»Nur in beschränktem Umfang in der Lage«
Zur Vorbereitung der Reform des Transplantationsgesetzes veranstaltete der Bundestag im Juni 2011 zwei Anhörungen. Unter den »Sachverständigen« war auch der Ärztliche Direktor des Berliner Uniklinikums Charité, Professor Ulrich Frei. Der Nierenspezialist, der gern auf seine langjährige Mitarbeit in Gremien von Bundesärztekammer, Eurotransplant und DSO verweist, äußerte in seiner Stellungnahme Bemerkenswertes zur Entscheidungsgrundlage für die Vermittlung von Körperteilen:
»Das Transplantationsgesetz hat der Bundesärztekammer die Aufgabe übertragen, Regeln zur Organverteilung auf der Grundlage der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zu erstellen. Trotz redlicher Bemühungen ist die Bundesärztekammer zur Entwicklung solcher Regeln nur in beschränktem Umfang in der Lage, weil ihr wesentliche Grundlagen zur Nutzung medizinischer Erkenntnisse fehlen. Eine faire und gerechte Verteilung von Organen nach gesetzlicher Vorgabe setzt Kenntnisse über die Erfolgsaussicht von Verteilungsregeln ebenso voraus, wie Kenntnisse über die Risiken und Folgen der Zuteilung eines bestimmten Organs und über die Konsequenzen einer nicht erfolgten Transplantation.
Aus diesem Grund muss Gegenstand der Novellierung auch die Etablierung von Krankheitsregistern (Niere, Leber, Herz)sein, die den natürlichen Krankheitsverlauf mit und ohne Transplantation dokumentieren und als Erkenntnisgrundlage für Verteilungsentscheidungen dienen können. Gegenwärtig ist man als Surrogat auf sehr alte Daten oder Daten aus den USA angewiesen.«
Verschwiegene Manipulationen
ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin
Verschwiegene Manipulationen
- Organe werden nach interpretationsoffenen Regeln verteilt – und die Überprüfung möglicher Verstöße erfolgt vertraulich
aus: BIOSKOP Nr. 56, Dezember 2011, Seiten 8+9
Kommissionen sollen regelmäßig prüfen, ob Nieren, Lebern, Lungen und Herzen für Transplantationen nach geltenden Regeln verteilt werden. 114 »Vorgänge« zu fragwürdigen Organvermittlungen sollen seit dem Jahr 2000 aktenkundig geworden sein. Welche Regeln wurden wie verletzt? Wie viele Manipulationen blieben ganz oder teilweise unerkannt? Fragen, auf die es keine öffentlichen Antworten gibt. Die Kommissionen, angesiedelt bei der Bundesärztekammer, tagen »vertraulich«.
»Aus Sicht der Krankenkassen ist die Akzeptanz der Organspende aber in hohem Maße abhängig von der Berichterstattung in den Medien; daher sei der streng vertrauliche Rahmen der Kommissionsarbeit ohne Alternative«, liest man im IGES-Gutachten vom 29. Mai 2009. Das Institut hatte im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit zahlreiche AkteurInnen der Transplantationsmedizin sowie MitarbeiterInnen von Ministerien befragt – auf fast 800 Seiten werden Erfahrungen »zehn Jahre nach Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes« bilanziert (Siehe BIOSKOP Nr. 46).
Der dicke Bericht, veröffentlicht als Bundestagsdrucksache 16/13740, ist bemerkenswert. Denn nicht nur die Medien, sondern auch PolitikerInnen und öffentliche Institutionen erfahren so gut wie nichts über die Arbeit der von den Krankenkassen angesprochenen Kommissionen zur Überwachung und Prüfung der Transplantationsmedizin. Beide Gremien sind bei der Bundesärztekammer (BÄK) angesiedelt, sie sollen sicher stellen, dass die Koordinierungsstelle Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO), die Organvermittlungszentrale Eurotransplant (ET) und die Transplantationszentren nach geltendem Recht handeln.
Von systematischer Kontrolle kann man sicher nicht reden. Die Prüfungskommission untersucht »stichprobenartig« nur ein bis fünf Prozent der Vermittlungsentscheidungen.
Die Vorgaben des Transplantationsgesetzes (TPG) sind allerdings recht vage, insbesondere zur wichtigen Frage, wie transplantierbare Organe verteilt werden; als Vermittlungskriterien nennt das TPG die Begriffe »Erfolgsaussicht« und »Dringlichkeit«, jedoch ohne diese Begriffe zu definieren. Statt dessen wurde die BÄK gemäß § 16 TPG ermächtigt, Kriterien für Wartelisten und Verteilungsentscheidungen festzulegen, und das tut sie mit ihrer Ständigen Kommission Organtransplantation. Diese Art der »Selbstverwaltung« verleiht der BÄK enorme Macht: Sie definiert den Stand der medizinischen Wissenschaften, formuliert Richtlinien und wirkt obendrein in denjenigen Kommissionen mit, die über die Einhaltung der Regeln wachen sollen. Die beiden so genannten Kontrollinstanzen sind personell nahezu identisch. Ihre Mitglieder werden von BÄK, Deutscher Krankenhausgesellschaft und den Spitzenverbänden der Krankenkassen benannt.
Von ihrer Einrichtung im Jahr 2000 bis Ende 2010 sind laut aktuellem BÄK-Tätigkeitsbericht in der Prüfungskommission 114 Vorgänge »klärungsbedürftiger Auffälligkeiten« im Bereich »Allokation« (Organverteilung) thematisiert worden. Von systematischer Kontrolle kann man sicher nicht reden. Laut IGES-Bilanz untersuchen die Kontrolleure »stichprobenartig« nur ein bis fünf Prozent (%) der Vermittlungsentscheidungen von Eurotransplant.
Alle anderen Unregelmäßigkeiten wurden als Qualitätssicherungsmangel und »situativ organisatorische Probleme« bewertet und bei Seite gelegt.
Die Überwachungskommission nimmt einmal im Jahr die Arbeit der DSO unter die Lupe. Diese Koordinierungsstelle ist vertraglich verpflichtet, der Kommission die »erforderlichen« Unterlagen und Auskünfte zu geben. Was als »erforderlich« zu verstehen ist, bleibt für Interpretationen offen, in der Praxis kann die DSO ihre Spielräume selbst auslegen.
Am bisher ungeklärten Beispiel auffällig vieler PrivatpatientInnen, die in der ET-Datenbank registriert sind, zeigt sich: Das Phänomen scheint intern weder aufgefallen zu sein, noch hat es offenbar jemanden beunruhigt. Im IGES-Gutachten wird vermutet, dass die DSO und die Klinik ihren Datenfluss gar nicht auf Plausibilitäten geprüft haben und bei fehlendem Versichertenstatus die Patienten einfach als »Selbstzahler« kategorisierten. Was in den Transplantationzentren passiert, wird ohnehin nur indirekt erkannt, vor allem, wenn ET Auffälligkeiten meldet. Bei den bis 2009 überprüften 98 Fällen sollen gemäß IGES-Bericht viermal umfangreiche Prüfberichte erstellt und einmal eine transplantierende Klinik besucht worden sein. In weiteren 17 Fällen seien Verstöße gegen Allokationsrichtlinien oder das TPG festgestellt worden, Sanktionen wurden nicht vermeldet.
Alle anderen Unregelmäßigkeiten wurden als Qualitätssicherungsmangel und »situativ organisatorische Probleme« bewertet und bei Seite gelegt. Die Eingriffs- und Sanktionsrechte sind spärlich. Das System der Binnenkontrolle ist im großen und ganzen auf freiwillige Auskünfte von Transplantationszentren und DSO angewiesen. Hans Lilie, Strafrechtsprofessor an der Universität Halle und Vorsitzender der Ständigen Kommission Organtransplantation hat Zweifel, ob das BÄK-Gremium sich perspektivisch auf die bislang vermutete Kooperationsbereitschaft verlassen kann: »Offen bleibt freilich, ob dies in der Zukunft auch so sein wird, da doch leider festzustellen ist, dass die Verstöße gegen das TPG an Schwere zugenommen haben.«
»Die idealen postmortalen Organspender mit Schädelhirntrauma ohne Schäden an inneren Organen machen nur noch circa drei Prozent der Spender aus.«
»Die idealen postmortalen Organspender mit Schädelhirntrauma ohne Schäden an inneren Organen machen nur noch circa 3 % der Spender aus«, sagte Thomas Breidenbach von der DSO im Dezember 2010 dem Deutschen Ärzteblatt. Die meisten Körperteile sind vorgeschädigt und werden PatientInnen entnommen, die älter als 65 Jahre sind und/oder beispielsweise an einer Tumor- oder Viruserkrankung litten oder auch länger beatmet auf einer Intensivstation zugebracht haben.
Diese Körperteile werden nicht nach der allgemeinen Warteliste zugeteilt, sondern nur an Zentren, die solche Schädigungen akzeptieren und in der gleichen Region liegen, um lange und riskante Transportwege zu vermeiden. Chirurgen bieten die Organe unter höchstem Zeitdruck persönlich ausgewählten EmpfängerInnen im eigenen Haus an. Auch wenn aus medizinischen oder organisatorischen Gründen drei Kliniken – bzw. fünf bei der Niere – ein Angebot ablehnen, können Transplantationsmediziner in einem »beschleunigten Verfahren« Organe selbst zuteilen. 2007 fanden 27 % der Lebern, 23 % der Herzen, 33 % der Lungen und 7 % Prozent der Nieren auf diese Weise ihre EmpfängerInnen – jenseits der »einheitlichen Warteliste«. Selbst Krankenkassen, BÄK und ET finden diese Praxis kritisch, intransparent und schlecht dokumentiert.
Die Bundesärztekammer verweist auf mögliche »Manipulation von Daten bei der Anmeldung von hochdringlichen Transplantationen«.
Ein offenes Feld für Manipulationen bietet auch der High-Urgent-Status (hochdringlich). An allen Wartenden vorbei bekommen PatientInnen mit diesem Etikett ein Organ – nahezu 80 % der HerzpatientInnen und 56 % der Lungenkranken. Im IGES-Gutachten beurteilen viele Akteure im Transplantationswesen diese Praxis als problematisch: »Zwar seien HU-Verfahren grundsätzlich notwendig (…) das gegenwärtige Verfahren weise aber aufgrund seines geringen Standardisierungsgrades eine Manipulationsanfälligkeit auf, die sich in großen Zentrenunterschieden hinsichtlich des Anteils an HU-Fällen (…) niederschlage. Die BÄK verweist auf mögliche »Manipulation von Daten bei der Anmeldung von hochdringlichen Transplantationen«.
Strafrechtler Lilie schildert diskret – also ohne die Beteiligten beim Namen zu nennen – eine weitere »Auffälligkeit«, die zu denken gibt. Ein deutsches Transplantationszentrum, das mit einem Krankenhaus im Ausland kooperiert, meldete für die einheitliche Warteliste einen Patienten an, der außerhalb der ET-Mitgliedsstaaten wohnt. Als ET ihm ein passendes Organ zuteilte, befand sich der Kranke in seinem Heimatland. Das Zentrum tat aber so, als sei er gerade in Deutschland. Tatsächlich schickte es ein Team auf die Reise zwecks Transplantation in der ausländischen Partnerklinik. Der Patient starb kurz nachdem das Transplantationsteam an seinen eigentlichen Arbeitsplatz zurückgekehrt war.
»Kostendruck und Wettbewerb scheinen den Vorwand für Eingriffe in das System zu fördern.«
Man erfährt: Praktisch möglich ist ein solches Vorgehen – wenn auch gegen die geltenden BÄK-Richtlinien zum TPG. Die Zentren haben sich mit ET eigene, unverbindliche Regeln gemacht, die ökonomisch inspiriert sind: Sie wollen Herz-, Lungen- oder LeberpatientInnen aus fernen Ländern transplantieren, die nicht hierzulande versichert sind, sondern den Preis der Operationen selbst bezahlen. Laut frei vereinbarter, im TPG aber nicht vorgesehener »Non-ET-Resident-Regel« sollen bis zu 5 % der Transplantierten des Vorjahres als Ausländer von außerhalb des ET-Gebietes auf der Warteliste angemeldet werden dürfen – und wohl per HU-Status ein Organ bekommen.
»Kostendruck und Wettbewerb scheinen den Vorwand für Eingriffe in das System zu fördern. Das hat unausweichlich aber zur Konsequenz, dass das Kontrollsystem zur Einhaltung des TPG und der dazu verfassten Richtlinien einer konsequenten und harten Kontrolle bedarf«, schreibt Jurist Lilie in seinem Aufsatz »Überwachung und Prüfung der Transplantationsmedizin«, gedruckt 2009 in einer Festschrift für den Medizinrechtsprofessor Erwin Deutsch. Das Buch kostet 159,95 Euro und ist wohl nur Fachleuten bekannt.
Wenn sie sich öffentlich zu Wort melden, werben sie für mehr »Organspenden«.
Von unabhängiger Kontrolle und transparenter Informationspolitik über Missstände kann seit Jahren keine Rede sein. BÄK, Krankenkassen, Transplantationsmanagement und Politik schweigen mehrheitlich. Wenn sie sich öffentlich zu Wort melden, werben sie für mehr »Organspenden«.
© Erika Feyerabend, 2011
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