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Für weniger Kaiserschnitte

In Deutschland holen ÄrztInnen mittlerweile fast jedes dritte Baby mittels Bauchschnitt aus der Gebärmutter, 1991 waren es hier noch 15 % der Neugeborenen, die auf diese, »Kaiserschnitt« genannte Weise zur Welt kamen. »Zu viele Kaiserschnitte sind strukturell, organisatorisch oder ökonomisch statt medizinisch begründet«, sagt der Arbeitskreis Frauengesundheit (AKF). »Was in Notfallsituationen wertvoll ist, darf jedoch nicht zur Routine verkommen.« Der AKF hat eine Kampagne gestartet, um die Kaiserschnittrate zu senken; er hofft auf viele UnterstützerInnen.

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht bestehe kein Anreiz, natürliche Geburten zu fördern und Kaiserschnitte zu vermeiden. Die personelle Besetzung im Kreissaal erlaube in der Regel keine kontinuierliche Betreuung der Gebärenden durch die Hebamme, schreibt der AKF. »Stattdessen wird Zeitdruck aufgebaut und eine Interventionskette initiiert, die die Geburt verkürzen soll.« Ein weiteres Problem sei die »haftungsrechtliche Situation«, die viele ÄrztInnen veranlasse, »Defensivmedizin« zu betreiben. Nach bisheriger Rechtsprechung seien sie mit dem Kaiserschnitt »immer auf der sicheren Seite«.

Der AKF fordert »strukturelle Veränderungen«, zum Beispiel bessere Förderung der Betreuung durch Hebammen, einen Schwerpunkt »natürlicher Geburtsvorgang« im Medizinstudium, Evaluierung geburtshilflicher Verfahren. Notwendig seien auch Hinweise für werdende Eltern auf unabhängige Beratungsangebote.

> AKF-Aufruf im Wortlaut


Bauch-Entscheidungen – aber mit Köpfchen

… heißt eine 60 Seiten starke Broschüre, die reichlich Hintergrundinformationen zu vorgeburtlichen Tests bietet. Die Themenpalette reicht von Ultraschalluntersuchungen über Gentests bis zur Präimplantationsdiagnostik; unter den AutorInnen ist auch Maria Beckermann, ihr dort publizierter Aufsatz »Schwangerschaftsvorsorge heute« ist eine ausführlichere Version des nebenstehenden Artikels. Weitere Beiträge der Broschüre, gemeinsam herausgegeben von AKF, AWO und dem Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik, beleuchten die Medikalisierung der Schwangerschaft und die Vermarktung individueller Gesundheitsleistungen. Abschließend wird die Frage gestellt: »Droht eine neue Eugenik?«

> Link zur Broschüre



MARIA BECKERMANN, Frauenärztin, Vorsitzende des Arbeitskreises Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e.V.

Risiko Schwangerschaft?

  • Über- und Fehlversorgung werdender Mütter kann ernste Folgen haben und muss zurückgedrängt werden

aus: BIOSKOP Nr. 58, Juni 2012, Seiten 6+7

Schwangere Frauen werden hierzulande überversorgt. Der Alltag ist geprägt durch reichlich Untersuchungstermine, zu viel Ultraschalldiagnostik, unangemessen hohe Risikoeinschätzungen. Die offiziellen Zahlen zeigen: Nur wenige werdende Mütter entkommen einer Einstufung als Risikoschwangere. Zwar wissen alle Beteiligten, dass es sich dabei nicht um »echte« Risiken handelt – dennoch: Die Etikettierung hat Folgen.

FrauenärztInnen sind oft die Ersten, die ins Vertrauen gezogen werden, wenn der Schwangerschaftstest positiv ist. Sie sind die BeraterInnen zu Ernährung, Verhalten und Lebensstil. Offenbar ist keine Frage zu banal, um sie von medizinischen ExpertInnen beantworten zu lassen. Schwangerschaft und Geburt werden zuallererst als medizinisches Problem gesehen. Diese Sichtweise ist nicht naturgegeben, sondern ein Produkt unseres Gesellschafts- und Gesundheitssystems.

Dazu passt, dass der so genannte Mutterpass – ein Dokument, in dem medizinische Befunde gesammelt werden – »wie der Name suggeriert, zur Identität der werdenden Mutter in Deutschland wie selbstverständlich dazu gehört« (so die Frauenärztin Friederike M. Perl). Seit seiner Etablierung in den 1960er Jahren dokumentiert und verfestigt er eine durchgängige, medizinische Kontrollbedürftigkeit. Der Leistungsumfang bei der Beurteilung des Ungeborenen, vor allem per Pränataldiagnostik und Ultraschalluntersuchungen, wird stetig ausgedehnt.

Laut der bundesweiten Auswertung der Mutterpässe für das Jahr 2009 wurden 72,7% der insgesamt 638.798 Schwangerschaften als riskant eingestuft.

Der Fragenkatalog im Mutterpass soll eine formale Risikoeinschätzung sein. Seine Treffsicherheit müsste eigentlich bekannt und erforscht sein. Das ist aber nicht der Fall, und viele Fragen würden einer statistischen Prüfung nicht standhalten. Einzuschätzen, ob und wie riskant eine Schwangerschaft ist, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die immer nur eine Annäherung sein kann. Fragebögen oder Checklisten, die zu Beginn einer Schwangerschaft vorgelegt und gegebenenfalls im Verlauf angepasst werden, führen oft zu gravierenden Fehleinschätzungen: Nur 10 – 30 Prozent der Frauen, die als Risiko eingestuft werden, erfahren das negative Resultat, für das sie eingestuft wurden. Umgekehrt waren 20 – 50 % der Frauen, die eine Frühgeburt hatten, vorher als nicht risikobehaftet angesehen worden.

Laut der bundesweiten Auswertung der Mutterpässe für das Jahr 2009 wurden 72,7% der insgesamt 638.798 Schwangerschaften als riskant eingestuft, 65,1 % (415.628) aufgrund der Anamnese. Das ist eine grandiose Überschätzung. Wegen eines auffälligen Befundes wurden 26,9 , also 171.725 Frauen, als Risikoschwangere definiert. Diese Zahl ist schon näher dran an der Realität. Bemerkenswert ist auch, wann ein Risiko vermutet wird. 75,6 % aller Frauen wird unter der Geburt ein Risiko bescheinigt. 58,2 sollen sowohl ein Schwangerschafts- als auch ein Geburtsrisiko haben. Die Gruppe derjenigen, denen weder das eine noch das andere Risiko attestiert wird, beträgt gerade mal 9,8 %.

Die Mutterschaftsrichtlinien sehen zehn Vorsorgeuntersuchungen vor. 272.903 (42,7 ) Schwangere nehmen 8 – 11 Untersuchungstermine wahr. Aber genauso viele Frauen (42,6 %) gehen öfter als zwölf Mal zu einer Untersuchung und sind damit überversorgt. Die meisten Schwangeren (64,4 %) unterziehen sich drei bis fünf Ultraschalluntersuchungen – vorgesehen sind in den Mutterschaftsrichtlinien drei. Fast ein Viertel aller Schwangeren (23,2 %) bekommt sogar mehr als fünf Ultraschalluntersuchungen. Selbst von den 25,8 der Schwangeren, die zwischen 37. und 41. Woche ihre Geburt erleben und als risikofrei gelten, hat fast jede Fünfte mehr als fünf Mal Ultraschallaufnahmen machen lassen.

Vorschub für unangemessene Risikoeinschätzungen und Eingriffe leisten ein nichtevaluierter Fragenkatalog und ein großes Versorgungspaket für alle Schwangeren im Mutterpass.

Der gezielte Abbau der Fehlversorgung könnte mit Blick auf die Entbindungsweise und auf die Frühgeburtenrate sogar zu einer Verbesserung führen. 210.618 Frauen (32,3 ) wurden 2009 durch Kaiserschnitt entbunden. Nur 58,81 % der Frauen erleben eine spontane Geburt. Wenn ein Kaiserschnitt in der Vorgeschichte als Indikation für einen erneuten Kaiserschnitt genommen wird, werden in Zukunft immer weniger Frauen »normal« entbinden. Von den 68,4 % Frauen, die eine vaginale Geburt erleben, haben 51,8 eine Komplikation unter der Geburt (Dammriss, Weichteilverletzungen) und 21,5 % im Wochenbett (z.B. Anämie). Die Zahl der Frauen mit einer Geburt ohne Komplikationen ist nach diesen Zahlen ziemlich niedrig.

Die kindliche Sterblichkeit lag 2009 bei 0,41 % (2.406), meist starben die Babys, weil sie zu früh geboren wurden. Die Frühgeburtenrate ist auffällig angestiegen: In den 1990er Jahren betrug sie um die 7 %, 2009 lag sie bei 9,38 %. Die Schuldzuweisungen an die Frauen, sie seien etwa zu alt oder konsumierten zu viel Alkohol oder Nikotin, stellen eine infame Verdrehung der Zusammenhänge dar. Die hohe Zahl der Frühgeburten und Kaiserschnitte deuten auf eine Fehlversorgung hin. Ein Teil der Schwangeren, die davon betroffen sind, bekommt nicht nur zu viel Behandlung, sondern auch noch die falsche.

Vorschub für unangemessene Risikoeinschätzungen und Eingriffe leisten ein nichtevaluierter Fragenkatalog und ein großes Versorgungspaket für alle Schwangeren im Mutterpass. Die Vergütungsstrukturen schaffen ungünstige Anreize, zusätzliche Angebote oder so genannte individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) wie Babyfernsehen im Ultraschall wahrzunehmen, Konsequenz sind häufig Verunsicherungen durch falsch positive Befunde.

Statt immer mehr Leistungen gießkannenartig auf die Frauen auszuschütten, müssen Über- und Fehlversorgung zurückgedrängt werden.

Angst vor juristischen Auseinandersetzungen führt zu einer verbreiteten »Absicherungsmedizin«, ÄrztInnen fürchten, etwas zu übersehen. Aber nur wenige haben Angst, werdenden Müttern durch zu viel Diagnostik und Therapien zu schaden. Mangelndes statistisches Verständnis bei den MedizinerInnen kann ein Grund sein für eine hohe Zahl an Risikoschwangerschaften. Das CTG (Cardiotokogramm), mit dem eine akute Mangelversorgung bei Kindern mit Plazentainsuffizienz erkennbar ist, wird zum Beispiel auch routinemäßig bei gesunden Schwangeren eingesetzt – und führt besonders bei frühen Untersuchungen vor der 36. Woche zum Fehlalarm. So kann aus einer gesunden Schwangeren unversehens eine Risikopatientin werden. Und vieles, was als ein Mehr an Selbstbestimmung legitimiert wird (Beispiel »Wunschkaiserschnitt«), ist der Endpunkt einer Fehlentwicklung, an dessen Beginn subtile Missverständnisse standen, etwa unbedachte Bemerkungen während der Ultraschalluntersuchung wie diese: »Ihr Baby sieht aber etwas klein aus.« Statt immer mehr Leistungen gießkannenartig auf die Frauen auszuschütten, müssen Über- und Fehlversorgung zurückgedrängt werden. Sie können eine wesentliche Ursache der hohen Raten an Kaiserschnitten und Frühgeburten sein.

ÄrztInnen brauchen Respekt und Kraft, die Entscheidungen der Schwangeren mitzutragen, wenn sie nicht das Maximum an Diagnostik in Anspruch nehmen will.

Wir müssen die Hebammen und FrauenärztInnen der Primärversorgung stärken, gut fortbilden und angemessen bezahlen, damit sie selbstbewusst auf IGeL verzichten können. Die gesunde Schwangere ist bei ihnen besser aufgehoben als bei SpezialistInnen. Ihre Erfahrung lehrt sie, den Frauen Zuversicht in die eigenen Kräfte und Fähigkeiten zu vermitteln. Komplikationen und Probleme rechtzeitig bemerken und angemessen zu entscheiden, gehört zu ihren Aufgaben.

Das ist in der Praxis eine Gratwanderung. Frauen brauchen Kompetenz und Mut, auf apparative Diagnostik wie zusätzliche Ultraschalluntersuchungen zu verzichten, wenn es keine Indikation gibt oder es keine Konsequenzen hätte. ÄrztInnen brauchen Respekt und Kraft, die Entscheidungen der Schwangeren mitzutragen, wenn sie nicht das Maximum an Diagnostik in Anspruch nehmen will. Und wir sollten FrauenOrte schaffen, um einen Austausch über das körperliche und psychische Erleben während der Schwangerschaft mit anderen Schwangeren und mit erfahrenen Müttern zu fördern.

© Maria Beckermann, 2012
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