Auf einen Blick
Leitlinien zu Diagnostik und Therapien gibt es mittlerweile für viele Krankheiten. Wer gezielt nach einer Leitlinie sucht oder sich zunächst einen Überblick anhand medizinischer Fachgebiete verschaffen will, sollte www.arztbibliothek.de anklicken. Dieses Internetportal, betrieben vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), listet viele der verfügbaren Leitlinien auf, die von wissenschaftlichen Organisationen und Fachgesellschaften veröffentlicht worden sind: Die Bandbreite reicht von A wie Allergologie bis Z wie Zahnmedizin. Wortlaut und Geltungsdauer der Leitlinien sind ebenso dokumentiert wie die Namen der herausgebenden Institutionen. Zum Teil, aber längst nicht bei jedem Papier, erhält man auch Einblick in Erklärungen der LeitlinienautorInnen zu Interessenkonflikten. Das ÄZQ ist eine gemeinsame Einrichtung von Bundesärztekammer (BÄK) und Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV).
Verbreitete Interessenkonflikte
KLAUS-PETER GÖRLITZER, Journalist und redaktionell verantwortlich für BIOSKOP
Verbreitete Interessenkonflikte
- Wissenschaftliche Analyse belegt: AutorInnen medizinischer Leitlinien haben häufig geldwerte Beziehungen zur Industrie
aus: BIOSKOP Nr. 60, Dezember 2012, Seite 7
Mitte 2010 veröffentlichte die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) »Empfehlungen zum Umgang mit Interessenkonflikten«. Jetzt wurde eine Auswertung veröffentlicht, die Aufschluss darüber gibt, wie AutorInnen medizinischer Leitlinien es mit der Transparenz halten.
An der Universität Marburg gibt es seit 2009 das AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement. Leiterin ist Ina B. Kopp, die Professorin weiß: »Dem einzelnen Arzt ist es unter dem Zeitdruck des klinischen Alltags kaum noch möglich, neue Entwicklungen und Publikationen regelmäßig zu verfolgen und methodenkritisch zu bewerten.« Eine gute Orientierung könnten systematisch entwickelte Leitlinien bieten, meint Kopp, »wenn sie vertrauenswürdig erscheinen, praxisrelevant und leicht verfügbar sind«.
Die Verfügbarkeit ist im Zeitalter des Internets wohl kein Problem mehr. Aber ein Kritikpunkt, der von ÄrztInnen immer wieder genannt werde, sei – neben der Unsicherheit bezüglich der methodischen Qualität von Leitlinien – die »mangelnde Transparenz möglicher Interessenkonflikte von Leitlinienautoren und -herausgebern«.
Kritisch werde es allerdings, wenn von einer »unangemessenen Beeinflussung« der Empfehlung auszugehen sei oder auch nur ein solcher Anschein entstehe.
Eine erste empirische Bestandsaufnahme veröffentlichte das Deutsche Ärzteblatt (DÄB) am 30. November 2012. Ein 8-köpfiges Team um den Sozialwissenschaftler Thomas Langer hat die AWMF-Datenbank durchforstet und Leitlinien deutscher Fachgesellschaften analysiert, die zwischen August 2009 und Dezember 2011 gültig waren. Die Bilanz von Langer und KollegInnen zeigt, dass Transparenz noch längst keine Selbstverständlichkeit ist – und Interessenkonflikte offenbar weit verbreitet sind: »Von insgesamt 297 untersuchten Leitlinien wurden in 60 Leitlinien (20 %) die Interessenkonflikterklärungen von den Autoren offengelegt.« 1.379 Personen machten Angaben, fast jede/r Zweite, nämlich 680 AutorInnen, »deklarierte Sachverhalte, die auf einen finanziellen Interessenkonflikt hinwiesen«.
Was damit im einzelnen gemeint ist, listen die _DÄB_-Autoren auch auf: 522 Leitlinien-VerfasserInnen gaben an, sie hätten finanzielle Zuwendungen seitens der Medizinindustrie für Vortrags- und Schulungstätigkeiten bekommen. 403 Personen offenbarten eine bezahlte Gutachter- oder Beratertätigkeit, 316 erhielten Geld für Forschungsvorhaben. Und auch dies kommt vor: »Eigentümerinteressen in Form von Patenten wurden von 18 Autoren (1,8 %), der Besitz von Geschäftsanteilen in 32 Fällen (2,3 %) angezeigt.«
Langer & Co. legen Wert auf die Feststellung, dass Interessenkonflikte in Leitlinien »nicht per se problematisch« seien. Kritisch werde es allerdings, wenn von einer »unangemessenen Beeinflussung« der Empfehlung auszugehen sei oder auch nur ein solcher Anschein entstehe. Wo genau die Grenze liegt, ist nach Darstellung der Analytiker gegenwärtig unklar: »Es fehlen Vorgaben, wann ein Interessenkonflikt als problematisch angesehen werden muss und welche Reaktionen in einem solchen Fall angemessen sind.« Standards für die Bewertung und das Management solcher Konflikte »sollten dringend entwickelt« werden.
»Nutzer von Leitlinien sollten kritisch prüfen, welche Informationen zum Umgang mit Interessenkonflikten eine Leitlinie enthält und für welche Empfehlungen die Interessenkonflikte der beteiligten Personen von Bedeutung sein könnten.«
Die AWMF arbeitet dran. Ihre Empfehlungen aus 2010 sehen zum Beispiel vor, dass befangene Fachleute nicht beim Formulieren und Bewerten von Leitlinien mitwirken sollten. »Sie haben, sofern auf ihr Wissen nicht verzichtet werden kann, den Status von externen Experten«, rät die AWMF. Zudem sei zu veröffentlichen, mit welchen Verfahren Interessenkonflikte erfasst und bewertet worden seien.
Bis dies für jedermann verständlich geschieht, dürfte noch unbestimmte Zeit vergehen. Die im DÄB veröffentlichte Auswertung belegt immerhin, dass nach Einführung der AWMF-Regeln Interessenkonflikterklärungen »deutlich häufiger abgegeben« werden: 95 % der seitdem publizierten 41 Leitlinien enthalten solche Deklarationen, zuvor geschah dies bei lediglich 8 % der untersuchten, älteren 256 Leitlinien.
Ein Tipp, den nicht nur MedizinerInnen, sondern auch Rat suchende PatientInnen beherzigen sollten, steht auch in der Analyse: »Nutzer von Leitlinien sollten kritisch prüfen, welche Informationen zum Umgang mit Interessenkonflikten eine Leitlinie enthält und für welche Empfehlungen die Interessenkonflikte der beteiligten Personen von Bedeutung sein könnten.«
© Klaus-Peter Görlitzer, 2012
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