die Deutsche Hospiz-Stiftung – propagieren Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten. Auch das Fernsehen macht mit. Der »Ratgeber Mittagsmagazin« des ZDF bietet Formulierungen für »Patiententestamente« an, die rechtsverbindlich sein sollen. Tenor all dieser Angebote: Bei unheilbarer Krankheit, prognostizierter Pflegebedürftigkeit und schwerer Behinderung sollen der Behandlungsabbruch, der Nahrungsentzug und eine intensivierte »Schmerztherapie« den schnellen Tod ermöglichen.
Meine Sorge ist, dass aus einem kaum überschaubaren Konglomerat gesundheitspolitischer und ökonomischer Weichenstellungen, juristischer Entscheidungen, standespolitischer Beschlüsse, »öffentlicher Meinung« und internationaler Entwicklungen die Normalisierung von Tötungshandlungen erwächst – ohne überhaupt von Euthanasie reden zu müssen.
Das gemeinhin gezeichnete Bild: Es gibt mündige und medizinkritische PatientInnen. Ihnen gegenüber steht eine uferlose High-Tech-Medizin, die Sterben und Tod als eigenes Scheitern begreift und nicht als Handlungsgrenze akzeptieren kann.
Diese Normalisierung kommt nicht mit dem großen Knall einer gesetzlichen Absicherung aktiver Euthanasie daher. Sie wird als Kampagne für den »selbstbestimmten Tod« alltags- und gesellschaftsmächtig. Das gemeinhin gezeichnete Bild: Es gibt mündige und medizinkritische PatientInnen. Ihnen gegenüber steht eine uferlose High-Tech-Medizin, die Sterben und Tod als eigenes Scheitern begreift und nicht als Handlungsgrenze akzeptieren kann. Mediziner könnten vom neuen Patiententypus lernen.
Nicht Euthanasie – wie in den Niederlanden – stehe ins Haus, sondern ein neues, ein partnerschaftliches Arzt-Patienten-Verhältnis. Der Tod wird »Teil des Lebens«, und das Mehr an »Autonomie« am Lebensende birgt keine Gefahr. Kostensenkungsambitionen und »Lebenswert«-Urteile sind schon allein durch die allerorten postulierte »individuelle« Entscheidung gezähmt. Niemand wird gezwungen, sondern jede/r darf den eigenen Tod fordern – unter festgelegten medizinischen Konditionen. Dass es mittlerweile verbindliche juristische und standesrechtliche Konsequenzen gibt, wird als Sieg einer neuen, selbstbewussten PatientInnen-Generation gefeiert.
Ich möchte ein anderes Bild zeichnen, wobei es mir nicht darum geht, Ängste Einzelner oder Motive von Hospiz-Gruppen zu diffamieren. Ich will auch nicht die moralischen Dilemmata ärztlicher und pflegerischer Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen aus dem Wege räumen.
Ist die Methode – Gift versus Unterlassung – tatsächlich die Wasserscheide bei der Durchsetzung von Euthanasie, oder geht es nicht vielmehr darum, das Prinzip des Tötens zu ermöglichen?
Ich habe Fragen: Wird medizinische Macht tatsächlich durch den allerorten geforderten »selbstbestimmten Tod« gebrochen? Was wird aus »individuellen Wünschen«, wenn sie in Vertragsform gegossen und juristisch einklagbar werden? Schaffen sie dann nicht Normen – gesellschaftliche wie juristische? Ist die Methode – Gift versus Unterlassung – tatsächlich die Wasserscheide bei der Durchsetzung von Euthanasie, oder geht es nicht vielmehr darum, das Prinzip des Tötens zu ermöglichen? Und ist die neue Koalition aus Experten- und Patientenvereinigungen, die unterhalb der viel beschworenen »Giftspritze« gemeinsame Standards für Tötungshandlungen auf den Weg bringen, nicht hoch willkommen, um flexible Rationierungsentscheidungen im Gesundheitswesen durchzusetzen? Werden so, ganz demokratisch und mit Bürgerbeteiligung, »Lebenswert«-Entscheidungen allgegenwärtig? Ist all dies möglicherweise ein Sonderweg, um ärztliches Tötungsrecht wieder zum ganz normalen Bestandteil des Deutschen Rechtslebens zu machen?
- 1. Medizin als »System der Krankenbehandlung«
(…) Medizin soll also einerseits produktiver Wirtschaftsfaktor sein, andererseits aber Kosten sparen. An dieser Stelle schlägt ihr ökonomisches und politisches Dilemma in ein ethisches um, und das Bild der allseits handlungsbereiten, grenzenlos therapierenden und diagnostizierenden Medizin stimmt nicht mehr. Wachstum, Gesundungspolitik und genetisch orientierte Präventionspolitik sind nur die eine Seite des Systems der Krankenversorgung. Kostendruck und Rationierungen, die besonders an der Gruppe der so genannten »unheilbar« Kranken ansetzen, bilden mittlerweile ihre andere Seite.
Der Begriff der »seelenlosen Apparatemedizin« als Gegenspieler der PatientInnen reduziert Problemlage und Antworten auf eine »individuelle Wahl«, auf eine schlichte KonsumentInnen-Entscheidung. Wer keine Apparate will, kann sie auf eigenen Wunsch verweigern. Die Wachstumslogik wird so mit der Rationierung versöhnt. Nur PatientInnen bzw. ihre Angehörigen befinden sich in einem Entscheidungskorridor. Sie sollen aus Gründen der Sozialverträglichkeit und des Nutzens Verzicht üben. Das Apriori von »Wachstum« und »Nutzen« des medizinischen Systems gilt weiterhin. Es behält seine »ökonomische Unschuld« und den Flair der »Gerechtigkeit«. Die Wahl zwischen »Würde« und »Maschine« verlagert Rationierungsentscheidungen allein in die EndverbraucherInnen hinein.
- 2. Das Diktat der Ökonomie
Ellen Kuhlmann hat die Zuteilungspolitik in der Chirurgie, der Inneren Medizin und der psychiatrischen Langzeitversorgung untersucht (Feuerstein/Kuhlmann 1998). Derzeit herrscht das Diktat der Ökonomie. Die Rationierungpraxis hat viele Gesichter. Einige Schlaglichter sind hier der Stellenabbau, besonders in der Intensivmedizin, einem sehr personalintensiven Bereich. Die Versorgung verschlechtert sich hierdurch. Die Aufnahme oder Weiterbehandlung kostenintensiver Patienten wird zuweilen abgelehnt – z.B. mit der »Notlüge«, dass die Betten belegt seien. Die Schwerstverletztenversorgung wird unter Kosten-Nutzen-Relationen diskutiert, eine verzögerte Behandlung als Strategie wird erkennbar. Ebenso wird der Einsatz lebensverlängernder Maßnahmen ökonomisch kalkuliert. »Kommen die Patienten in unser Krankenhaus als FP (Fallpauschale) oder SE (Sonderentgelt), um die Fallzahl zu steigern? Oder als Kranke, . . . die behandelt werden wollen?«, fragte provokativ ein Arzt im Deutschen Ärzteblatt. (. . .) Die verfasste deutsche Ärzteschaft fragt mittlerweile: »Darf alles das, was möglich ist, gemacht werden, und muss alles das, was gemacht werden kann, jedem ermöglicht werden?« (Einladung der Pressestelle der dt. Ärzteschaft vom 7.3.97). (…)
- 3. Sterbekalkulationen
Medizin schaut in die Zukunft. Sie prognostiziert sowohl den Verlauf von Krankheiten als auch die Ergebnisse ihres eigenen Handelns. Die Voraussicht unheilbarer Schäden oder des Todes ist allein Sache dieser Profession. Diese Prognosen und scheinbaren Sicherheiten sind nicht am Einzelnen orientiert und ermittelt, sondern an Krankenpopulationen. Weil die Medizin weniger als Erfahrungswissenschaft denn als Naturwissenschaft begriffen wird, ist die Tendenz zur Statistik und Objektivierung groß. Unter diesem Blickwinkel werden PatientInnen zu »Norm-Menschen«. Die statistisch geschaffene Krankheitskategorie, mit rechnerisch ermitteltem Risiko und Erfolgsaussicht, abstrahiert völlig von den Unwägbarkeiten des individuellen Krankheitsverlaufs und den persönlichen Möglichkeiten des Betroffenen.
Der vorläufige Gipfel dieser objektivierenden Klassifikationen sind die so genannten »Score-Systeme«, die in den USA, England, aber auch in der Bundesrepublik eingesetzt werden. Score-Systeme sind Computerprogramme, die Aussagen über den Schweregrad einer Erkrankung und die Heilungs- und Sterbewahrscheinlichkeiten machen. Fünfzehn solcher Programme sind auf dem Markt. Üblicherweise werden einzelne Körperfunktionen (Temperatur, Blutdruck und -werte etc.) in Punktwerte verrechnet und in Überlebensaussichten verwandelt. Ein Programm heißt »Apache« und wird in Kliniken in Hamburg, Hildesheim, München, Regensburg, Ulm und Würzburg benutzt und soll vorhersagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit jemand sterben wird.
Hier werden auch technische und ökonomische Argumente für den Behandlungsabbruch in Aussicht gestellt.
Ein neueres Programm mit dem Namen »Riyadh«, das in Berlin, Bremen und Köln erprobt wird, prognostiziert nicht nur die Überlebenschancen. Es wandelt auch den täglichen therapeutischen Aufwand in Punktwerte um und beziffert ihn in D-Mark. So entsteht eine Mischkalkulation aus utilitaristischen Kalkülen und ökonomischen Überlegungen. Das Programm soll nach Herstelleraussagen »Steuerung gerechtfertigter Bettenbelegung«, »Aufspüren von Problemen, die hohe Kosten verursachen« und die »Berechnung von Behandlungskosten bei individuellen Patienten« bieten (zit. n. Feuerstein 1998: 114).
Hier werden nicht nur – nachweislich – »falsche Todesvorhersagen« produziert. Verschiedene Untersuchungen ergaben, dass zwischen 15 bis 20 % der Sterbekalkulationen falsch sind. Hier werden auch technische und ökonomische Argumente für den Behandlungsabbruch in Aussicht gestellt. Die Suggestion dieser Technik kann dabei sehr subtil wirken: Unsicherheiten über den Krankheitsverlauf können als endlich überwindbar gelten, was manche/n PatientIn bislang davor schützte, zu früh aufgegeben zu werden. Objektive Daten führen schnell dazu, mit dem Erreichten zufrieden zu sein. So kann die Prognose zur Wirklichkeit werden – und Gegenteiliges kann niemand mehr beweisen.
Unterhalb dieser computerisierten Vernunft spielt die Prognosesicherheit in der Diskussion um Behandlungsabbruch und Nahrungsentzug eine große Rolle. Die Bundesärztekammer und Verfügungsvereinigungen sprechen in ihren Richtlinien und Formularen von der Zeit vor dem Sterben, und diese ergibt sich aus solchen Sterbewahrscheinlichkeiten.
PatientInnen mit »infauster Prognose«, mit »generell schlechter Prognose«, die aber »nicht zwangsläufig in absehbarer Zeit sterben«, heißen diese bei der Bundesärztekammer. Von »unheilbar Kranken” ist die Rede, von Verfügungen »im Vorfeld tödlicher Erkrankungen«. Gemeint sind hier die schwer eingrenzbaren Gruppen der Langzeit-Komatösen, schwerstbehinderten Neugeborenen, Schwerverletzten, Krebskranken. Wer bestimmt, was »unheilbar« ist? Oder was unter »irreversibel« zu verstehen ist?
Das neu betretene »Vorfeld tödlicher Erkrankungen« ist kaum mehr einzugrenzen und unendlich dehnbar.
Gerade am Beispiel der Koma-PatientInnen wird deutlich, dass solche Vorhersagen nicht zu treffen sind. Gelten diese Urteile bereits vom Zeitpunkt der Diagnose an? Oder nach erfolglosen therapeutischen Bemühungen? Und welche Therapien werden berücksichtigt? Wann stellt man die medizinische Tätigkeit ein? Nach prognostizierter Erfolgsrate von 50 %, nach 30-%iger Chance therapeutischen Handelns zu scheitern? Dieses Jonglieren mit Prozentzahlen und Zukunftswissen ist tatsächlich in Broschüren zu finden (Ärztekammer Westfalen-Lippe / Hospizbewegung Münster, April 1999). So als ob medizinische Experten immer schon im Voraus wüssten, was geschieht, wenn sie handeln. Wie schwierig es ist zu entscheiden, wann ein Sterbeprozess nicht mehr zu beeinflussen ist, mag manchen vorstellbar sein. Das neu betretene »Vorfeld tödlicher Erkrankungen« ist kaum mehr einzugrenzen und unendlich dehnbar.
Letztlich wird die Definitionsmacht jener Medizin, die allerorten im Bild der »Intensivstation« und »High-Tech-Apparate« kritisiert wird, vollends bestätigt, sogar gesteigert! Es wird kalkuliert mit einer »Sicherheit« von Diagnose, Prognose und Therapieverlauf. Ganz so, als ob es das gäbe! Man vertraut voll und ganz der schulmedizinischen Weisheit, die nur »eine« passende »Therapieform« und »eine« daraus ableitbare Zukunft kennt – und nur »einen« dazu passenden »Patientenwillen«.
- 4. Entscheidungszumutungen
Ob Bundesärztekammer, Oberlandesgerichte oder Verfügungsanbieter: Alle beteuern, dass das Verbot der aktiven Sterbehilfe in Deutschland bestehen bleibe. Mit Befremden schaut man in die Niederlande, wo aktive Tötung durch Ärzte der Strafverfolgung entzogen ist und politisch an weiteren Legalisierungen gearbeitet wird. Gibt es aber eine so eindeutige Abgrenzung zwischen aktivem Tun und passivem Unterlassen? Wird nicht in Deutschland – und zwar von Standesvertretern wie von Betroffenenorganisationen und Richtern -, jenseits des Umgangs mit einem von sich aus Sterbenden, ein offizielles »Behandeln zum Tode« gefordert?
Wenn eine Infektion nicht mehr versorgt wird, eine Magensonde nicht mehr zum Repertoire ärztlicher Pflichten gehört oder eine großzügige »Schmerzbehandlung« mit kalkulierter Todesfolge explizit nachgefragt werden kann – bei Menschen, die gar nicht sterben -, dann wird Sterben vorverlegt, eingeleitet, hergestellt. Tod wird zur ärztlichen Entscheidung – mit Billigung oder Unterstützung der Angehörigen und BetreuerInnen, nach mutmaßlichem Willen, der immer eine Mutmaßung von außen ist.
Hier kommen einmal mehr die Machtwirkungen der Medizin zum Vorschein, die den Tod schon längst ergriffen hat – indem sie den Leib im Sterben unter die erwähnten Kosten-Nutzen-Rechnungen stellt; die den Tod »macht«, indem sie Definitionen erstellt (Hirntod-Definitionen) oder einem Dasein ohne Kommunikation und Bewusstsein die »Lebensqualität« abspricht; die nun durch Prognose des eigenen Scheiterns die verbleibende Lebensspanne in ein »Sterben« zu verwandeln trachtet. Es geht hier nicht um den »guten Tod« (euthanatos), es geht um das »gute Töten« – mit Zustimmung des Opfers und unter Berücksichtigung »sozialer Verantwortung«.
Die Interpretationsspielräume sind enorm. Für wen?
Die vagen Formulierungen in den Verfügungen, wann die als »Maßnahme« bezeichnete Unterlassung gefordert werden kann, sind »Lebenswert«-Entscheidungen: Genannt wird die Lebenserwartung – gemessen als Tage, Wochen oder Monate? Das Risiko bleibender Behinderungen – gemessen als Bewegungseinschränkung oder Schwäche? Oder die Aussicht schwerer Pflegebedürftigkeit. Wie viele Menschen leben dann »unwürdig«, weil sie hilfsbedürftig sind? Oft erwähnt wird die Kommunikationsunfähigkeit – allein gemessen an der Fähigkeit, sprechen zu können? Die Interpretationsspielräume sind enorm. Für wen?
Unterhalb der gesetzlichen Schwelle – durch Richtlinien, Betreuungsvereine und Verfügungsanbieter – findet eine Gewöhnung statt. Der Tod wird für alle eine Frage von Entscheidung. Und von Nachfrage, die so unspektakulär sein soll wie bei jeder anderen Therapie auch. Tötung durch Unterlassung als »therapeutisch notwendiges Tun«? Das Sterben und Kranksein, das angeblich in unser Leben und Bewusstsein zurückgekehrt sein soll, wird banalisiert. Es scheint abwählbar zu werden. Es wird zur Konsum-Entscheidung, ob ich »leide« oder nicht. Die Verfügungen werden zu entscheidungsfähiger Stunde verfasst. Das endgültige Urteil müssen die Angehörigen fällen. Dürfen solche Entscheidungsräume überhaupt eröffnet werden? Kann unter solcher »Freiheit« Krankheit noch ertragen, begleitet und zugemutet werden?
- 5. Recht und Ordnung im Leben wie im Sterben
Viele Broschüren und Textbausteine für Verfügungen sind ausgekleidet mit dem Wunsch nach Nähe und Beistand. Das lässt sich vertraglich und juristisch schon gar nicht einfordern, sondern ist eine Frage gelebten Lebens und sozialer Möglichkeiten. Was bleibt, ist das Kernstück aller Texte, der »Behandlungsabbruch«, der Nahrungsentzug und die lebensbeendende Schmerztherapie, gekoppelt mit Lebensqualitätsszenarien und Lebenserwartungen. Kein Dilemma am Lebensende unter dem Vorzeichen einer hoch technisierten Medizin wird dadurch gelöst. Vielmehr werden Krankheitskategorien und Qualitätsstandards aufgestellt, die nachprüfbar sein müssen.
Die vielen möglichen Krankheitssituationen und Sterbegeschehen können nicht auf einen Vertragstext gebannt werden. Das Ergebnis der Patientenverfügungen sind Standards, die langfristig die Beweispflicht für Ärzte, Kranke und Angehörige verändern. Was früher geboten war, die Behandlung Kranker – wie gesagt: nicht Sterbender -, wird begründungspflichtig. Sind einmal die Kategorien von Qualität und Ertragbarkeit etabliert, dann ändert sich auch die Sicht darauf – für alle Beteiligten -, was lebbar ist. Eine Normalität der Leidvermeidung, die alle trifft, ist die Folge.
Besonders eine gemeinsame Broschüre der Ärztekammer Westfalen-Lippe und der Hospizbewegung Münster versucht mit Bausteinen und Fallgeschichten die Vision »individueller Sterbewünsche« aufrechtzuerhalten. »Was wünsche ich mir, wenn keine Aussicht auf Besserung gegeben ist, der Verlust des Denk- und Sprachvermögens, Verwirrtheit, Koma« u. a. m. diagnostiziert wird. Die Wahl zwischen »ich will möglichst lange leben« und »keine Lebensverlängerung, keine Infektionsbehandlung, keine künstliche Ernährung« suggeriert »Freiheit«. Allerdings wird auch gedroht – mit juristischen Konsequenzen, falls die »Wünsche« nicht erfüllt werden. Genau das wird zunehmend möglich: die juristische Norm, die aus der Ausnahme eine einklagbare Regel macht. Am Ende dieser Entwicklung steht nicht der individuelle Wille, sondern eine neue juridische Normativität.(…)
Am besten, so die Expertengruppe, sollten Träger in der Alten- und Krankenversorgung Verfügungen in ihr »Leitbild« aufnehmen und klare Richtlinien für den Umgang definieren.
Die Arbeitsgruppe »Sterben und Tod« der Akademie für Ethik in der Medizin in Göttingen bezeichnet Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten als »Rechtsinstrumente«, die es ermöglichen, den »rechtlich zulässigen Spielraum« auszuschöpfen. Abbruch von Behandlung und künstlicher Ernährung könne nach mutmaßlichem oder vertraglich festgelegtem Willen heute nachgefragt werden. Am besten, so die Expertengruppe, sollten Träger in der Alten- und Krankenversorgung Verfügungen in ihr »Leitbild« aufnehmen und klare Richtlinien für den Umgang definieren. So könnten Träger demonstrieren, dass sie die »Willensfreiheit« von alten und kranken Menschen achten – und die Verantwortungslast dem Betreuungspersonal und der Ärzteschaft abgenommen werden (Arbeitsgruppe »Sterben und Tod« der Akademie für Ethik in der Medizin e. V., Patientenverfügung, Betreuungsverfügung, Vorsorgevollmacht, Göttingen, November 1998). So setzt sich – weitab von geltenden Strafrechtsnormen – das Angebot und die Nachfrage ärztlicher Tötungshandlungen institutionell fest. (…)
- 6. Die Gefahr des Vorsorgedenkens
Im Voraus lässt sich das eigene Ende so wenig denken wie die eigene Geburt.
Aber wir alle werden zunehmend daran gewöhnt, dies tun zu können. Den Zufall auszuschalten, Vorsorge zu treffen, Verträge auszufüllen, »Autonomie« zu sichern in einer unbekannten Zukunft.
Was zählt, ist hier allein der Vernunftwille. Wer ihn nicht mehr »hat« oder ihn nicht mehr äußern kann, der scheint kein »freies«, »würdiges« Leben mehr zu haben. Genau das ist nämlich der Umkehrschluss dieser Verhaltensnormierung. Die Forderung nach juristisch verhandelbarer Vernunftfähigkeit wird zunehmend zum Maßstab für das Menschsein überhaupt.
Die Figur des »autonomen Subjekts«, das sich völlig selbst bestimmen soll und will, zieht sich eben nicht allein durch die Tradition der Vernunftphilosophie. Sie ist allgegenwärtig sowohl auf der Ebene des Rechts, wie die genannten Urteile zeigen, wie auch in gesellschaftlichen Diskussionen, die in den Verfügungsbroschüren zum Ausdruck kommen. Diese Figur ist, wenn auch wirklichkeitsmächtig, eine Fiktion. (…)
Die pädagogische Bearbeitung in Richtung »Autonomie« schreitet ebenso voran wie die beschriebene juristische Norm. Selbst die Deutsche Hospiz Stiftung bietet sich an. Sie wollen effektivieren, was viele Einrichtungen aus »kommerziellem Interesse« und ohne »Rechtsverbindlichkeit« bereits anbieten. Sie wollen neue »Qualitätsstandards entwickeln« und überwachen, ein »Qualitätssiegel für Patientenvorausverfügungen« einführen. (…)
Die Gewöhnung an Formulare und Verträge, die in zweifelhaften Schemata Diagnose und Prognose, Lebensqualitätsszenario und nachprüfbaren Vernunftwillen aneinander binden, produziert aber keine Sicherheiten fürs eigene Sterben, sondern Standardängste, Standardantworten und Standardsituationen.
Die Deutsche Hospiz Stiftung will mit den »Vorbereitungen für ein Zentralregister der Patientenverfügungen in Deutschland beginnen. Hier kann jeder sein Dokument hinterlegen, damit Ärzte und Angehörige im Bedarfsfall darauf zurückgreifen können« (Pressemitteilung der Deutschen Hospiz Stiftung zur rechtsgutachterlichen Überlegung der medizinischen Patientenanwaltschaft vom 25. August 1999).
Die Gewöhnung an Formulare und Verträge, die in zweifelhaften Schemata Diagnose und Prognose, Lebensqualitätsszenario und nachprüfbaren Vernunftwillen aneinander binden, produziert aber keine Sicherheiten fürs eigene Sterben, sondern Standardängste, Standardantworten und Standardsituationen. Fallbeispiele und Bausteine zum richtigen Vorsorgen richten eigene Wünsche, eigenes Verhalten und das eigene Leben vor dem Tode zu. (…)
Die Personalsituation in den Krankenhäusern und Pflegeheimen kann dann hingenommen werden. Man arrangiert sich mit dem »Unvermeidlichen«. Die »Würde« liegt nicht mehr in politischer, institutioneller und gesellschaftlicher Verantwortung. Sie liegt im individuellen Vorsorgeverhalten.
Hier heißt es dann: Ertragen oder Tod. In Politik und Gesellschaft wird zugeschaut. Warum beispielsweise alte Menschen Magensonden bekommen, braucht nicht diskutiert zu werden. Die Situation wird schließlich »abwählbar«. Vieles geschieht aus Zeit- und Personalmangel oder Unwissenheit. Eine neuerliche Untersuchung im Journal of the American Medical Association zeigt explizit, dass viele Magensonden vermeidbar sind, wenn die Pflegebedingungen besser wären.
Menschen, die ständig in existenziellen Grenzsituationen arbeiten, brauchen Zeit für Distanz, Raum für Reflexion und Austausch. Das gilt für MedizinerInnen wie für Pflegekräfte. Was aber geschieht, ist das genaue Gegenteil.
Auf leisen Sohlen kehrt ärztliches Tötungsrecht ins deutsche Rechtsleben zurück, unterstützt von der gern geglaubten Illusion, das eigene Sterben planen – oder eher zähmen – zu können.
Wenn über KomapatientInnen geredet wird, dann muss die Analyse von Andreas Zieger ernst genommen werden, der konstatiert, dass fast 60 % aller Patienten im apallischen Syndrom in Norddeutschland »keinerlei Chancen zur Rehabilitation erhalten, und wenn, dann für durchschnittlich zwei Monate. Die meisten Kranken kommen schon nach wenigen Wochen oder Monaten in ein Pflegeheim. Etwa 80 % davon erhalten keine zusätzliche krankengymnastische oder ergotherapeutische Behandlung« (NOT, Mai 1997, S. 24-27).
Es gäbe unendlich viel zu tun, medizinisch-therapeutisch, pflegerisch, aber auch gesellschaftlich und sozial. Dann würden Krankheit und Tod wirklich wieder zur Sache aller. Die schlichte Abwahl durch Formulierungen, Ankreuzen und Textbausteine jedenfalls löst weder die Probleme im Umgang mit schwerer Krankheit und Tod noch die des gesamten Systems der Krankenbehandlung, das gründlich überdacht werden muss. Auch den Kranken und Noch-Gesunden, die vorab verfügen, wird das Leben und Sterben dadurch keineswegs leichter oder sicherer.
Was stattdessen geschieht: Auf leisen Sohlen kehrt ärztliches Tötungsrecht ins deutsche Rechtsleben zurück, unterstützt von der gern geglaubten Illusion, das eigene Sterben planen – oder eher zähmen – zu können. Die »Würde des Sterbens«, von der oft die Rede ist, meint eigentlich doch wieder die Abschaffung des Sterbens: Es soll schnell, leicht, kostengünstig und unauffällig sein.
Die »Zähmung der letzten großen Bestie« – nämlich des Todes – steht immer noch auf der kulturellen Agenda. Nur heute nimmt dieser moderne Versuch exzessive Formen an. Von der gesund erhaltenden Lebensführung über genetische Präventionen, verrechtlichte Willensäußerungen, Vernunft der medizinischen Prognostik bis zum idealen, von jedem Zufall und jeder sozialen Bedingung befreiten Standardsterben reicht das Repertoire, das letztlich nicht den Tod zähmt, sondern das Leben.
© Erika Feyerabend, 2000
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