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UTA WAGENMANN, Soziologin, aktiv im Gen-ethischen Netzwerk

»Individualisierte Medizin« unter der Lupe

  • Spannende GeN-Broschüre nimmt ökonomische Interessen in den Blick

aus: BIOSKOP Nr. 63, September 2013, Seite 12

Pharmafirmen, Genforscher und manche Politiker verheißen seit rund fünfzehn Jahren den Beginn einer neuen Ära: »personalisierte« Behandlungen, »maßgeschneiderte« Medikamente, Diagnostiken, die auf der genetischen Verfasstheit der Patienten basieren. Eine solche, »individualisiert« genannte Medizin scheint eine gute Sache – allerdings nur auf den ersten Blick.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Den Promotoren der »individualisierten Medizin« geht es nicht wirklich darum, den einzelnen Kranken in den Mittelpunkt zu stellen. Vielmehr arbeitet das Konzept vor allem der fortschreitenden Individualisierung von Gesundheit, Krankheit und ihren Ursachen zu. Während die versprochenen Therapien und Medikamente bisher äußerst rar geblieben sind, explodiert die Zahl der Tests und Checks, mit denen Aussagen über Erkrankungsrisiken oder die Wahrscheinlichkeit bestimmter Krankheitsverläufe gemacht werden.

Individualisierte Medizin unterschlägt die sozialen Bedingungen, die Menschen krank und gesund werden lassen.

Damit festigt sich die Vorstellung einer – mittels Tests feststellbaren – individuellen biologischen Verfasstheit des Einzelnen, die bestimmen soll, warum, wie und wann jemand krank wird. Indem aber nur noch auf molekularer Ebene – und damit ausschließlich im Körper des Individuums – nach Ursachen und Entstehungsbedingungen von Erkrankungen gesucht wird, unterschlägt die so genannte individualisierte Medizin die sozialen Bedingungen, die Menschen krank und gesund werden lassen. Und sie transportiert die Aufforderung an jede/n, die eigene Gesundheit ständig im Blick zu behalten, die (ganz persönlichen) Erkrankungsrisiken zu kennen und zu managen – und dafür die Angebote, die der Markt macht, permanent zu nutzen.

Diese Anrufung des Individuums lässt auch den Alltag der Gesundheitsversorgung als folgerichtig erscheinen, in dem die Art der Behandlung und Versorgung ja zunehmend davon abhängt, welche finanziellen Möglichkeiten und welchen Versicherungsstatus der einzelne Patient und die einzelne Patientin haben.

Das genetische Konzept befördert die Kommerzialisierung von Gesundheit und Krankheit.

Aber nicht nur in diesem biopolitischen Sinne korrespondiert das Konzept der individualisierten Medizin mit der zunehmenden Marktförmigkeit des Gesundheitssystems. Auch ganz praktisch befördert es die Kommerzialisierung von Gesundheit und Krankheit: Tests zur Bestimmung genetischer Risiken, Biomarker für individuelle Krankheitsprognosen oder »individualisierte« Medikamente treten nicht zuletzt deshalb als Teil einer Angebotspalette für das individuelle Management von Gesundheit in Erscheinung, weil sich um ihre Entwicklung massive ökonomische und politische Interessen drängen: Da sind die großen, börsennotierten Pharmafirmen, die sich und den GeldanlegerInnen versprechen, die Entwicklung von molekularen und genetischen Tests werde ökonomisches Wachstum bescheren. Da ist die Biotechnologie-Branche, die nach Märkten für ihre Produkte sucht. Zu nennen sind auch die Kliniken und anderen Forschungseinrichtungen, die sich als Anbieter von »Innovationen« und besonderen Dienstleistungen im Kampf um Drittmittel und Forschungsgelder zu behaupten suchen. Und nicht zuletzt ist es die staatliche Förderung der Forschung nach Genen, Biomarkern oder molekularen Prozessen, die auf deren wirtschaftliche Bedeutung als »Standortfaktor« abzielt – und im Ergebnis dazu geführt hat, dass nicht nur die Versorgung, sondern auch die Gesundheitsforschung heute extrem marktförmig organisiert ist.

Auf dass Lücken im System erkannt und genutzt werden können!

Die neue Broschüre des GeN (Siehe Randbemerkung) legt vor allem diese ökonomischen Interessen und Dynamiken rund um die »personalisierte« oder »individualisierte« Medizin offen. Auf rund hundert Seiten analysieren wir die Ziele von Pharmaunternehmen und stellen einige »individualisierte« Medikamente vor, diskutieren die Motive der Forschungspolitik, einschlägige Förderprogramme und gesundheitspolitische Hintergründe, untersuchen den Beitrag wissenschaftlicher Einrichtungen an der Rede von der individualisierten Medizin und den mit ihr verbundenen biologischen Modellen von Krankheit und nehmen einige Forschungsstandorte und -verbünde kritisch unter die Lupe.

Wir hoffen, mit dieser Broschüre dazu beizutragen, den Blick für die Dynamik zwischen Gesundheitssystem und Biopolitik im Spätkapitalismus zu schärfen. Auf dass Lücken im System erkannt und genutzt werden können!

© Uta Wagenmann, 2013
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