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ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin

Genormte Individuen – regulierte Bevölkerungen

  • Eugenik im Kontext biomedizinischer Forschungen und Behandlungen

Vortrag, nachzulesen in der Dokumentation der Vortrags- und Diskussionsveranstaltung »‘Zucht’ und ‘Ordnung’ – Genetik in der Zeitmaschine«, die am 10. April 2003 im Hamburg-Haus Eimsbüttel stattfand. Herausgeberin ist Hannelore Witkofski.

Wo Eugenik im Kontext aktueller, biomedizinischer Forschungen und Behandlungen offen zur Sprache kommen, scheinen die Versprechen über Leidvermeidungen problematisch zu werden. Krankheit oder Behinderung durch ein Mehr an Wissen und an Entscheidung aus der Welt zu schaffen, gilt zwar als attraktiv oder zumindest nachvollziehbar. Wer will schon unnötig »leiden« oder sehenden Auges Erkrankungsrisiken in Kauf nehmen, die planend und fortpflanzungstechnisch minimiert werden könnten?

Doch das grelle Licht einer rund um perfektionierbaren Zukunft ist nicht ungetrübt. Denn die genetischen Gestaltungsangebote rufen oft die nationalsozialistische Vergangenheit in Erinnerung. Einen positiven Bezug auf Eugenik im Sinne planmäßiger, genetischer Aufbesserung einer Bevölkerung ist öffentlich kaum zu finden. KritikerInnen der Genomforschung und ihrer medizinischen Anwendungen beschwören die Kontinuitäten. »Was heute noch nicht so ist wie damals, wird uns zukünftig drohen.« Die Gegenwart der freiwilligen Nachfrage pränataler Diagnostik oder die laufenden Genomforschungen werden als Vorstufe auf dem Weg in eine Zukunft begriffen, die in zentralstaatlichen und sozialpolitischen Zwangsmaßnahmen ihren Endpunkt finden. In dieser Diskursökonomie bemühen sich angewandte EthikerInnen und biomedizinische Experten zeitgleich um Distanz nicht nur von nazistischen Eugenik- und Euthanasieprogramm. Die Parole allerorten: Es gehe um individuelle Angebote und keinesfalls um bevölkerungspolitische Planungsdimensionen.

  • Sprachpolitische Offensiven

Ein eindrückliches Beispiel für diese Abgrenzungsrhetorik boten vor zwei Jahren der Genetiker Georg H. Fey und der anwendungsorientierte Philosoph Carl Friedrich Gethmann. »Plötzlich nehmen alte, historisch belastete Begriffe wie Eugenik und Selektion wieder konkrete Formen an«, war im Vorspann ihres Aufsatzes »Dürfen wir die Evolution dem Zufall überlassen?« (FAZ 30.01.01) zu lesen. Die Autoren wissen: Eugenik und Selektion sind alarmierende Begriffe. Sie nutzen den thematischen Aufhänger nicht allein, um sich moralisch ins rechte Licht zu setzen, damit ihre vorbehaltlosen Bekenntnisse für die Genforschung von dem Verdacht befreit sind, der biopolitischen Gestaltung – in diesem Fall des gesamten Gattungskörpers – das Wort zu reden. Die Professoren bieten ein offensive Sprachpolitik an, die weit mehr als defensive Abwehr des Kontinuitätsverdachts ist.

Das »Züchtungshandeln« reicht unterschiedslos von Eingriffen in die Umwelt, die auf gleicher Stufe mit die Partnerwahl zu Fortpflanzungszwecken bis zu den selektiven Programmen der vorgeburtlichen Gen-Analysen rangieren.

Manipulationen am Genbestand sind für die Autoren ein Gebot, ja geradezu eine Pflicht. »Der selbstbewußte und selbstbestimmte Mensch hat nicht nur die Berechtigung, sondern auch die Verpflichtung, sein Schicksal eigenverantwortlich mitzugestalten, soweit es sein Wissen und seine Kräfte ermöglichen.« Was derzeit technologisch möglich und zukünftig denkbar ist, kann angeboten, nachgefragt und entwickelt werden. Das »Züchtungshandeln« reicht unterschiedslos von Eingriffen in die Umwelt, die auf gleicher Stufe mit die Partnerwahl zu Fortpflanzungszwecken bis zu den selektiven Programmen der vorgeburtlichen Gen-Analysen rangieren. Auch die Zukunft, in der die Manipulation von Keimzellen, um genetisch »Defektes« zu reparieren wird schon mitgedacht. Die sprachpolitische Pointe: Die historisch belastete »Züchtung« ist nur Nebeneffekt einer am Individuum orientierten »Prävention« und »Therapie«. Sie erfolgt “primär aus medizinischer Indikation beim Individuum« und nicht »primär aus einer populationsgenetischen Intention heraus«. »Die Verbesserung des Lebens betrifft direkt das jeweilige menschliche Individuum. Indirekt nimmt der Mensch dadurch jedoch auch den Gestaltungsauftrag in bezug auf den ‘Genpool’ wahr: Das darf er und das soll er.«

So wird jede Form eugenischer Politik legitim und der Anschluss an die internationalen Forschungsprojekte kann auch in Deutschland gelingen, trotz eines Kontinuitätsvorwurfes. Die Gattungsgestaltung wird zur Sprache gebracht, aber als »Nebeneffekt” der Individualisierungsstrategie moderner Biomedizin.

  • Das Regime des »Risikos”

Man könnte die Argumentation als bloßen strategischen Schachzug entlarven. Viel wurde ja unternommen, um die Diskontinuität von Eugenik und Genetik herzustellen. Das erwähnte Beispiel ist nur eines von vielen und beschäftigt nicht allen deutsche WissenschaftlerInnen. Der Leiter des molekulargenetischen Institutes »Généthon« in Frankreich demonstriert seine Distanz zur Eugenik des 19. und 20. Jahrhunderts: »Es wird eine Art Eugenik sein, gewiß, aber eine Eugenik die bewahren will, nicht eliminieren, eine humanitäre, nicht eine totalitäre Eugenik«. (zit.n. Paul Rabinow: French DNA. Trouble in Purgatory. Chicago: University of Chicago Press 1999:51)In seiner populär geschriebenen Veröffentlichung »Die Gene der Hoffnung« tritt Cohen für das »individuelle Recht« ein, Kinder zu bekommen, die nicht an schweren Erkrankungen leiden. Cohen will die nötigen Werkzeuge bereitstellen, um die »individuelle Freiheit, die öffentliche Gesundheit und die genetische Gestaltung« zu verbessern. (Daniel Cohen, Die Gene der Hoffnung. München/Zürich: Piper 1995: 287ff) Die Politik der vorgeburtlichen Selektion, humangenetische Beratung im Blick auf Fortpflanzungsentscheidungen, die »eliminiert« gibt es sicherlich. Die Autoritäten, Doktoren und Wissenschafter, die von einer grundlegenden Optimierung des Gattung träumen ebenfalls. Aber: Diese Politik ist nicht zentralstaatlich gelenkt und sie wird nicht im Namen einer Pflicht des Individuums durchgesetzt und unter dem Banner der Population, der Rasse oder der Nation geführt. Gesundheitsbehörden, Forschungsinstitute, Firmen, Krankenhäuser, Familien, Betroffenenverbände sollen eine aktive Partnerschaft eingehen. »Dienstleistung«, »Selbstverantwortung«, »Kunden«, »informierte Konsumentscheidung«, »Partizipation«, das sind die schillernden Begriffe der Arzt-Patienten-Beziehung bzw. des Experten-Laien-Verhältnisses. Auch die »klassische« Suche und Identifikation »Erbkranker« ist nicht mehr allein das organisierende Problem. Im Zuge der modernen Genomforschung und Molekularbiologie funktioniert die genetische Biopolitik in Begriffen von Individuen, die »riskant« sind. Ganze Bevölkerungen oder Teilpopulationen werden nach verschiedenen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Familiengeschichte, Lebensstil klassifiziert und derzeit in einzelnen Forschungsprojekten – perspektivisch regelhaft – molekulargenetischen Tests unterzogen.

Die Figur des »Gesunden Kranken«, der »Risikoperson«, der »Noch-Nicht-Kranken« betritt die gesellschaftliche Bühne. Die molekulare Medizin wird vorausschauend und präventiv.

Es geht hier in der Tendenz nicht allein um die Identifikation und Stigmatisierung von NormabweichlerInnen. Die Figur des »Gesunden Kranken«, der »Risikoperson«, der »Noch-Nicht-Kranken« betritt die gesellschaftliche Bühne. Die molekulare Medizin wird vorausschauend und präventiv. Sie greift ein, bevor »Krankheiten« entstehen und hat weit mehr zu bieten, als Anweisungen für das Fortpflanzungsverhalten und Ausgrenzung. Den statistische Wahrscheinlichkeiten, früher als ein Bevölkerungsdurchschnitt zu erkranken, folgen verschiedenste Interventionsangebote: Ernährungsvorschläge, Arbeitsplatzwechsel, engmaschige medizinische Kontrollen, präventive Behandlung ohne Krankheitsempfinden u.a.m. »Mündig« ist dann, wer sein »Risiko« kennt und aus dem reichhaltigen Angebote der Verhaltensänderung und biomedizinischen Beobachtungskunst das Passende auswählt. Die genetischen Risikokalkulation braucht Gruppen und Bevölkerungen, um das statistische Wissen überhaupt zu produzieren. Sie kann die »Risiken« dann aber wieder in den Körper des Einzelnen hineinverlagern. Das Primat der Risikovermeidung funktioniert nicht als eugenisches Zwangsprojekt, sondern als Chance und »Imperativ der Selbstregulierung« bzw. Selbstoptimierung (Thomas Lemke: Die Regierung der Risiken«. In: Ulrich Bröckling u.a. (Hsrg.) Die Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/M.: suhrkamp wissenschaft (2000): 258) »Verantwortlich« handeln und »Chancen« ergreifen nur diejenigen, die das genetische Wissen und nutzen. Der Wille zum Nicht-Wissen kann nur noch als korrekturbedürftig angesehen werden und im Zuge des neoliberalen Umbaus der Krankenbehandlung, wird die »Selbstveranwortung« am Ende sicher die »Unmündigen« und »Unwissenden« treffen und jene, die sich wider besseren »Wissens« nicht ans Risikomanagement gehalten haben.

  • Kerngebiet Genomforschung

In der Forschung am Genom verbinden sich bioindustrielle, wissenschaftliche und bevölkerungspolitische Interessengruppen. Doch die Dynamik dieser Forschung liegt in den Wissenschaftsstrukturen selbst und folgt nicht allein einer staatlichen und privatwirtschaftlichen Gesamtplanung oder Interessenlage.

Vor gut zwei Jahrzehnten noch war die Humangenetik eine von verschiedenen Fachdisziplinen. Es gab eine Theorie der Vererbung, die sich am Erbmolekül, der DNA, orientierte. Aber es gab noch keinen Körperentwurf, der Krebskranke, Allergikerinnen oder Herzinfarktpatienten zu Träger/innen einer gestörten DNS erklärte. Es gab Stammbaum-Analysen, um den Nachweis genetischer Ursachen für Erkrankungen innerhalb von Familien zu führen. Die Humangenetiker/innen errechneten »Risiken« und vergab fachmännische Ratschläge zum Fortpflanzungsverhalten. Die Handlungsmöglichkeiten waren meist seit Jahren etabliert und auf wenige sog. klassische Erbkrankheiten beschränkt. Ende der 70er Jahre wurden Techniken entwickelt, die Analysen am Genom sowie Neukombinationen von »Genen« versprachen. Zunächst nutzten kleine Gruppen von Experten die neuen Verfahren. Das Angebot standardisierter Techniken, die auch von weniger spezialisierten Wissenschaftlern und Laboratorien genutzt werden konnten, ließen die molekulargenetischen Verfahren zum konventionellen Bestandteil der wissenschaftlichen Arbeit werden. Firmen, die Materialien wie Zell-Linien oder DNA-Proben kommerziell vertrieben, erzeugten eine Art molekularen Schneeball-Effekt. (vgl. Fujimura 1988, 261-279) Ein Paket aus anerkannter Theorie der Vererbung und attraktiver Technologie der Analyse und Manipulation entstand. Stetig und schnell neues Wissen zu erwirtschaften, permanent neue Produkte wie Gentests oder Pharmaka anbieten zu können, all das dynamisiert Forscherkarrieren, die Laborpraxis, die Märkte für Zulieferfirmen und ganze Forschungsrichtungen – beispielsweise die Humangenetik, die Krebsforschung oder die Immunologie.

Das neue »Nationale Genomforschungsnetz« folgt ganz dem Trend der Wissenschaftsentwicklung und fördert molekulargenetische Erklärungen für die so genannten »Volkskrankheiten«.

Heute konkurrieren und kooperieren Wissenschaftler/innen in Universitäten, Forschungsinstituten und privatwirtschaftlichen Labors, um das neue Territorium, die »genetische Information«, unter Kontrolle zu bringen. Mit der Human Genome Organization (HUGO) wurde auch das erste Großforschungsprojekt der Biologie ins Leben gerufen, das arbeitsteilig Chromosomen von Mäusen und Menschen untersucht. Im Zentrum der Forschungsförderung und der Wissenschaftslobby steht nicht mehr die Fahndung nach genetischen Ursachen für seltene Erkrankungen. Das neue »Nationale Genomforschungsnetz«, initiiert von der rot-grünen Regierung, folgt ganz dem Trend der Wissenschaftsentwicklung und fördert molekulargenetische Erklärungen für die so genannten »Volkskrankheiten«. Die neue Struktur, finanziert mit den Gelder aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen, wird parallel zum 1995 installierten »Deutschen Humangenomprojekt« aufgebaut. Universitätskliniken und Schwerpunktzentren sollen die »genetische Empfindlichkeit für Herzversagen« oder Tumore auf den genetischen Nenner bringen. Aber auch Esstörungen, Alzheimer, Schizophrenie u.a.m. stehen auf der Forschungsagenda. Bislang als »umweltbedingt” geltenden Erkrankungen wie die Schuppenflechte oder Arthritis sollen auf molekulargenetischen Pfaden verfolgt werden. Bislang ist noch nicht viel herausgekommen. Die Typisierung der entzündlichen Darmerkrankung habe zu einer »ersten Genvariante« geführt, die »Ansatzpunkte« für Therapien bieten könne. »Noch vager klingt Erfolgsmeldung Nr. 2, Thema Epilepsie: Mit Hilfe von Tierversuchen habe man” Veränderungen entdecken können, die, heißt es nebulös , ‘eine ursächliche Erklärung geben’ für die gestörte Zellkommunikation bei Epilepsie.« _ (zit.n. Klaus-Peter Görlitzer: Neue Strategie der Gen-Gläubigen. In: BIOSKOP – Zeitschrift zur Beobachtung der Biowissenschaften 6. Jg., Nr. 21 März 2003: 10)_

Dennoch wird immer weiter und wieder auf die zukünftigen »Chancen« der Forschung verwiesen. Es herrscht Handlungsbedarf, niemals ein Unterlassungsbedarf. Nun soll eine zentrale Biobank aufgebaut werden, in denen Blut- und Gewebeproben der BundesbürgerInnen aufbewahrt und molekulargenetischen Projekten zugänglich werden. Ähnliche Projekte sind aus Island, England und Estland bekannt. In Island versucht die Firma Decode Genetics seit einigen Jahren Gesundheitsdaten, genealogische Informationen und Gewebe zusammen zu führen, um molekulargenetische Erklärungen weit verbreitete Krankheiten zu konstruieren. Ökonomisch ist das Projekt gescheitert. Nach Jahren konnten immer noch keine plausiblen Ergebnisse vorgelegt werden und die Aktien der Firma sind in den Keller gerutscht.

In England ist man derzeit mit dem Aufbau der größten Datenbank mit individuellen Gen- und Medizininformationen und Verhaltensdaten beschäftigt: die BioBank UK. Hier sollen Genprofile, Krankengeschichten und persönliche Daten von 500.000 Freiwilligen gesammelt und ausgewertet werden. Geldgeber sind das Gesundheitsministerium und der Wellcome Trust mit 73 Millionen Euro. Hauptziel auch hier: die Erforschung der verbreiteten Zivilisationserkrankungen. Die potentiell »Freiwilligen«, die zwischen 45 und 69 Jahren als sein sollen, werden aktiv angeschrieben und bekommen einen ausführlichen Fragebogen unaufgefordert zugeschickt. Auskunft wird erbeten über Name, Alter, Geburtsgewicht, Volkszugehörigkeit, Familienstand, Ausbildung, Beruf, Anzahl der Kinder, Menopause Familiengeschichte, Behinderungen, psychologischer Status, Entwicklung des Körpergewichts, eingenommene Medikamente, Operationen, Kopfverletzungen, Röntgenuntersuchungen, Ernährung, Tabak- und Alkoholkonsum, körperliche Aktivitäten, Schlafgewohnheiten und Handynutzung. (vgl. BIOSKOP Nr. 18, Juni 2002, S. 13) Nach Unterschreiben eines Einwilligungsformulars werden die TeilnehmerInnen eine Blutprobe abliefern, die molekulargenetisch analysiert und erfaßt werden soll.

Nicht einfache »Ausgrenzungen« verdächtiger Individuen, sondern »Risikoklassifikationen« und »Heilungschancen« für bislang erfolglos behandelte Massenerkrankungen werden in Aussicht gestellt.

Gendatenbanken sind überall dort unvermeidlich, wo »genetische Information« entstehen soll, wo Gentests entwickelt und neue Medikamentengenerationen auf den Weg gebracht werden. »Gen-Informationen« lagern nicht einfach im Zellkern. Sie werden hergestellt, durch die Verknüpfung mit medizinischen, genealogischen und verhaltensbezogenen Daten. Ob solche Erfassungsprojekte gelingen, hängt wesentlich von der Mitmachbereitschaft ab, die an vielen Orten und im Kontakt mit medizinischen Einrichtungen gefordert wird. Längst ist nicht nur der Kontakt mit humangenetischen Instituten der einzige Ort, an dem molekulargenetische Mitarbeit gefordert wird. Und: Nicht einfache »Ausgrenzungen« verdächtiger Individuen, sondern »Risikoklassifikationen« und »Heilungschancen« für bislang erfolglos behandelte Massenerkrankungen werden in Aussicht gestellt und könnten attraktiv erscheinend. Das Konzept der klassischen Erbkrankheiten war auf Fortpflanzungsentscheidung konzentriert – auf eugenische Perspektiven. Das molekulare Theorie-Technologie-Paket in den Biowissenschaften verweist auf umfassende, molekulargenetische Aufklärung nahezu aller Krankheiten wie auch Normalitätsvergehen. Es bietet nicht »nur« eine Theorie vom Körper und seinen Krankheiten, sondern nie da gewesene Handlungsperspektiven, die von (fehlschlagenden) Versuchen der genetischen Korrektur bis zu einem vielschichtigen Risikomanagement beim »Noch-Nicht-Kranken« reichen.

  • Genetische Tests und ihre gesellschaftspolitischen Folgen

Das gerade beschriebene betrifft die Grundlagenforschung. Genetische Tests für so genannte Zivilisationserkrankungen gibt es kaum. In bundesdeutschen Laboratorien werden über 100 DNA-Analysen angeboten, noch meist zur Diagnose von Chorea Huntington (»Veitstanz«), bestimmte Bluterkrankungen (Thalassämien) oder die zystische Fibrose (CF), eine Erkrankung, die mit der Verschleimung von Lungen und Bronchien einhergeht. Diese Tests werden vor allem in der pränatalen (vorgeburtlichen) Diagnostik eingesetzt und führen bei positivem Testergebnis in der Regel zum Abbruch der Schwangerschaft.

Unter der Überschrift “Humangenetische Diagnostik: Die Macht des Machbaren« diskutierten HumangenetikerInnen wie Dr. Wolfram Henn und Prof. Dr. Traute Schroeder-Kurth vor einiger Zeit weitere Einsatzmöglichkeiten. Treten Erkrankungen wie die erwähnte Cystische Fibrose oder die Bluterkrankung Thalassämie häufiger auf, dann lohnen sich – volkswirtschaftlich und bevölkerungspolitisch – auch Screenings (Reihenuntersuchungen), um Träger/innen solcher genetischer Normabweichungen dingfest zu machen. “»Aus dem Ergebnis lasse sich ein Wissensgewinn ableiten, mit Konsequenzen für Familienplanung, Partnerwahl und pränatale Diagnostik …« (Henn/ Schroeder-Kurth, in: Deutsches Ärzteblatt 96, Hf. 23, 11.06.1999, S. A 1555) Mit anderen Worten: »gesunde« Erwachsene sollen sich testen lassen und möglichst »Fortpflanzungentscheidungen« im Vorfeld der Empfängnis fällen. Wer Träger/in verdächtiger »Gene« ist, soll auf Kinder verzichten oder sich eine/n genetisch einwandfreie/n Partner/in suchen. Frauen werden angehalten, sich einer engmaschigen medizinischen Kontrolle während der Schwangerschaft zu unterziehen.

In Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden liegen Stellungnahmen öffentlicher Gremien vor, die genetische Massentestungen als akzeptabel bezeichnen.

Einige wenige Pilotstudien zur Anwendung derartiger Screeningprogramme gibt es in der Bundesrepublik, in anderen Ländern werden bereits breit angelegte »Partnerscreening« durchgeführt: auf Cystische Fibrose und Thalassämie in Zypern, Griechenland, in der Türkei, in Italien und Großbritannien. Über eine Million Menschen haben an Reihenuntersuchungen für die Tay-Sachs-Krankheit teilgenommen. Und das National Institute of Health empfiehlt seit 1997 in den USA 1997, daß die Krankenversicherungen das flächendeckende Anlageträgerscreening auf CF für alle Paare mit Kinderwunsch als Vorsorgeleistung bezahlt werden. In Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden liegen Stellungnahmen öffentlicher Gremien vor, die genetische Massentestungen als akzeptabel bezeichnen. (ebda.)

Erste Pilotstudien für den Einsatz von Gentests für sog. multifaktorielle Erkrankungen sind ebenfalls auf den Weg gebracht. Die Deutsche Krebshilfe fördert den genetischen Nachweis von Brust-und Eierstockkrebs an 12 Universitäten im gesamten Bundesgebiet. Vor allem jene Familien, die sich weltweit auf Thalassämie und CF haben untersuchen lassen, stellten die Forschungsressource dar. Um weitere Analyseverfahren für beispielsweise die sog. Brustkrebsgene BRCA 1 und BRCA 2 zu entwickeln, wurden ihre eingelagerten Gewebeproben genutzt. Nun gilt die Bereitschaft, früher und häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt an Brustkrebs zu erkranken, als z.T. genetisch bedingt. Firmen vermarkten solche Tests privat (USA), Studien mit gesunden und erkrankten Frauen sollen die Effektivität und Aussagekraft solcher Instrumente beweisen (die Krebshilfe in Deutschland). Je mehr Frauen in die Studien getrieben werden, desto fragwürdiger wird das neue Vorhersageinstrument. Die Konsequenzen: Ein positiver Test führt zu engmaschigen Mammographien; zu präventiven Brustamputationen; zum Hinweis den persönlichen Lebensstil ans genetische Risiko anzupassen, um nicht schuldhaft und wider besseren Wissens zu erkranken; und zu der Frage, ob mit einem solchen Genbestand die Geburt einer Tochter verantwortet werden kann. Die Schwangerenvorsorge hat nicht nur die Risiko- und Wahrscheinlichkeitslogik in den Alltag vieler getragen. Sie wird auch Einsatzgebiet dieser neuen Wissensangebote. Die Frage nach einer »zumutbaren Zukunft« – der eigenen wie der Kinder – wird immer ausufernder und immer entscheidungsabhängiger. Umstellt von wahrnehmbaren »Chancen« auf Gesundheit und Einwilligungserklärungen wird ein Leben mit Einschränkungen vermeintlich abwählbar. Die gesellschaftlich bedingten Probleme im Alltag mit Behinderung und chronischer Krankheit werden allein der Frau oder dem Paar angelastet. Sie hätten auch anders entscheiden können.

Die Krankenkasse zahlt den Modellversuch, denn sie verspricht sich: Ermittlung der Bereitschaft zu Massen-Gentests, deren Kosten und deren Kosteneffektivität.

Ein weiteres Projekt wird von der Kaufmännischen Krankenkasse als Modellversuch entworfen: das »Hämochromatose-Screening«. 10.000 Freiwillige sollen mitmachen. Der Zuspruch der Versicherten ist bislang bescheiden. Die »Eisenspeicherkrankheit« (Hämochromatose) wird für lebensbedrohliche Schäden an Leber, Nieren und anderen Organen verantwortlich gemacht. Jeder 10. »Anlagenträger« erkranke zwischen dem 50. – 60. Lebensjahr. (Frauen allerdings gar nicht) Die Genetiker versprechen »Prävention« – wenngleich das Vorliegen einer Gen-Veränderung nur sehr vage mit einer Erkrankung verbunden ist. Regelmäßiges Blutspenden könne vor den Spätfolgen der genetischen Auffälligkeit schützen. Die Krankenkasse zahlt den Modellversuch, denn sie verspricht sich: Ermittlung der Bereitschaft zu Massen-Gentests, deren Kosten und deren Kosteneffektivität. Die private Kranken- und Lebensversicherung kann nach geltendem Versicherungsvertragsgesetz vor Abschluss eines Vertrages verlangen, dass alle Informationen über Gesundheitszustand und Krankengeschichte offen gelegt werden. Die Spitzenvertreter der Versicherungen haben signalisiert, diesen rechtlichen Status Quo beibehalten zu wollen. Hier zeigt sich, dass die »Gentests« Sozialwerkzeuge sind, um ohnehin vorhandenen Tendenzen zum Sozialabbau zu lancieren.

Nicht übertrieben sind die Befürchtungen, daß die genetischen Zeichen auch für die Personalpolitik der Unternehmen attraktiv sind. Die Firma Adnagen, eine Initiative des Fraunhofer-Instituts und selbständig gewordener Professoren aus Hannover, offeriert in Angebotskatalog Gen-Analysen für eine »zuverlässige Differenzierung zwischen low- und high-risk-Populationen« sowie »die Identifizierung von individuellen Anfälligkeiten gegenüber Umweltchemikalien.« Und ganz und gar nicht virtuell ist die Perspektive, daß private Versicherer diese Informationen zum eigenen Vorteil nutzen. Die sozial- und gesundheitspolitische Planung der Bevölkerung in Form eines leicht verfügbaren Datenkörpers wird auf Kostendämpfung hinauslaufen und so effektiv erscheinen, daß die wirklichen Menschen, die hinter diesen Daten stehen, kaum mehr sichtbar werden.

  • Durchsetzungspraxis in der Schwangeren-Vorsorge

Als besonders akzeptiert gelten genetische Vorhersagen in der Schwangerenvorsorge. Hier sind Konzepte und Programme des Risikomanagements und ihre Einübung alltäglich geworden. Die Mutterschaftsrichtlinien und das reguläre Angebot an Untersuchungstechniken zielt nicht auf die medizinische Betreuung schwangerer Frauen, sondern ist im Kern ein mehrstufiges Programm der vorgeburtlichen Diagnose, mit dem alle Frauen automatisch konfrontiert werden und das hinausläuft auf genetische und biomedizinische Qualitätsurteile am Ungeborenen. Die angebotenen Ultraschall-Untersuchungen für alle Schwangeren werden von der Bundesärztekammer »ungezielte Präntaldiagnostik« bezeichnet. Die ersten beiden Untersuchungen um die 10. und die 20. Schwangerschaftswoche dienen der Suche nach Chromosomenabweichungen wie Trisomie 21, Entwicklungsstörungen und Neuralrohrproblemen. Aus den Bildern sind in der Regel keine Diagnosen, sondern statistische Wahrscheinlichkeiten abzulesen. Ähnliches gilt für biochemische Testverfahren, die aus dem Blut der Schwangeren »Risiken« errechnen. Das Alter der Frau, besonders wenn sie über 35 Jahre ist, ergänzt die Risikologik moderner Gynäkologie. Jede Abweichung von einem Ideal – bildlicher Darstellungen, biochemischer Testergebnisse, vorbildlicher Lebensführung und optimalem Reproduktionsalter – führt tiefer ins Diagnostik-Labyrinth. Rechtsansprüche auf Fruchtwasseruntersuchungen oder ähnliche Verfahren entstehen. Haftungsabsicherungen für die BehandlerInnen werden mittels Einwilligungserklärungen geregelt. Individuelle Verunsicherungen von Frauen werden technologisch beantwortet. An der Schwangerenvorsorge lassen sich die Wirkungen und Folgen einer Technologie des Risikos ablesen.

Das neue Wahrscheinlichkeitskalkül soll wieder Hinweise auf Normverstöße wie Trisomie 21 liefern.

Die Kassen sind mittlerweile knapp geworden. Nicht jedes Diagnoseangebot wird von den Krankenversicherungen bezahlt. Seit einiger Zeit gibt es individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL), die privat hinzu gekauft werden. Die Normalisierungsangebote reichen vom Gewichtsmanagement und Anti-Aging-Programmen bis zum »Frühscreening im ersten Schwangerschaftsdrittel«. GynäkologInnen, Laborgemeinschaften, Geräte- und Softwarehersteller sowie interessierte Firmen haben die »Fetal Medicine Foundation« Deutschland gegründet. (Margaretha Kurmann: Individuelle Gesundheitsleistungen. In: Rundbrief 14 des Netzwerkes gegen Selektion durch Pränataldiagnostik November 2002: 13-17) Sie bietet ein Verfahren an, mit dem das »Basis-Risiko«, das Alter der Frau, spezifische Blutwerte und ultraschallgestützte Vermessungen der Nackenfalte des Föten in Computerprogrammen verrechnet werden. Das neue Wahrscheinlichkeitskalkül soll wieder Hinweise auf Normverstöße wie Trisomie 21 liefern. Der privat organisierte Verein baut derzeit eine eigene Anbieterstruktur auf, mit zertifizierten Arztpraxen sowie Laboratorien und projektiert, jede der 800.000 Frauen, die jährlich schwanger werden, mit dieser privat zu zahlenden Dienstleistung zu konfrontieren. Die staatlich sanktionierte Schwangerenvorsorge wird ergänzt von einer privaten Risikoökonomie, die Frauen immer dann begegnet, wenn sie medizinische Betreuung suchen.

Die Leistungen der Krankenkassen und die privat angebotenen Tests, die beim Gesamtkollektiv der Schwangeren Abweichungswahrscheinlichkeiten aufspüren, haben dazu geführt, dass mittlerweile 90% aller betreuten Frauen als »Risikoschwangere« gelten. Jede neue Generation von Verfahren der Gewebegewinnung und der genetischen Analyse, jeder strukturelle Ausbau des Vorsorgemarktes erweitert das Wissen über das, was in der Schwangerschaft »schief gehen könnte«. Die »Befürchtungen« nehmen rapide zu und damit das »Risiko« und die Mitmachbereitschaft – bis zum Abbruch der gewollten Schwangerschaft bei nachgewiesenen Qualitätsmängeln des Ungeborenen.

Die Entscheidung zum Abbruch wird im Raum der Anbieter und von vielen Frauen als individuelle Wahl und Zugewinn an Freiheit. Tatsächlich gibt es »Nachfragedruck«. Das »autonome Subjekte«, das frei entscheidet, urteilt und vor allem verantwortet ist eine Fiktion. Die Perfektionierung der Nachkommenschaft wird gerade nicht zwangsverordnet. Der institutionelle Kontext, mit seinen Reihenuntersuchungen, Risikomanagement, Qualitätsurteilen und Rechtsansprüchen, es erzieht die Subjekte, ebenso wie der erweiterte gesellschaftliche Kontext, mit seinen Gesundheitsidealen, Leistungsansprüchen und Reproduktionserwartungen an Frauen.

  • Ausufernde Einübungsprojekte

Widerspruchsfrei ist der Gesellschaftsentwurf molekulargenetischer Massenerfassungen nicht. Die Mitmachbereitschaft bei genetischen Pilotprojekten ist beschränkt. Die Sorge um soziale Ausgrenzungen gerade in Zeiten des Sozialabbaus groß. Und selbst die Pränataldiagnostik wird immer wieder kritisch diskutiert.

Im Mikrobereich der Politik am genetischen Risiko werden deshalb »Dialoge«, »Konsensuskonferenzen« mobilisiert. Die Mitmach- und Akzeptanzangebot sind reichhaltig, weil der Fortschritt nicht zentralstaatlich gelenkt und rein ökonomisch gestaltet wird. Pädagogisierung durch Ethik ist allgegenwärtig. In den Medien verhandeln »repräsentative« Experten in Talkshows nach dem Muster ‘Wie würden Sie entscheiden?’ den Umgang mit dem Wissen über’s Genom. »Eingriffe in genetische Informationen eröffnen zukunftsweisende Möglichkeiten«, so übt der Biologie-Lehrplan für die gymnasiale Oberstufe in Nordrhein-Westfalen Denkgewohnheiten ein, die für die Akzeptanz der Genomforschung wichtig sind. Eine Homepage aus dem Wissenschaftsministerium bietet für Multiplikatoren wie Journalisten und Journalistinnen in attraktiver Gestaltung, das Aktuellste über den Stand der Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes.

Selbsthilfegruppen erweisen sich als eine ideale soziale Form, um Bedürfnisse und Nachfrage nach neuen Diagnose- und Therapieverfahren und dazugehöriger Forschung zu erzeugen.

Besonders Betroffenen-Verbände werden zum Mitmachen aufgerufen. Selbsthilfegruppen erweisen sich als eine ideale soziale Form, um Bedürfnisse und Nachfrage nach neuen Diagnose- und Therapieverfahren und dazugehöriger Forschung zu erzeugen. Das haben die Pharmaunternehmen, Wissenschaftler und Kliniken erkannt und kooperieren mit den Betroffenenverbänden. Sie werden zum Multiplikator neuer genetischer Erkenntnisse, zum Pool für klinische Studien und genetische Testentwicklung. Im Gegenzug werden ihre Publikationen und Kongresse von Seiten der Pharmaindustrie finanziert. Hier entstehen Zonen, die im Fahrwasser der »Kundenorientierung« und »Partnerschaftsideologie« der Biomedizin mit dem Gedanken der Selbstvertretung nichts mehr zu tun haben, sondern eher auf »Komplizenschaft« und Popularisierung des »genetischen Risikokonzeptes« hinauslaufen.

Die Deutsche Parkinson Vereinigung e.V. führt mit einem Sponsor-Zirkel Kampagnen durch. Dort ist alles vertreten, was Rang, Namen und Marktinteressen hat: von Hoffmann-La Roche über Lilly Deutschland bis Schering und SmithKline Beecham und professionelle PR-Agenturen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte vertritt 80 bundesweit tätige Selbsthilfeverbände mit 850.000 Mitgliedern. Im Namen vieler werden Forschungsprogramme und klinische Studien begrüßt und die aktiv mit gestaltende Rolle der Behindertenverbände befürwortet. Im Beirat der Deutschem Morbus Crohn/Colitis ulcerosa Vereinigung (DCCV) sind mittlerweile 130 Wissenschaftler, Ärzte und andere Experten vertreten, Mit eigener Forschungsförderung, Forschungspreisen und Ausbildungsstipendien wird die Agenda der Biowissenschaft aktiv mitgestaltet. Für die genetische Forschung hat die Vereinigung ihre Mitglieder schon mal zur Blutprobe aufgefordert, um eine Arbeitsgruppe des Berliner Universitätsklinikums Charité zu unterstützen.

Wie weit die Gestaltungskapazitäten von PatientInnenorganisationen reichen können, zeigt das Beispiel der AFM, einer französischen Betroffenengruppe für Muskeldystrophie. Ihr Vorsitzender machte schon in den 80er Jahren, die genetische Forschung zur Priorität. Nach einer Ausgabe der Fernsehsendung »Téléthon« zum Thema Muskeldystrophie flossen 300 Millionen Francs an Privatspenden in die Kassen des Verbandes. Die 30(!)-stündige Mammut-Talkshow kombinierte Berichte über Einzelschicksale mit Neuigkeiten aus der Wissenschaft. Ein Teil der Einnahmen diente dem Aufbau des französischen Genomforschungszentrums Généthon, das der anfangs zitierte Daniel Cohen leitet.

Die Selbsthilfegruppen, die sich mit so genannten »orphan diseases«, mit seltenen Krankheiten befassen, gestalten die Forschungsagenda mit. Die Firma Big Pharma, die auf diese seltenen Krankheiten spezialisiert ist, wird direkt von Selbsthilfegruppen angesprochen. An der Uni-Kinderklinik in Hamburg wird die molekulargenetische Forschung zu Mukopolysaccharidose von der Selbsthilfegruppe mit finanziert. Oder man betreibt die Forschung gleich selbst, so wie die Betroffenenorganisation PXE International, die eine Blutbank für PXE-Kranke aufbaut. (»PXE« betrifft die Haut, Netzhaut und Blutgefäße im Herz- und Magen-Darm-Bereich und wird auf ein »abnorm elastisches Gewebe der Arterienwände« zurückgeführt.) Die Forschungen in Laboratorien mit den gesammelten Daten und Gewebeproben führte zum »PXE-Gen«, an dessen Patent die Selbsthilfegruppe als erste Patientenorganisation Mitinhaber geworden ist.

Die gesamte Gesellschaft wird zum Laboratorium und Vorsorge zur ersten Bürgerpflicht.

Die Zusammenarbeit zwischen Forschung und Wissenschaften und Selbsthilfeorganisationen sind schon nicht mehr sporadisch. Mittlerweile gibt es neue Formen der Forschungsförderung: die so genannten Kompetenznetzwerke. Diese Netzwerke führen Universitätskliniken, Fachkrankenhäuser, Psychiatrien, Arztpraxen, Forschungsabteilungen der pharmazeutischen Industrie aber auch Patienten- und Angehörigenorganisationen zusammen. Die Molekulargenetik spielt zwar eine prominente Rolle, beispielsweise im Kompetenznetzwerk Schizophrenie. Denn man hält es für erwiesen, daß 50% der Erkrankungen genetisch bedingt seien. Doch auch die Umweltbedingungen haben in Anbindung an die molekularen Forschungen eine Bedeutung. Auch hier wird nicht allein der Weg der genetischen Stigmatisierung und der Selektion beschritten. Es geht um Früherkennung – nicht von akut Kranke, sondern um die Identifikation von Schizophrenierisiken und Risikopersonen. Ressourcezentren für DNA und Zellinien, Blut- und Hirnbanken sollen Aufschluß über molekulare (nicht nur molekulargenetische) Prozesse geben. »Effizientere« Therapien, molekulare wie auch psychologische, neue Medikamente auf Basis der Pharmakogenetik werden versprochen. Die Rehabilitation solle besser werden, die Öffentlichkeitsarbeit werde ausgebaut und Gesundheitsökonomie könne Kosten sparen. Zunächst geht es aber um eine flächendeckende Erfassung in Schulen, Hausarztpraxen und Erziehungsberatungsstellen, wo über Screening-Bögen »Risikopersonen« ausfindig gemacht werden. Angehörigen- und Betroffenenorganisationen dürfen hier teilnehmen, am Projekt der Substanzsammlung und der Verbreitung von Risiko-Aufmerksamkeit und Vorsorgepolitik.

Damit wird das Leben mit Schizophrenie nicht leichter werden, die Versprechen durch frühzeitiges Eingreifen (in der Regel medikamentöses auf höchsten Stand von Wissenschaft und Forschung) Krankheit vermeiden zu können, werden sich nicht bewahrheiten. Vielmehr wird das »Risiko« zur alles überschattenden Kategorie und Schizophrenie beispielsweise zur »Volkskrankheit« mit enormen gesundheitsökonomischen Folgekosten.

Dabei wird die gesamte Gesellschaft zum Laboratorium und Vorsorge zur ersten Bürgerpflicht. Am Ende man wird sich selbst und anderen erklären müssen, mit welcher Sorgfalt Risiken erkannt und frühzeitig vermieden wurden, ob die Teilnahmebereitschaft an klinischen Studien ausreichend war, wenn man schließlich doch noch erkrankt. Um diesen umfassenden Ein-Übungsprogrammen in das Morgen zu entgehen, bedarf es einer vielgestaltigen Sandkorn-Politik, die den öffentlichen Diskurs auf all diesen Ebenen zu beeinflussen versucht. Vor allem aber bedarf es der politischen Einsicht, daß wir es nicht mit einzelnen Techniken und allein wissenschaftlichem Wissen zu tun haben. Das Projekt der molekularen Zukunft ist ein Gesellschaftsentwurf, der letztlich alle zur Ressource einer bioindustriellen und biowissenschaftlichen Revolution erklärt und in ein ordnungspolitisches Projekt einzubinden trachtet, das eugenische Planungen und umfassende Verhaltenssteuerung im Modell der »Chance zur Selbstoptimierung« zum gesellschaftlichen Normalfall macht.

© Erika Feyerabend, 2003
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