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KIDS Hamburg setzt sich dafür ein, Menschen mit Down-Syndrom gemäß ihrer Fähigkeiten zu fördern und ihnen ein »weitesgehend selbstbestimmtes Leben« zu ermöglichen, so die Selbstdarstellung. Neben Erfahrungsaustausch unter Betroffenen und Beratungsangeboten legt der gemeinnützige Verein Wert auf Öffentlichkeitsarbeit, »um Vorurteile abzubauen«. Diesem Ziel dient auch die Vereinszeitschrift KIDS Aktuell, in der Anja Selassie ihre Geburtserlebnisse zum ersten Mal öffentlich beschrieben hat (Heft Nr. 18).

KIDS Hamburg erreicht man telefonisch (040) 38616780 und via Internet



ANJA SELASSIE, engagiert im Verein KIDS Hamburg

Wehe, das Baby ist nicht normal

  • Ein Erfahrungsbericht über das ganz persönliche Geburtserleben in einem Hamburger Krankenhaus

aus: BIOSKOP Nr. 47, September 2009, Seiten 4+5

Wehe, das frisch geborene Kind ist nicht »normal« – dann blüht einem was. Anja Selassie schildert ihr ganz persönliches Geburtserleben mit Diagnosevermittlung in einem großen Hamburger Krankenhaus.

Kurz nach meinem 40. Geburtstag habe ich Mikael per geplantem Kaiserschnitt (wie die beiden Geschwister davor auch) in einem großen Hamburger Krankenhaus entbunden. Im Operationssaal (OP) hörte ich keinen »Herzlichen Glückwunsch«, sondern es herrschte betretenes Schweigen; nur die eine junge Ärztin hat mir gratuliert, direkt nach seinem Rausheben aus dem Uterus.

Mikael habe ich kurz von der Seite sehen dürfen. Er war sehr schlapp und blau und sofort weg im Untersuchungszimmer. Mir dämmerte schon, dass wohl was nicht in Ordnung sein könnte, während ich benebelt vor mich hin döste und zugenäht wurde. Mein damaliger äthiopischer Mann hat mir dann, als ich raus aus dem OP war, sofort schockiert die Verdachtsdiagnose mitgeteilt.

Er war mit der Verdachtsdiagnose Down-Syndrom sofort – ohne mich – vom untersuchenden Kinderarzt konfrontiert worden. Der Kinderarzt hat bei meinem damaligen Mann nur kurz abgecheckt, ob er Deutsch spricht – ja tut er – und ihm dann den Verdacht mitgeteilt. Ich habe daraufhin – noch komplett unten herum betäubt und ohne meinen Sohn ein einziges Mal wirklich gesehen, geschweige denn gefühlt zu haben – erstmal laut »Scheiße, scheiße, scheiße« gesagt.

»Wussten Sie das denn nicht vorher? Wenn Sie diese schwere Aufgabe nicht schaffen, dann können Sie ihn auch in eine Pflegefamilie oder zur Adoption freigeben.«

Und dann fuhr der innere Fahrstuhl mit mir in den dunklen Keller. Mein Mann ging – er musste zu unseren »Großen«, damals vier und sechs Jahre alt. Ich blieb allein im Zimmer mit total hässlichen Flyern von irgendeinem Down-Syndrom-Verein auf dem Laken, die ich benommen anschaute. Da las ich von allen möglichen Therapien und dass man heute nicht mehr mongoloid sagen dürfe/solle. Toll. Die junge Hebamme war überfordert und total geschockt: »Wussten Sie das denn nicht vorher? Wenn Sie diese schwere Aufgabe nicht schaffen, dann können Sie ihn auch in eine Pflegefamilie oder zur Adoption freigeben.« Und dann ging sie zur nächsten Entbindung. Dieser Schock saß tief und lange!

Mikael wog 4.960 Gramm und war 57 Zentimeter lang. Als ich ihn das erste Mal sah – nach etwa vier Stunden – sah Mikael so selig und zufrieden und glücklich aus wie Buddha. Dieses Bild hat mir oft geholfen in den dunklen Zeiten.

Die eigentliche Diagnosemitteilung verlief dann so: Ich stand am fünften Tag abends am Wickeltisch auf der Intensivstation und wickelte das erste Mal überhaupt meinen Sohn – nach fünf Tagen Dauerschlafentzug (anlegen, wiegen, abpumpen, ein bis zwei Stunden Schlaf, Heulattacken, Schmerzen…). Meine Freundin war bei mir. Der Kinderarzt kam, sagte irgendwas und ging. Während er ging, habe ich ihn gefragt, ob denn das Blutergebnis endlich da sei. Da dreht sich dieser Mensch um, setzt sich mit einer Pobacke auf den dortigen Waschbeckenrand und sagt: »Ach ja, das Ergebnis ist da. Es ist eine freie Trisomie 21, wie wir gedacht haben.« Und dann ging er. Meine Freundin und ich haben uns nur angeguckt – und ich habe meinen Kleinen weiter versorgt. Es waren sogar noch andere Eltern eines Frühchen mit im Raum! Einfach unglaublich – ich bin immer noch wütend, wenn ich an meine letzte Entbindung dort denke. Wehe es geht nicht alles glatt – dann blüht einem was an unfähigen Menschen!

In der Klinik haben alle nur von meinem »kranken« Kind gesprochen.

Mein Mann und ich hatten am dritten Tag im Krankenhaus ein Gespräch mit der Psychologin dort. Das war ganz okay. Wir waren ziemlich gefasst. Aber da stand die Diagnose ja noch nicht zementiert fest. Nach der Diagnosemitteilung kam nur noch so ein – sorry – merkwürdiger Pfarrer und umarmte mich andauernd. Ein fremder Mann, das war das letzte, was ich brauchen konnte… Aber den Engel, den er mir geschenkt hat, den habe ich immer noch.

In der Klinik haben alle nur von meinem »kranken« Kind gesprochen. Dabei hatte Mikael zu dem Zeitpunkt nur ulkige Augen (er wurde ohne Augenlider geboren, die ihm inzwischen transplantiert wurden) – nichts weiter. Er wurde mir als »Sechser im Lotto« gepriesen, und ich könne mich doch eigentlich freuen, weil er organisch gesund sei.

Diese nicht stattgefundene Bindung in den ersten Minuten zwischen Mikael und mir habe ich gut eineinhalb Jahre aufarbeiten müssen. Auch mit Hilfe einer Gesprächstherapie. Es hat lange gedauert, bis ich »JA, JA, JA”« zu Mikael sagen konnte. Nach gut eineinhalb Jahren und zehn gemeinsam verbrachten Krankenhausaufenthalten war mein Herz für dieses Kind vollends entflammt. Ich liebe ihn und würde für ihn sterben! Aber es war ein steiniger Weg dorthin, und auf diesem Weg habe ich mich auch nochmal neu kennen gelernt. Dafür bin ich Mikael sehr dankbar.

Ich tat so vielen Menschen leid – dafür, dass ich Mikael geboren hatte.

Ganz, ganz furchtbar und schmerzhaft habe ich auch noch das vielfach geäußerte Bedauern als »Geburtswünsche« von so vielen Menschen in Erinnerung. Es tat mir so so weh, dass mein Kind von vielen Menschen nicht willkommen geheißen wurde. Es tat verdammt weh, für »meine Fehlproduktion« andauernd bedauert zu werden. Ich tat so vielen Menschen leid – dafür, dass ich Mikael geboren hatte. Wie oft habe ich gehört »Ach Anja, es tut mir so leid…«. Bekannte wechselten sogar die Straßenseite oder taten so, als ob sie mich mit meinem Kinderwagen nicht sehen würden – nur um sich nicht zu konfrontieren. Da war kein Mutterglück, kein Stolz – nur Traurigkeit und Trauer. Aber es gab auch wertvolle Reaktionen auf Mikael.

Mein Leben ist ein Abenteuer geworden – aber warum sollte ich auch ein langweiliges Leben wollen?! Ich bin auf dieser Welt, um mich, um meine Seele weiter zu entwickeln. So sehe ich das jedenfalls. Ich habe großartige große und kleine Menschen kennen gelernt, die mit Down-Syndrom leben. Und ihre Eltern erst! Mikael ist mein ehrgeizigstes Kind – und das sonnigste.

Inzwischen bin ich nicht mehr peinlich berührt, wenn ich plötzlich Downies auf der Straße sehe oder mit Behinderten konfrontiert bin. Ich habe schlicht den Blickwinkel auf das Leben an sich verändert/verändern müssen – und es war bis jetzt ein Zugewinn!

Mikael wurde zig Mal operiert an den Augen – was für ein schwerer Weg zu ihm… und ich musste da sein für ihn – neben meinem damaligen Vollzeitjob und einer schwierigen (und inzwischen geschiedenen) Ehe. Mikael hat mit zehn Monaten schwere Hornhautentzündungen an den Augen entwickelt – und es hieß, er würde wohl nie Konturen erkennen können und unter Umständen erblinden. War ich bedient! Im Nachhinein weiß ich gar nicht, wie ich das alles gewuppt habe… Kopf schütteln…

Mikael ist nicht krank. Er ist so wie er ist richtig. Er hat besondere Bedarfe, ja. Es schmerzt, zu häufig damit konfrontiert zu werden, dass Mikael eigentlich nicht erwünscht ist in dieser Gesellschaft.

Aber nun zum Ist-Zustand: Er sieht bestens (naja, im Verhältnis gesehen natürlich). Trägt eine Brille und rempelt nirgendwo gegen. Die Hornhautnarben sehen gut aus und sind abgeschwächt zu erkennen. Die milchglasartigen Narben gehen bis in den unteren Pupillenrand beidseitig. Und wie durch ein Wunder sieht Mikael mit seinem optischen Zentrum direkt darüber hinweg. Puh!

Und immer dieses Morbus-Down-Gerede. Mikael ist nicht krank. Er ist so wie er ist richtig. Er hat besondere Bedarfe, ja. Es schmerzt, zu häufig damit konfrontiert zu werden, dass Mikael eigentlich nicht erwünscht ist in dieser Gesellschaft. Dass er mit seinem Down-Syndrom doch mehr als Last, denn als Zugewinn gesehen wird. Das er nicht »richtig« ist. Wer nicht selber betroffen ist oder kein reiches Herz hat, reagiert oft nicht besonders nett. Wir lösen halt immer wieder Ängste beim Gegenüber aus. Und die, die mir keine Kraft geben, sondern glotzen, gaffen, dummes Zeug reden – sie haben uns nicht verdient.

Mittlerweile ist Mikael viereinhalb Jahre alt und macht mir ausschließlich Freude – genauso wie seine beiden Geschwister.

Mein Mikael ist ein Engel – davon bin ich fest überzeugt – der auf diese Welt kam und uns anvertraut wurde. Mikael hat etwas, was viele nicht haben: ein reines Herz und ein feines Gespür. Er ist auf dieser Welt, um an der Herzensbildung anderer zu wirken. Seine Geschwister Noah und Hewan sind jedenfalls superstolz auf Mikael, finden ihn okay, so wie er ist. Gehänselt worden sind sie bisher wegen ihres Bruders noch nicht. Eigentlich erhalten sie viel positive Zuwendung und Zuspruch und Lob von vielen Seiten.

Mittlerweile ist Mikael viereinhalb und macht mir ausschließlich Freude – genauso wie seine beiden Geschwister.

© Anja Selassie, 2009
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