Gesundheitspolitik
Berichte, Hintergründe, Analysen
Gesundheitspolitik
Berichte, Hintergründe, Analysen
ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin
»Recht auf Gesundheit«
- Kritische Anmerkungen zu einer populären Forderung
aus: BIOSKOP Nr. 52, Dezember 2010, Seiten 14+15
Es gibt Forderungen, die erscheinen auf den ersten Blick plausibel und werden von den unterschiedlichsten AkteurInnen propagiert. Der Slogan »Recht auf Gesundheit« gehört dazu. Internationale Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Vereinten Nationen buchstabieren ihn als »Menschenrecht« aus und deklarieren »Gesundheit« als umfassendes körperliches, seelisches, psychisches und soziales Wohlergehen. Dabei geht es nicht allein um den subjektiven Anspruch auf ärztliche Versorgung und Medikamente, sondern auch um angemessenen Lebensstandard und soziale »Sicherheit«.
Im Fahrwasser dieser »humanitären« Organisationen und im Sog der These von Gesundheit als einem quasi jedem Menschen innewohnenden Rechtsanspruch entsteht ein monströser Konsens. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung investiert in »Gesundheit«. Der Pharmamulti Novartis beklagt, dass jedes Jahr Millionen von Menschen an leicht behandelbaren Krankheiten sterben, dass Geld für Militär statt für Erziehung, Hygiene und Präventivmedizin ausgegeben werde. Das »Recht auf Gesundheit« inspiriere die Firma zur Entwicklung innovativer Medikamente. Die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung propagiert ein »Menschenrecht Familienplanung« und bietet internationale Projekte zur Bewältigung eines »Problems« – die Überbevölkerung im Süden – als »Lösung« an.
Konsens stiftend ist die Parole auch, wenn gesellschaftliche Kontroversen drohen.
Konsens stiftend ist die Parole auch, wenn gesellschaftliche Kontroversen drohen. Eugenische Projekte im Inland – Pränataldiagnostik, künstliche Befruchtung, Stammzellforschung oder Euthanasie – werden regelmäßig von WissenschaftlerInnen, Selbsthilfeorganisationen und GesundheitsmanagerInnen mit Verweis auf den »Wert« von und das »Recht auf Gesundheit« bzw. »Reproduktion« bzw. »Sterben« legitimiert.
Weil Politik immer auch eine Politik der Sprache ist, muss es mindestens irritieren, dass auch oppositionelle Gruppen wie attac, medico international oder People’s Health Movement sich begrifflich diesem globalen Konsens fügen. Aber meinen sie nicht etwas ganz anderes als der – hier nur auszugsweise skizzierte – Potpourri an Akteuren, wenn sie vom »erreichbaren Höchstmaß an Gesundheit« als «Menschenrecht« sprechen? Und sollte es etwa nicht richtig sein, Gesundheitsreformen und Privatisierungen zu kritisieren? Soziale Gerechtigkeit und medizinische Behandlung für alle zu fordern?
Gegenfrage: Kann man sich der »Barbarei« nur in Begriffen der »Menschenrechte« nähern (Alain Badiou) – und noch problematischer – kombiniert mit einem totalitären Mythos namens »Gesundheit«? Stecken in den beiden Universalbegriffen möglicherweise politische Perspektiven, die so von Ambivalenzen und Widersprüchen gereinigt sind, dass sie sich zwar für globale Konsense eignen, nicht aber für politisches Praxis-Denken?
Menschenrechte verstehen sich scheinbar wie von selbst. Erklärungspflichtig ist nur, wer sie in Frage stellt. Geschichte und Gegenwart dieser Rechte sind aber weder unproblematisch noch eindeutig. Einerseits präsentieren sie eine Art »Universalität des Idealen« und sind damit so abstrakt, dass sie wenig handlungsleitende Bindung entfalten. Ministerien, Konzerne oder auch Nicht-Regierungsorganisationen können sich darauf berufen – ohne dass es den gesellschaftlichen Gang der Dinge oder wildwüchsige Globalisierungstendenzen stören würde.
Welche Denk- und Praxismöglichkeiten eröffnet das Postulat einer abstrakten Kategorie wie der »universeller Menschenrechte«?
Andererseits zeigen neuere »Menschenrechtsabkommen« wie das zur Biomedizin des Europarates und die »Allgemeine Erklärung der UNESCO über Bioethik und Menschenrechte«, dass inflationär postulierte »universelle Werte« keinesfalls stabil sind, sondern sich gemäß der wesentlich stärkeren »Überzeugungskraft« des Geldes, des wissenschaftlichen Wissens und politischer Macht formen lassen.
Beide Texte präsentieren Minimalstandards zum »Schutz« von Kranken. Darunter wird aber auch verstanden, Komapatienten, Altersverwirrte und Kinder unter interpretationsoffenen Kriterien der fremdnützigen Forschung übergeben zu können. Ohnehin sind in der wechselvollen Geschichte, die gerade mit der Nationalstaatsbildung begann, die »Menschenrechte« im gesellschaftlichen Gebrauch zu einer Art Ausnahmerecht geschrumpft, wenn wachsende Staatsmacht und soziale Ungerechtigkeiten Individuen bedroh(t)en. Eine Art Minimum an Recht für Entrechtete – und das auch nur, wenn die »öffentliche Gesundheit« nicht gefährdet sei. Diese Einschränkung ist in der Menschenrechtserklärung der UNO zu finden.
Welche Denk- und Praxismöglichkeiten eröffnet das Postulat einer abstrakten Kategorie wie der »universeller Menschenrechte«? Möglicherweise einen Konsens mit internationalen Institutionen wie der UNO und der WHO, auf deren Deklarationen sich auch von NGO-Seite gerne berufen wird und deren wohl klingender Sprachduktus längst übernommen ist.
Öffentliche Gesundheit und Gesundheitserziehung fusionieren mit der biopolitischen Perspektive einer genetisch aufgebesserten Bevölkerung.
Gesundheit gilt in westlichen Gesellschaften als uneingeschränkter Wert, der sich von selbst zu verstehen scheint. Ideologisch gestützt von der Gesundheitsdefinition der WHO, fühlt sich mittlerweile jede/r dem großen Ziel verpflichtet. Krankheitsursachen und Risiken lauern überall zwischen Genen und Biosphäre. Das erweitert den Wissens-, Interventions- und Wirtschaftsraum verschiedenster ExpertInnengruppen enorm. In zahllosen »Kompetenznetzwerken« durchsuchen interdisziplinäre Teams von Geburt bis ins hohe Alter Körper, Geist, Seele und Verhalten von Individuen und Bevölkerungsgruppen. Medizinische und genetische Datenbanken mit ergänzenden Informationen zu Lebensstil und Umweltbedingungen schaffen »gesunde Kranke«, die in das Regime der Prävention eingeordnet werden können. Ihnen werden medizinische Interventionen, Verhaltensanweisungen im Alltag und Beruf wie in Fragen der Fortpflanzung angeraten.
Gesundheit wird eine Frage des eigenen Tuns und des frühzeitigen Intervenierens zuständiger Fachleute; Krankheit eine Frage des schuldhaften Unterlassens. Eine ältere Disziplin erstarkt in diesem Kontext, und eine neue entsteht gerade. Beide wollen solche Präventionsempfehlungen systematisieren: »Public Health« und »Public Health Genetics«.
Öffentliche Gesundheit und Gesundheitserziehung fusionieren bei letzterer mit der biopolitischen Perspektive einer genetisch aufgebesserten Bevölkerung. Nicht nur an dieser Stelle diffundieren Grenzen zwischen Gesundheit und Norm. Lifestyle-Medizin und Schönheitschirurgie, Ganzkörperchecks im Supermarkt und selbstbezahlte Diagnosetests sind Teil eines Gesundheitsmarktes, der mittlerweile auch ästhetische Normen schafft und bedient. Übrigens nicht nur in westlichen Regionen. Weltmeister in Sachen Schönheitschirurgie ist Brasilien. Wer es sich leisten kann, investiert in sich.
Die schlichte Existenz einer staatlich sanktionierten Gesundheitsindustrie ist nicht gleichbedeutend mit dem Wohl der Kranken.
Über Krankheit wird in einer Gesellschaft der Gesundheitskassen und Gesundheitschancen nicht so gerne geredet. Wenn, dann in Formen der Vermeidbarkeit und der Kosten. Chronisch Kranke, die am »Recht auf Gesundheit« scheitern, müssen sich mit standardisierten Behandlungsprogrammen und Schuldzuweisungen auseinander setzen, unheilbar Kranke oder Schwerstbehinderte mit öffentlichen Fragen nach ihrer Existenzberechtigung.
Aber auch jene, bei denen die Hoffnung auf wiederherstellbare Arbeitsfähigkeit noch nicht versiegt ist, profitieren nicht uneingeschränkt vom System der Krankenbehandlung. Als vor einigen Jahren das Medizinpersonal in Israel streikte, fiel die Sterberate signifikant. Damit soll nicht der Abschaffung öffentlicher Gesundheitsdienste das Wort geredet werden. Aber die schlichte Existenz einer staatlich sanktionierten Gesundheitsindustrie ist nicht gleichbedeutend mit dem Wohl der Kranken.
Weil es diese bevölkerungspolitische und ordnungspolitische Praxis gibt, weil das bestehende System von wachstums- und ökonomisch orientierten Logiken durchzogen ist, ist ein rein positiver Begriff von »Gesundheit« problematisch und auch Teilhabe am medizinisch Möglichen nicht ohne Widersprüche.
Die im Gesundheitsbegriff enthaltene Doppelung sozialer Kontrolle und individueller Selbstverwaltung ist historisch angelegt.
Die im Gesundheitsbegriff enthaltene Doppelung sozialer Kontrolle und individueller Selbstverwaltung ist historisch angelegt. Mit dem Hygienediskurs und der medizinischen »Polizey« des 18. und 19. Jahrhunderts begann der erfolgreiche, ärztliche Kampf um Deutungs- und Behandlungsmonopol und eine innere Staatsbildung, die den Leitwert »Gesundheit« in staatlichen Bürokratien und Institutionen verankerte. An der Achse Wissen/Macht wurden die Normalisierungsanstrengungen der Medizin in den Alltag übersetzt. »Gesundheit« war ein bürgerlicher Kampfbegriff gegenüber Adel und Unterklassen. »Gesundheit« wurde Teil kollektivstaatlicher Verantwortung, im Sinne bevölkerungspolitischer und sozialdisziplinierender Maßnahmen, um politische Harmonie zu sichern.
Bedenken bei weitgehenden Eingriffen in private Lebensführungen gab es in dieser Zeit – nur bei den Armen nicht. Sie wurden zwangsmedikalisiert, denn Krankheit wurde als wichtige Ursache sozialer Destabilisierung und politischer Unruhen wahrgenommen. Dass aus dieser Politisierung von »Gesundheit« und »Krankheit« Sozialversicherung und Krankenversicherungssysteme hervorgingen, verringert die Ambivalenzen im Prozess der Medikalisierung von Armut nicht.
»Gesundheit« ist ein biopolitisch überaus wirksamer Mythos. Mythen haben es an sich, geschichtslos zu sein und durch die Einsparung von Komplexität und Widersprüchen eine Welt glücklicher Klarheit zu schaffen. Ein Bruch mit den bestehenden Verhältnissen lässt sich damit nicht erreichen. Wer den Mythos freilegen will, muss sich von den mittlerweile global wirksamen Sprech- und Denkgewohnheiten entfernen.
© Erika Feyerabend, 2010
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