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HEIDRUN SUDHOFF und CHRISTIAN WINTER, beide aktiv im BioSkop-Forum

»Wo es an einem schutzwürdigen Erhaltungsinteresse fehlt«

  • Zum schleichenden, gefährlichen Bedeutungswandel der »mutmaßlichen Einwilligung« im Medizinrecht

aus: BIOSKOP Nr. 1, März 1998, Seiten 6+7

Ein Begriff taucht immer häufiger im Medizinrecht auf: der »mutmaßliche Wille«. Ob in der geplanten Richtlinie der Bundesärztekammer zur Sterbehilfe oder im Transplantationsgesetz, ob im deutschen Betreuungsrecht oder in der europäischen Bioethik-Konvention – mit dem »mutmaßlichen Willen« ist es wie mit der Geschichte vom Hase und Igel: »lk bin schon da!«

Der Begriff »mutmaßlicher Wille« ist keine neue Erfindung. Schon vor 250 Jahren wurde er erwähnt und zwar im »großen, vollständigen Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, welche bisher durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden«. Dieses Lexikon von 1748 spricht vom »muthmaßlichen« Willen auch als »stillschweigendem Wille, (…) wenn jemandes Wille und Meynung nur aus gewissen, zur Sache dienlichen Umständen (…) geschlossen und vermuthet wird«.

Zurück in die Gegenwart, hinein in den Alltag. Beispiel Autounfall: per Fahrer ist bewußtlos, sein Leben kann wahrscheinlich nur durch eine Operation gerettet werden – die klassische Situation für eine »mutmaßliche Einwilligung«. Da »Gefahr im Verzug« ist, nimmt die Ärztin den lebensnotwendigen Eingriff vor, ohne die ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen einzuholen; Ziel ist die Heilung. Dies ist, laut Juristendeutsch, ein »gewohnheitsrechtlich anerkannter Rechtfertigungsgrund«; die Erfahrung lehrt nämlich, daß die potentiell lebensrettende Operation das Bestmögliche ist, was für das Unfallopfer getan werden kann. Im rechtlichen Sinne gilt die Operation zwar als »Tathandlung«, doch liegt hier das Handeln, wie sich Juristen ausdrücken, »im materiellen Interesse des Betroffenen« und ist somit gerechtfertigt.

  • Einfach uminterpretiert

Doch die Rechtsprechung hat in den letzten Jahren einer anderen Interpretation der »mutmaßlichen Einwilligung« mehr und mehr Raum gegeben: dem »Prinzip des mangelnden Interesses«. Dieses Prinzip, so die neue Auslegung von Juristlnnen, komme in Betracht, »wo es an einem schutzwürdigen Erhaltungsinteresse des Betroffenen fehlt«. Doch wer beurteilt, was »schutzwürdig« ist und wann ein »mangelndes Interesse des Betroffenen« vorliegen soll? Die Entscheidung ist in jedem Fall folgenschwer: Wenn zum Beispiel ein ärztlicher »Mutmaßer« nicht mehr von einem »Erhaltungsinteresse« des Patienten an seinem Leben ausgehen will, ist das Abbrechen der Behandlung und damit ein Tötungsakt nicht mehr weit – das zeigt der aktuelle Entwurf der Sterbehilfe-Richtlinie der Bundesärztekammer.

  • Bundesgerichtshof als Bahnbrecher

Als Bahnbrecher für die Aufwertung der gewandelten Version des »mutmaßlichen Willens« werten viele Interpretlnnen eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes. Der BGH hatte im September 1994 in einem Einzelfall geurteilt, daß bei einer im Koma liegenden Patientin das Entziehen der Magensondenernährung und damit ihre Tötung durch Verhungernlassen »nicht von vornherein ausgeschlossen ist, sofern die Patientin mit dem Abbruch mutmaßlich einverstanden ist«. Diese richtungsweisende Interpretation des BGH ist nun in die Richtlinie der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung und ins Transplantationsgesetz gewandert. Der politische Wille, diese juristische Entwicklung durchzusetzen, ist also unverkennbar.

Nicht Therapie im materiellen Interessen der Patientin ist neuerdings angesagt, vielmehr geht es um die Absicht zu töten. Oder anders ausgedrückt: Der BGH geht davon aus, daß es nun im materiellen Interesse von Patientlnnen sein könne, getötet zu werden. Dies ist ein juristischer Paradgimenwechsel: Mit dem Gewohnheitsrecht, mit dem die »mutmaßliche Einwilligung« bisher in Zusammenhang stand, hat eine solche Interpretation nichts mehr zu tun.

  • Für unterscheidliche Zwecke tauglich

Zwar ist es in der Bundesrepublik strafrechtlich verboten, Euthanasie als »rechtes Mittel zum Zweck« (so die Juristlnnensprache} anzusehen. Doch auch in den Niederlanden waren es ja zunächst einzelne Gerichtsurteile, die Euthanasie duldeten und damit eine bestimmte soziale Stimmung geschaffen haben: eine Art neues Gewohnheitsrecht auf Euthanasie – trotz weiterhin vorhandenen Strafrechtsparagraphens im niederländischen Gesetzbuch!

Die gewendete Interpretation des »mutmaßlichen Willens« taugt als Rechtfertigungsgrund für unterschiedliche Zwecke – sie kann von Ärztlnnen ebenso in Anspruch genommen werden wie von Angehörigen, von gesetzlich bestimmten Betreuerlnnen, Richterlnnen oder Gesundheitspolitikerlnnen. Diese mit Entscheidungskompetenz ausgestatteten »Mutmaßerlnnen« können zur Tathandlung schreiten – aus verschiedenen Motiven:

- Medizinerlnnen können mit Berufung auf den »mutmaßlichen Willen« des Patienten die Behandlung abbrechen, zum Beispiel aus Mitleid mit dem Betroffenen oder mit sich selbst.

- Solche Motive können auch Verwandte zu einer Mutmaßung verleiten, welche die Tötung der Patientin rechtfertigt. Sie können es auch schlicht und einfach auf das Erbe des Bewußtlosen abgesehen haben.

- Mit dem Hinweis, sie erfüllten den »mutmaßlichen Willen« des Patienten, könnten Politik, Krankenkassen und Krankenhäuser die Einsparung von Behandlungskosten legitimieren.

- Wenn es kein »Erhaltungsinteresse« mehr gibt, kann dies Wissenschaftlerlnnen und Angehörigen rechtlich ermöglichen, nichteinwilligungsfähige Patientlnnen für Forschungszwecke zu benutzen oder benutzen zu lassen – und so ist es in der europäischen Bioethik-Konvention ja auch vorgesehen.

- Von sogenannten »Hirntoten« werden mit ihrem »mutmaßlichen Einverständnis« Körperstücke beansprucht und verwertet daran werden wir seit Ende der sechziger Jahre schleichend gewöhnt. Solcherart Mutmaßung ist wohl eher eine Anmaßung.

Aus gegebenem Anlaß sei zum Schluß an eine Formulierung aus dem schon erwähnten Universallexikon von 1748 erinnert: »Doch wird im Zweifel der Wille eines Menschen nicht vermuthet, wenn er nicht bewiesen werden kann.«

© Heidrun Sudhoff / Christian Winter, 1998
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