»Strukturelles Problem«
»Revival der Hirntod-Debatte: Funktionelle Bildgebung für die Hirntod-Diagnostik« lautet der Titel eines lesenswerten, brisanten Aufsatzes, den Sabine Müller für die Zeitschrift Ethik in der Medizin (Ausgabe Nr.1/März 2010, Seiten 5-17) geschrieben hat. In einer Fußnote geht die Berliner Physikerin und Medizinethikerin zudem auf Ursachen des so genannten »Organmangels« ein:
»Die Kluft zwischen Organnachfrage und Organangebot ist ein strukturelles Problem. Erstens steigt die Nachfrage nach Organen mit dem zunehmenden Durchschnittsalter sowie mit der Zunahme von Organversagen in Folge von Übergewicht, Medikamenten- und Drogenmissbauch. Zweitens sind hohes Alter und schwere systemische Erkrankungen seltener als früher Ausschlusskriterien für eine Transplantation. Drittens wird eine Transplantation umso eher zur Therapie der Wahl, je mehr Transplantationen gelingen. Und viertens steigt mit der Zahl der Transplantationen die Zahl der Retransplantationen.
Während die Nachfrage nach Organen steigt, sinkt das Angebot mit jeder Verbesserung der Verkehrssicherheit (Geschwindigkeitsbegrenzungen, Anschnallpflicht, Airbags) und der Therapie von Hirntraumata.«
Leben Hirntote noch?
MARTINA KELLER, Journalistin
Leben Hirntote noch?
- Neue Erkenntnisse reanimieren eine für tot gehaltene Debatte
aus: BIOSKOP Nr. 51, September 2010, Seiten 12+13
Als Christiaan Barnard 1967 in Kapstadt erstmals das Herz einer hirntoten Frau verpflanzte, verhalf er einem neuen Todeskriterium zum Durchbruch: Bereits im Jahr darauf definierte eine Kommission der Harvard Medical School den Hirntod als den Tod des Menschen. Seither setzte sich der neue Standard weltweit durch. Manche Länder wie die USA verankerten ihn sogar per Gesetz. Neuere Studien zu Hirntoten sowie Fortschritte in der bildgebenden Diagnostik haben Zweifel an Todeskonzept und Diagnostik wieder wach gerufen.
Eine Antwort auf die Frage, ob der Hirntod als Tod des Menschen zu begreifen sei, hat der Gesetzgeber in Deutschland vermieden. Im Transplantationsgesetz von 1997 heißt es lediglich, nur Toten dürften lebenswichtige Organe entnommen werden. Die Entnahme sei zudem unzulässig, wenn nicht zuvor der endgültige Ausfall des gesamten Gehirns festgestellt worden sei. Die Bundesärztekammer (BÄK) hingegen bezieht in ihren Richtlinien zur Transplantation eindeutig Position: »Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt«, heißt es dort.
In Deutschland wie in anderen Staaten argumentieren Befürworter dieser Todesdefinition mit der herausragenden Bedeutung des Gehirns: Wenn es zerstört sei, falle die Steuerungszentrale für sämtliche Körperfunktionen aus. Zudem brächen nach Absterben des Gehirns in kurzer Zeit auch alle anderen Körperfunktionen zusammen. Diese Annahmen sind allerdings mittlerweile so stark erschüttert, dass der US-amerikanische Bioethikrat sich Ende 2008 zu einer Stellungnahme gezwungen sah. In seinem Report Controversies in the Determination of Death verwirft er die bisherigen physiologischen Begründungen für den Hirntod.
Der Rat zitiert eine Studie des Neurologen Alan Shewmon aus dem Jahr 2001, die vielfältige Beispiele dafür anführt, dass Hirntote durchaus noch über komplexe Steuerungsfunktionen verfügen: Ihr angeblich toter Körper ist in der Lage, seine Temperatur, den Blutfluss und Hormonhaushalt selbstständig zu regulieren, Hirntote verdauen und scheiden aus, ihr Immunsystem kann mit einer Abwehrreaktion auf Infektionen oder Verletzungen antworten. Auf Schmerzreize reagiert ihr Körper mit Blutdruckanstieg. Hirntote Kinder können sexuell reifen. Im Leib von hirntoten Schwangeren können Föten heranwachsen. Shewmon folgert aus seinen Beobachtungen, dass das Gehirn eben nicht als Integrationszentrale für alle menschlichen Körperfunktionen wirkt. Integrationskraft könne keinem einzelnen Körperteil zugeschrieben werden, sondern sie sei ein Zusammenspiel des gesamten Organismus.
Der nahe liegende Schluss wäre, dass die bisherige Praxis der Organentnahme bei Hirntoten verboten werden müsste, weil sie gegen das Tötungsverbot verstößt.
Das zweite Hauptargument der Befürworter, wonach innerhalb kurzer Frist nach dem Hirntod der gesamte Organismus zusammenbreche, lässt sich systematisch nicht untersuchen, weil den Betroffenen entweder Organe entnommen werden oder sie nach Abstellen der Beatmung sterben. Man weiß allerdings von hirntoten Schwangeren, in deren Leib ein Fötus weiterwachsen soll, dass der vermeintlich tote Organismus Monate lang am Leben gehalten werden kann, wenn er intensivmedizinisch versorgt wird. In einer vom US-Bioethikrat zitierten Veröffentlichung werden elf solcher Fälle bis 2003 dokumentiert.
Der Düsseldorfer Philosoph Dieter Birnbacher, der noch 1993 den vollständigen und endgültigen Ausfall der Hirntätigkeit als »Todeszeichen des Menschen« gewertet hatte, folgert aus solchen Befunden: »Bei der Explantation von Organen von Hirntoten werden einem lebenden Organismus Organe entnommen.« Der nahe liegende Schluss wäre, dass die bisherige Praxis der Organentnahme bei Hirntoten verboten werden müsste, weil sie gegen das Tötungsverbot verstößt. Doch Birnbacher, Mitglied der Ständigen Kommission Organtranspantation der BÄK, argumentiert anders; er fordert, die sogenannte dead donor rule aufzugeben. Nach dieser Regel dürfen lebenswichtige Organe nur Toten entnommen werden, sie zählt zu den wichtigsten Prinzipien der Transplantationsmedizin.
Birnbachers Forderung bedeutet einen Tabubruch, doch der BÄK-Berater steht damit nicht allein. Auch der US-amerikanische Medizinethiker und Anästhesist Robert Truog plädiert dafür, unter bestimmten Umständen Organe von noch lebenden Spendern zu entnehmen. Laut Truog würde es einen hohen Aufwand an Selbsttäuschung erfordern, den Hirntod weiterhin als biologischen Tod des Menschen zu bezeichnen. Er nennt auch den Grund dafür, warum viele Anhänger des Hirntodkonzepts trotz schwindender naturwissenschaftlicher Evidenz hartnäckig an dieser Sichtweise festhalten: Der Transplantationsmedizin würde sonst die Basis entzogen. Eine Konsequenz, die laut dem Potsdamer Medizinethiker Ralf Stöcker selbst viele Kritiker des Hirntodkonzepts nicht wünschen.
Der amerikanische Bioethikrat hält am Hirntodkonzept fest, indem er Merkmale von lebenden Organismen so definiert, dass Hirntote sie nicht aufweisen.
Der amerikanische Bioethikrat hält am Hirntodkonzept fest, indem er Merkmale von lebenden Organismen so definiert, dass Hirntote sie nicht aufweisen. Dies bewertet die Berliner Medizinethikerin Sabine Müller als Versuch, »den Tod so zu definieren, dass er den Interessen der Transplantationsmedizin dient«. Mit seiner Argumentation verstoße der Rat zudem gegen ein wichtiges wissenschaftliches Prinzip: »Obwohl die empirische Hypothese, mit der bisher die These ‘Hirntod = Tod’ begründet wurde, falsifiziert worden ist, wird diese These nicht aufgegeben, sondern eine neue Begründung eingeführt – die statt auf einer falsifizierbaren empirischen Hypothese auf einer naturphilosophischen Setzung basiert.«
Auch von anderer Seite gerät das Hirntodkonzept unter Druck. Neuere bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) können Hirnaktivität sensibler und zuverlässiger feststellen als die derzeit in der klinischen Hirntoddiagnostik eingesetzten Verfahren. Die wenigen Studien an Patienten mit schweren Störungen des Bewusstseins zeigen, dass das Wissen um isolierte Hirnaktivität und ihre Bedeutung noch sehr begrenzt ist. So zeigte eine Studie an Patienten im minimalem Bewusstseinszustand, dass deren Antworten in der Großhirnrinde auf Sprache oder Berührung sich kaum von denen gesunder Kontrollpersonen unterschieden.
Der amerikanische Neuropsychologe Joseph Giacino vermutet, dass bei manchen Wachkomapatienten bestimmte Areale in der Großhirnrinde noch funktionsfähig sind und auf Schmerzreize und Sprache reagieren, wobei diese Reaktionen nicht auf höherer Ebene integriert und somit nicht bewusst werden. Die Reaktionen könnten nur mit Hilfe funktioneller Bildgebung sichtbar gemacht werden.
In Deutschland sind bildgebende Verfahren bei der Hirntoddiagnostik bislang nicht vorgeschrieben.
Vor dem Hintergrund solcher Erkenntnisse warnt Sabine Müller in ihrem Aufsatz »Revival der Hirntod-Debatte« in der Zeitschrift Ethik in der Medizin vor möglichen Fehlern bei der Hirntoddiagnostik. Wie oft fälschlich der Hirntod eines überlebensfähigen Patienten bescheinigt werde, sei völlig unbekannt, da derartige Fehldiagnosen nur in den seltensten Fällen bemerkt würden. Wenn man schon am Hirntod als Voraussetzung der Organentnahme festhalte, müsse zumindest die Diagnostik verbessert werden. In Deutschland sind bildgebende Verfahren bei der Hirntoddiagnostik bislang nicht vorgeschrieben.
Laut Müller müsste die zerebrale Angiographie, also eine Darstellung der Gefäße im Gehirn, zum Standard werden, in Zweifelsfällen sollten auch andere Verfahren wie fMRT oder PET hinzugezogen werden. Die Medizinethikerin vermutet allerdings, dass diese Forderung auf Widerstand stoßen wird. Nicht nur weil die verbesserte Diagnostik teurer würde, sondern auch weil sie die Zahl der Spenderorgane vermindern dürfte – um, so Müller, »schätzungsweise rund zehn Prozent«.
© Martina Keller, 2010
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Autorin