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ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin

Die Karriere molekularer Substanzen

  • Politik im Zeichen von Genom und Stammzelle

aus: Forum Wissenschaft, Nr. 4, Oktober 2001, Seite 25-27

Bunt und unterhaltsam wird uns allerorten »Wissenschaft zum Anfassen« geboten. Eine Art totaler Mobilmachung im öffentlichen Raum, organisiert von Forschungsministerium, Wissenschaftsorganisationen und der Kreativagentur für Public Relations. Auf Straßen und Plätzen, in Bahnhöfen, Museen und Universitäten hält das biowissenschaftliche Infotainment Einzug. Die Stars der Manegen: Doppelhelix und Stammzelle.

Die Inszenierungen und Events sollen nicht nur publikumsnah und sinnlich erfahrbar sein, sondern auch noch kontrovers. Dem Zauberwort »Dialog« wird mittlerweile ein zweiter Begriff zur Seite gestellt: der »Disput«. Doch es ist ein Monolog der Biowissenschaften. Die einen, die ExpertInnen, zeigen, schreiben, reden. Unterstützt von PädagogInnen und PRAgenturen sollen die anderen – das Publikum – hören, staunen, sehen. Die überaus simple Vorstellung dahinter: WissenschaftlerInnen wissen – sie haben vor allem das Problem, verstanden zu werden. Mit der »vermeintlichen Aufklärung der Unaufgeklärten oder einer Erziehung der Unerzogenen durch die Wissenschaft« soll die ärgerlich störrische Unbelehrbarkeit von Teilen der Öffentlichkeit niedergekämpft (1) werden. Das heißt dann »Wissenschaft im Dialog« und »Disput«.

  • Permanente Belehrung

Für derlei Akzeptanzübungen und Beteiligungstheater bedarf es einer permanenten Belehrung in Wort und Schrift, vor allem aber im Bild. Visualisierte Labordinge sind allgegenwärtig, seien es stilisierte Zellen oder Embryonen im Frühstadium. Vor allem die Doppelhelix bevölkert Firmen- und Veranstaltungslogos. Sie schwebt als vierfarbige Wendeltreppe auf Zeitungsseiten oder durch Wissenschaftssendungen. In Anlehnung an den Begriff »Stereotyp« hat der Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen diese Embleme moderner Wissenschaften Visiotype« genannt. (2)

Befreit vom Entstehungszusammenhang und jeder gesellschaftlichen Wirkung, erscheinen solche Visiotype objektiv, widerspruchslos und ästhetisch. Sie sind ausgestattet mit der Autorität der Wissenschaften und allen Insignien der Heilsversprechen. Die Doppelhelix steht für den fast geklärten Vererbungsvorgang, ein einfacher Kopiermechanismus, der im Zeitalter serieller Produktion schnell von allen verstanden wird. Die Stammzelle hat binnen kürzester Zeit Karriere gemacht, als Begriff und als neues Emblem für das »menschliche Leben« schlechthin. Vor zehn Jahren machten die Aufnahmen des Photographen Lennart Nilsson das »Leben« öffentlich sichtbar. Seine wahrnehmungsleitenden Bilder vom (toten} Embryo veränderten Schwangerschaft umfassend und unterfütterten die Politik mit dem »Lebensschutz«. Die Stammzelle wird aktuell präsentiert als ein mehrzelliges Gebilde, das nicht mehr ansatzweise eine kindgemäße Gestalt hat. Entscheidend ist das genetische Programm, das für »Leben« steht und bereits populär war, bevor die Stammzelle das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Auch das neue Objekt gilt als identifiziert, als kopierfähig und biomedizinisch interessant. Die »Jahrhundertzelle« ist ähnlich wie die DNA universal einsetzbar, sie kann technisch manipuliert werden und ist zum Wahrzeichen (oder Warenzeichen?) einer sich neu formierenden Forschergemeinde und Bioindustrie geworden.

  • Anspruch und Wirklichkeit

Wirklichkeitsmächtig sind sie, diese Visiotype. Die Vorstellung vom Körper als genetische Inforrnationsverarbeitungmaschine oder das Bild der Frau als embryonales Umfeld sind so allgegenwärtig wie die Meinung, biowissenschaftliches Forschen würde vor allem durch die Heilungsperspektiven angetrieben.

Sind diese Wirkungen einfacher Effekt der Popularisierung wissenschaftlicher Wahrheiten um sie dem Laienpublikum verständlich zu machen? Oder reine Werbung für Biofirmen? Die wirkliche Welt der Wissenschaft ist gänzlich anders. WissenschaftlerInnen wissen, dass ihre Arbeit und ihre Resultate weniger bezaubernd und ästhetisch sind. Hier zählen Fakten, das wiederholbare Experiment. Erst nachträglich werden die wissenschaftlichen Tatsachen gesellschaftlich aufgeladen – dann, wenn sie der Öffentlichkeit präsentiert werden, als Werbung und Legitimation.

»Erkennen«, eben auch wissenschaftliches Erkennen, schrieb der polnische Arzt Ludwik Fleck in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, »ist die am stärksten sozialbedingte Tätigkeit des Menschen«. (3) Das Bild der Wissenschaft als Ereignis individueller Leistung und Suche nach objektiver Wahrheit, verfolgt von forschenden Heroen im Dienste der Menschheit, bedarf der Korrektur. Inszenierungen dieser Machart füllen zwar die Geschichtsbücher und werden für die Öffentlichkeit stetig neu mobilisiert. Doch schon vor fast siebzig Jahren analysierte Ludwick Fleck sie als soziale Tätigkeit, als Selbstinszenierung der Forschergemeinde: Es ist die »gemeinsame Verehrung eines Ideals, des Ideals objektiver Wahrheit, Klarheit und Genauigkeit. Sie besteht aus dem Glauben, daß Verehrtes erst in weiter, vielleicht unendlich weiter Zukunft erreichbar sei. Aus der Lobpreisung sich seinem Dienste aufzuopfern. Aus einem bestimmten Heroenkult und einer bestimmten Tradition.« (4) Die gemeinsame Verehrung bleibt nicht dem Wissenschaftskollektiv allein vorbehalten. Laien vertrauen Fachleuten und Fachleute vertrauen sich selbst und ihrem Selbstbild, das ihnen aIs öffentliche Meinung entgegentritt. Dies betrifft nicht nur den Expertenstatus, sondern auch die wissenschaftlichen Tatsachen. Sie entstehen einerseits hinter den recht undurchlässigen Mauern der Laboratorien in Universitäten und Forschungsinstituten. Im Vermittlungsprozess wird das Wissen aber vereinfacht, verallgemeinert, widerspruchsfrei – zur »Weltanschauung«. Je weiter es in die Gesellschaft einsickert, um so selbstverständlicher ist es, ausgestattet mit fast religiöser Sicherheit: »Da werden keine denkzwingenden Beweise mehr verlangt, denn das Wort ist bereits zum Fleisch geworden.« (5) Ein Beispiel für diese Sicherheit sind die bildlichen und sprachlichen Darstellungstypen der Vererbung als genetischer Informationsübertragung. Diese »molekulare Weltanschauung« prägt Laien und Experten. Die anschauliche Symbolik von Code und Wendeltreppe ist auch für »den Fachmann« ein »außergewöhnlicher, allgemeinwirkender Faktor jedes Erkennens«. (6) So enthält jedes Expertenwissen immer auch Begriffe und Modelle aus dem allgemeinen Wissensbestand, der prägend ist – für Forschungsrichtungen, Geldflüsse und den Denkstil aller.

  • Fortschrittsmaschinerien

Die weithin verbreitete Vorstellung einer »rationalen« und theoriegeleiteten Produktion von Wissen bedarf der Nachfrage. Hans-Jörg Rheinberger hat vor kurzem eindrucksvoll dargelegt, wie ein »Forschungsgegenstand« entsteht. (7) Wissenschafter/innen arbeiten an der Grenze zwischen Bekanntem und Unbekanntem. Innerhalb eines anerkannten Wissens- und Methodenrepertoires suchen sie nach Innovationen, probieren neue Versuchsanordnungen, irren sich und machen zufällige Beobachtungen. Das gehört zu ihrem Beruf und ist ihr höchstes Glück. Aus unklaren Ideen, interpretationsbedürftigen Materialien und vielen Irrtümern entstehen so auf verschlungenen Pfaden neue Objekte und Begriffe, zunächst einmal im Labor wie im innerwissenschaftlichen Gedankenverkehr.

Experimentelle Forschung, das ist ein »Generator von Überraschungen«, zufällig, provisorisch und auf ein Morgen hin orientiert, in dem noch mehr gewusst werden wird. Je mehr Fragen – und keineswegs Antworten – die Objekte und Begriffe hervorbringen, um so höher ist ihr Ausbreitungspotenzial. Stammzelle oder DNA treiben genau deshalb immer mehr Institute und Experten an und sie verändern die gesamte Forschungslandschaft. Die wissenschaftliche Karriere der DNA bestimmt längst nicht allein die Genetik und Fortpflanzungsmedizin. Sie hat auch die Biochemie, die Hirn- und Krebsforschung revolutioniert. Die Stammzelle – adult wie embryonal – erregt nicht nur die Phantasien der Gewebeproduzenten und Transplanteure, sondern ist ein Forschungsattraktor erster Güte geworden: in der Genetik, in der Gen»therapie« genannten Manipulation am Menschen, in der Medikamentenentwicklung oder beim Test von Giftstoffen aller Art. (8) Aus der molekularen Forschungslandschaft ist die Stammzelle nicht mehr wegzudenken. Sie ist fester Bestandteil der experimentellen Suche nach Neuem geworden.

Die Wissensproduktion in den Laboratorien eröffnet Anschlüsse verschiedenster Art. Im Spiel um Möglichkeiten des Wissens sind die Forscher nicht die alleinigen Herren. Medizinische Behandlungen, Kliniken, Forschungsförderung, Bioindustrie und Börse, Medienschaffende und Fernsehanstalten, Minister und Präsidenten orientieren sich an den neuen, provisorischen Wissensobjekten und machen sie zu wirklichkeitsmächtigen Ikonen. Fernab von Wahrheitssuche und guten Absichten wird dabei die Gesellschaft umfassend neu gestaltet.

  • Gesellschaftliche Zukunft aus dem Labor

Die Biographie der DNA reicht bereits Jahrzehnte zurück, lange bevor Öffentlichkeit und Krankenbehandlung sich auf das neue Objekt fokussierten. Ihren vorläufigen Karrierezenit erreichte die DNA mit den global in Szene gesetzten Arbeitsversionen ihres »Codes«. Eine kam aus dem Firmensitz des wissenschaftlichen Privatunternehmers Craig Venter, die andere steuerten staatlich alimentierte Forscher der Human Genom Organisation bei. (9) Wieder sind genügend Fragen offen geblieben. Politik und Forschungsförderung fühlen sich ganz und gar dem genetischen Dogma verpflichtet und steuern fast monatlich Geldströme in diesen Sektor. Kanzler Schröder preist die Genomforschung in öffentlichen Stellungnahmen an. Das BMBF organisiert ein neues nationales Genomforschungsnetz und stellte im April zweistellige Millionenbeträge zur Verfügung. Die Folgen für das Gesundheitswesen, für die Konstituierung von Risikopersonen und Populationen sind kaum absehbar. Das Informationsmodell wird in den Körper hineingeschrieben und revolutioniert dessen medizinische und soziale Behandlung.

Auch die Existenz der embryonalen Stammzelle begann bereits vor Jahrzehnten im Standard-Mäusemodell. Verschiedene Plastikschalen und Nährlösungen, technische Geräte und Manipulationsverfahren wurden erprobt. Eine provisorische Liste über vage zugeschriebene »Fähigkeiten« entstand. Besonders die Option, genetisch identische Zellen zu bilden – Klone also und spezifische Tumoren zu erzeugen, erregte die Aufmerksamkeit. Die Stammzelle wurde perfekt inszeniert, seit James Thomson und John Gearhart in Fachzeitschriften die gelungene Isolation und Vervielfältigung embryonaler Stammzellen aus künstlich erzeugten Embryonen oder abgetriebenen Föten plausibel machten. (10) Binnen zweier Jahre stieg das neue Objekt zum politischen Streitobjekt auf. Und auch die bislang noch recht unbekannte Stammzelle, gewonnen aus dem Gewebe geborener Menschen, hat im Zuge dieser Debatte einen ungeahnten Aufschwung erlebt. Grundlagenforschung an dem Konstrukt »adulte Stammzelle« wird großzügig in Sonderforschungsbereichen gefördert. Die DFG verkündete im Mai 2001 ihre Empfehlungen zur Forschung mit menschlichen Stammzellen. (11) Sie favorisiert die »adulte Stammzelle«, empfiehlt mittlerweile aber auch die Importerlaubnis für die begehrte »embryonale Stammzelle« und deren Herstellung in hiesigen Labors. Die Substanzen eignen sich zur Monopolbildung im internationalen Wettbewerb, an dem auch deutsche Forscher partizipieren sollen. International agierende Firmen wie Cardion aus Erkrath, mit Filialen in den USA, arbeiten an Mäusemodellen, an embryonalen wie adulten Stammzellen. (12) Die Leipziger Firma Vita34 setzt ebenfalls auf Zukunft: Sie bietet fachgerechte Lagerung von mütterlichem Nabelschnurblut an und stellt eine Revolution der Medizin durch Gewebeproduktion mittels Stammzelltechnologie in Aussicht. Für 3.500 Mark kann man schon heute eine Art biologischer Lebensversicherung für den Nachwuchs erwerben: Nabelschnurblut, »ein kostbares Gut«. (13) Die adulte Stammzellforschung wird vom Bundesministerium aufgestockt. Firmen wie Geron Corp. oder das Stammzell-Zentrum in Haifa bieten embryonale Zell-Linien zum Verkauf an. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Der Markt rund um die Stammzelle, seien sie aus Embryonen, geborenen Menschen, der Nabelschnur oder aus Mäusen gewonnen, sei es in Form von Drittmitteln, Risikokapital-Investitionen oder Firmengründungen, ist etabliert.

  • Moral an der Substanz

Die Grenze des gesellschaftlich Verhandelbaren im Bereich der Genom- und der Embryonenforschung ist verschoben worden. Im Lichte der Medien debattierte der Deutsche Bundestag über genetische Analysen und Nutzen mehrende Verwertungen am künstlich erzeugten Embryo. Der Nationale Ethikrat soll Voten verfassen und Politiker/innen bei ihren gesetzgeberischen Entscheidungen anleiten. Auch die Kirchen meldeten sich zu Wort. Meist wird Grenzziehung als das Gebot der Stunde angemahnt. Was darf WissenschaftlerInnen im Namen zukünftiger Therapie- und Wohlstandsversprechen zu tun erlaubt sein? Das zwingt in eine Logik der Güterabwägung, zwischen Therapieaussichten und Gefahrenpotenzialen.

Besonders in den Debatten um die Embryonenforschung zeigt sich die bioethische Güterabwägung zwischen Fortschritt {dem letztlich niemand weh tun will) und Moral (die sich schon heute an den molekularbiologischen Körperkonzepten orientiert) deutlich wie nie.

Die Frage, was in diesem Fall im Namen von Wissenschaft und Medizin erlaubt werden darf, wird von einigen Politikern und manchem Kirchenvertreter lebensschutzpolitisch genutzt: Wer Abtreibung erlaubt, kann Embryonenforschung nicht verbieten. Gebärzwang oder freies Forschen? Eine Alternative, die vielen nicht behagt. Einfach aus der Welt geschafft werden kann sie nicht. Denn: Mit Verschmelzung von Ei und Samenzelle gilt der Embryo als »menschliches Leben« und ist vom Staat zu schützen. Das war nicht immer so. Die Vorstellung vom rechtsverbindlichen Lebensbeginn ist erst mit der Neufassung des Paragraphen 218 StGB festgeschrieben worden. Die Situation der unwillentlich schwanger gewordenen Frau ist zum Konflikt zwischen zwei Lebensträgern geworden, nämlich dem Leben der Frau und dem des Embryos. Die ungewollt schwangere Frau kann abtreiben, wenn sie ihre Notlage in einer Beratung glaubhaft machen kann. Der unbeschränkte Zugang zum Embryo in der Petrischale bliebe in dieser Logik verboten. Im Labor gibt es keine Not, sondern Forschungsinteressen Dritter. Dennoch soll in beiden Fällen das gleiche Rechtsgut gefährdet sein: das »menschliche Leben«.

Das Argument zeigt die ganze Wucht der biowissenschaftlichen Körpersicht, die den Frauen schon auf den Leib geschrieben ist. Ohne Schwangerschaft und Geburt sind die Zellen im Labor gar nichts – weder Leben noch Mensch. Und auch nicht jede Schwangerschaft führt zum Kind. Die Frau muss neun Monate schwanger gehen, damit schließlich ein Kind geboren wird. Das ist ein körperlicher, seelischer, persönlicher Vorgang, der im abstrakten und molekularen Lebensbegriff keinen Platz mehr hat. Der Umgang mit biologischem Gewebe im Labor ist etwas ganz anderes und wirft andere Fragen auf. Wieso kommt das Gewebe ins Labor? Welche Rolle spielt eine Fortpflanzungsindustrie, in der die In-Vitro-Fertilisation als eine Möglichkeit und ein Markt hergestellt wird? Welche ökonomischen Interessen gibt es? Zu sprechen wäre über unhinterfragte und jahrelang unsichtbare Grundlagenforschung, über hergestellte Heilsversprechen, über die Unfähigkeit einer Gesellschaft, Alter und Krankheit zu ertragen. Über Menschenexperimente, die im großen Stil und an kranken und alten Menschen durchgeführt werden, um die Stammzelle zur therapeutischen Substanz zu machen. Zu sprechen wäre auch über die weniger sagbaren Optionen der Stammzellforschung. Im Abtreibungsparagraphen ist die genetische Prüfung des Embryos legitim und in der medizinischen Betreuung der Schwangeren die Regel. Die Gattungsgesundheit steht bei der Embryonenforschung, offensichtlich auch bei der Genomforschung, im Zentrum des Interesses. All dieses hat mit dem moralischen oder rechtlichen Eigenwert des Embryos nichts zu tun. Die gesellschaftspolitischen Wirkungen der biowissenschaftlichen Forschung, die biomedizinische Behandlung von Frauen, der Zustand des Gesundheits- und Befruchtungswesens sind in den Blick zu nehmen. Es sind die sozialen Konsequenzen für die geborenen Menschen zu diskutieren, die sich aus einer modernen Leibverfassung ergeben.

  • Ökonomie an der Substanz

Die embryonale Stammzellforschung, aber auch die gerne bemühte »Alternative«, die Forschung rund um die »adulte Stammzelle« und die Genomforschung, etablieren einen Markt der Versprechungen und der Körpersubstanzen, dessen Dimensionen noch weit gehend unbegriffen sind. Erstmalig wird – und zwar im industriellen Maßstab – der menschliche Körper in seiner Substanz verfügbar. Ob Eizellen, embryonales Gewebe oder Körperstoffe Erwachsener, alles kann bewirtschaftet und eigentumsfähig werden. Das radikal Neue dieser bioindustriellen Behandlung liegt in zwei Perspektiven. Zum einen betrifft das Diktat der Produktivität eben nicht mehr allein den Körper als ein »Arbeitsstück« in seiner Belastbarkeit als Ganzem, also die Arbeitskraft. Das Diktat dringt unter die Haut und macht in Teilen produktiv, was zuvor der Ausbeutung entzogen war. Mit dieser Perspektive gibt es keine unbrauchbaren Substanzen mehr. Genetische Informationen aller sind von »Wert«, seien es Krankenpopulationen oder verschiedene Ethnien. Die Monopolisten im Stammzell-Sektor beweisen gerade, dass die begehrte Substanz wie Geld zirkulieren kann. Die fabrizierten Ziellinien werden weltweit zum Verkauf angeboten. So wird die genetische Information zum eigentumsfähigen Ding, Embryonen zum Rohstoff, Zellbestandteile zum Produktionsmittel für (vermeintlich gute) Zwecke. Die Leiblichkeit der Menschen – das, was wir physisch sind – wird in das Feld der Warenproduktion, der Verfügungs- und Verwertungsrechte überführt. Zentral ist hier nicht die Frage, wie verletzend die Prozeduren der Gewebegewinnung sind und welcher moralische Wert der einzelnen Substanz zuzuschreiben ist. Wenn zunehmend alltäglich wird, dass der menschliche Körper ein Ensemble produktiver Stoffe ist, die nützlich, entbehrlich und eigentumsfähig sind, dann ändert dies die Körperwahrnehmungen umfassend – und auch wie man Menschen behandeln darf. Individuell werden Entscheidungssituationen neuer Art geschaffen: Kann ich Nabelschnurblut, abgetriebene Föten oder »überzählige« Embryonen ungenutzt lassen, wo es doch anderen oder zukünftigen Generationen helfen könnte? Habe ich im Krankheitsfall ein Recht auf Substanzen oder Produkte, die aus Körperstoffen gewonnen wurden? Die politisch-verwaltenden und juristischen Regeln ändern sich. Wer bestimmt über die neuen »Rohstoff«? Wer kann Eigentumsrechte beanspruchen? Bislang sind dies Kliniken, Forschungsinstitutionen, Wissenschaftler und Firmeninhaber. Doch das oberste Gebot jedes Marktes heißt Wachstum und Massenproduktion. In einzelnen Regionen dieser Welt – beispielsweise beim Organhandel, im Samen- und Eizellen-Geschäft – scheint auf, dass man sich auch individuell als Anbieter/innen zu verstehen beginnt, um sich selbst stückweise zu Markte zu tragen. Das sind die Dimensionen des gesellschaftspolitischen Umbruchs, den es zu diskutieren gilt, wenn Körper und Körpersubstanzen karriere- und marktfähig werden.

© Erika Feyerabend, 2001
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+++ ANMERKUNGEN

(1) Dieter Simon, Demokratisiert die Wissenschaft in: Die Zeit 14.9.2000, S. 41

(2) Uwe Pörksen, Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype, Stuttgart 1997

(3) Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt/ M. 4. Auflage 1999, S. 68

(4) ebd., S. 188

(5) ebd., S. 154

(6) ebd., S. 148

(7) Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen 2001

(8) vgl. National Institutes of Health, Stem Cells: Scientific Progress and Future Research Directions, www.nih.gov/news/stemcell/scirepart.htm

(9) vgl. Erika Feyerabend, Landung auf dem Genom in: BioSkop – Zeitschrift zur Beobachtung der Biowissenschaften Nr. 11, September 2000, S. 1-2

(10) Thomson, J.A. et.al, Embryonic stem cell lines derived from human blastacysts, Science. 282 ( 1.998), 1145-1147; Gerhart, J., New potential for human embryonic stem cells, Science 282 (1998), 1061-1062

(11) im Internet unter www.dfg.de zu finden

(12) National Institutes of Health, Stem Cells: Scientific Progress and Future Research Directions, www.nih.gov/news/stemcell/scireport.htm; Philip Bethge u.a., Wir sind besser als Gott, in: Der Spiegel Nr. 20, 14.5.01, S. 244)

(13) Deutsche Grünes Kreuz, Stammzellen aus Nabelschnur – ein kostbares Gut, Marburg; im Internet: www.vita34.de