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»Nationale
Screening-Politik«

Die Bilanz wurde in der internationalen Fachpresse als Erfolgsnachricht verbreitet: In Dänemark soll nach Einführung einer landesweiten Reihenuntersuchung (Screening) im ersten Schwangerschaftsdrittel die Zahl der Neugeborenen mit der Diagnose »Down-Syndrom« um fast die Hälfte gesunken sein. ForscherInnen um die Kopenhagener Professorin Ann Tabor hatte Zahlen aus 2005 und 2006 ausgewertet – rund 65.000 Schwangerschaften pro Jahr. 2005 seien 31 Babys mit Down-Syndrom in Dänemark zur Welt gekommen, 2006 waren es 32.

Ihre bevölkerungsbezogene Kohorten-Studie zum »Einfluss einer neuen nationalen Screening-Politik« stellten Tabor und KollegInnen im November 2008 im British Medical Journal vor. Laut ihren Zahlen nahmen bereits im ersten Screening-Jahr 2005 fast 63 Prozent aller Schwangeren das neue Screening-Angebot an, 2006 waren es sogar über 84 Prozent.

2004 hatte der Dänische Gesundheitsrat in Leitlinien empfohlen, die vorgeburtliche Reihenuntersuchung flächendeckend anzubieten und zu standardisieren: Mütterliches Alter, ultraschallbasierte Messung der Nackentransparenz und biochemische Tests werden als Risikoindikatoren angesehen und zu einer Ziffer verrechnet. Ab einer Wahrscheinlichkeit von 1:250 für die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom wird schwangeren Frauen eine Fruchtwasseruntersuchung oder Chorionzottenbiopsie als bezahlte Leistung des dänischen Gesundheitswesens offeriert.




NETE SCHWENNESEN, Soziologin; METTE NORDAHL SVENDSEN, Anthropologin; LENE KOCH, Historikerin (Universität Kopenhagen)

Freie, informierte Wahl?

  • Eine Studie fragt, wie Frauen in Dänemark pränatale Testangebote und Risiko-Berechnungen erlebt haben

aus: BIOSKOP Nr. 45, März 2009, Seiten 4+5

Vorgeburtliche Reihenuntersuchungen werden in Dänemark gezielt gefördert. Was diese Politik, hinter der auch Kosten-Nutzen-Kalküle stehen, praktisch bewirkt, wollte nun eine Forschergruppe ermitteln. Sie wertete Informationen aus einem zentralen genetischen Register aus und verglich sie mit Versichertendaten. Ergebnis: 2005 und 2006 sollen in Dänemark 30 Kinder mit Down-Syndrom geboren worden sein. Das entspreche nur die Hälfte der zu erwartenden Geburten mit dieser geistigen Behinderung und sei ein »Erfolg« der Screeningpolitik.
Für die Betroffenen interessieren sich die Autorinnen dieses Artikels. In einer großen Ultraschallklinik in Kopenhagen haben sie Frauen befragt: Wie haben die pränatalen Risiko-Informationen aus Epidemiologie und Klinik ihr Leben beeinflusst?

Fruchtwasseruntersuchungen und ähnliche vorgeburtliche Tests wurden in Dänemark seit 1978 nur Frauen angeboten, die mindestens 35 Jahre alt sind. Auf Empfehlung des Nationalen Gesundheitsrates, der das dänische Gesundheitsministerium berät, wurde die Altersgrenze abgeschafft. Seit 2005 wird ein Erst-Trimester-Screening allen Frauen unentgeltlich offeriert, unabhängig vom Alter und auf Basis »objektiver Informationen«. Das Screening besteht aus einem Bluttest und Ultraschallbildern, mit denen die Nackentransparenz beim Ungeborenen gemessen wird.

Auffällige Testergebnisse werden als Risiko für die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom gewertet und zwecks Abklärung invasive Untersuchungen angeboten. Der Gesundheitsrat betonte: »Es ist nicht das Ziel pränataler Diagnostik, die Geburt von Kindern mit erblichen Erkrankungen oder Behinderungen zu verhindern.« Diese Stellungnahme nimmt Bezug auf ein – viel diskutiertes – Zitat aus dem ersten Regierungsbericht zur Pränataldiagnostik aus dem Jahr 1977. Damals wurde die offizielle Staatspolitik anders formuliert: Es galt, »die Geburt behinderter Kinder zu verhindern«. Rhetorisch ist das Ideal der »informierten Wahl« eine Demarkationslinie. Die handlungsleitende “Norm der Prävention« wird zukünftig von der »Norm der informierten Wahl« abgelöst.

  • Statistische Grenzlinien

Gemäß den Richtlinien des dänischen Gesundheitsrates erhalten solche Frauen ein Angebot zu weitergehenden, invasiven Tests, denen beim Erst-Trimester-Screening ein statistisches Risiko von mindestens 1:250 attestiert wird. Die Definition dieser statistischen Grenze ist ökonomisch bedeutsam, und sie wird politisch entschieden. Je nach dem, wo die Risiko-Grenze festgelegt wird, wird vielen oder eben weniger Frauen eine nachfolgende Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung) angeboten und finanziert.

Verschiedene Interessen spielen bei dieser Festlegung mit: der Wunsch, eine hohe Erkennungsrate von Down-Syndrom zu erzielen; das Ziel, die Zahl invasiver Tests zu verringern und als Konsequenz auch die Zahl ungewollter Fehlgeburten. Jede Fruchtwasseruntersuchung birgt das Risiko, auch gesunde Föten zu verlieren. Also signalisiert die Praxis der Amniozentese, dass die Anzahl invasiver Tests und möglicher Fehlgeburten gesunder Föten als »Kosten« einkalkuliert werden, um die Geburtenrate von Kindern mit Down-Syndrom zu verringern. Doch solche Kosten-Nutzen-Kalküle sind in den dänischen Richtlinien weder zu erkennen, noch einer größeren Öffentlichkeit bewusst.

  • Ziffern und Zukünfte

Die Richtlinien betonen, dass die Teilnahme am Screening frei entschieden werden soll. In den Interviews aber betonen die Frauen, dass sie nicht wirklich überlegt haben, ob sie ihr Risiko überhaupt wissen wollen. Mit Metaphern wie »Routineakt« und »Sicherheitscheck« beschrieben sie ihre Motivation. Eine Frau erklärte: »Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob es eine Wahl war oder nicht. Es war wie, ja, wir akzeptieren das, so wie die Hebamme und die Schwangerschaftsberatung (…), wir akzeptieren das ganze Ding, das ganze Paket.«

Die meisten Frauen erhalten ein unverdächtiges Testergebnis und sind beruhigt. Etwa jede Zwanzigste liegt über der statistischen Grenzlinie, und einige Frauen bekommen eine höhere Risiko-Einschätzung als erwartet oder erhofft. Für sie symbolisiert die mitgeteilte Risikoziffer eine Bedrohung und ungewisse Zukunft. Eine Frau erklärte uns: »Wenn Du akzeptierst, all diese Tests zu machen, dann fühlst Du Dich, wie jede sich wahrscheinlich fühlt, dass nichts bedenklich ist, oder? Ich fühlte mich so, es war nur etwas Obligatorisches. Als ich begann, erwartete ich nicht, dass mein Kind krank sein würde.(…) Sonst kannst Du ja nicht anderes machen als Dich die ganze Zeit zu sorgen. So, ich war wirklich beunruhigt, als ich die Risikoziffer erhielt, ich war wie geschockt, als ich die Botschaft erhielt, ich muss gestehen, ich war völlig fertig.«

In den Interviews zeigt sich auch, wie schwer es Betroffenen fällt, die Zahlen einzuordnen. Eine Frau formulierte ein Gefühl von Machtlosigkeit und Kontrollverlust: »Wenn sie mir nur erzählen könnten, so, dass die letzten 20 Paare ein Risiko zwischen 1:2 oder 1:2000 gehabt hätten und dass es diese Anzahl von Paaren in jeder Kategorie gab, dann denke ich, könnte ich die Ziffer gebrauchen. Nun, ich kann die Ziffer von 1:661 überhaupt nicht gebrauchen. Ich weiß, sie sagt, dass es in Relation zur Bevölkerung steht und so. Aber aktuell sagt mir diese Ziffer nichts, weil ich nichts habe, mit der ich sie vergleichen kann.«

  • Verhandeln mit dem Risiko

Die Wahl der Frauen soll gemäß der Richtlinien auf »objektiven und non-direktiven Informationen« basieren. Ironischerweise werden diese, übermittelt als Risiko-Ziffer, nicht als aussagekräftig erfahren. Mit dem Testergebnis wird den Frauen auch ihr altersbezogenes Risiko mitgeteilt, genannt: »Hintergrundrisiko«. In unseren Gesprächen schilderte eine 42-Jährige: »Als ich in die Klinik kam, hatte ich ein Altersrisiko von 1:31. Die Ziffer, die ich nach der Risiko-Einschätzung erhielt, war 1:173. Die verglich ich mit meinem Altersrisiko. In diesem Fall war meine Ziffer niedrig und ich dachte, das war positiv.(…) Ich verglich sie auch mit einer Freundin, die zwei Jahre jünger ist als ich (…) Sie erhielt ein Risiko von 1:153, das war höher als meines. Das beruhigte mich.«

Eine andere Frau, mit 40 Jahren und nach künstlicher Befruchtung erstmalig schwanger, sagte: »Ich erhielt eine Risikoziffer von 1:164, was eine enorme Verbesserung gegenüber meinem Altersrisiko von 1:60 ist. So, das war eine positive Zahl, aber da ist dennoch ein langer Weg bis zu der Grenze von 300.(…) Also ich wollte kein Risiko der Amniozentese eingehen (…) Ich wollte nicht, dass ihm irgendwas passiert (…) Aber gleichzeitig musste ich mir das Risiko im Detail erklären. Im meinem Kopf war etwas wie wenn Du noch so weit von der Grenze entfernt bist.«

Die beiden Fälle verweisen auf eine durchgängige Erfahrung: Der statistische Grenzpunkt ist überaus machtvoll im Interpretationsprozess der Paare. Mit nur einer Ausnahme unterzogen sich alle Paare einer Amniozentese und gingen die Gefahr einer Fehlgeburt ein, wenn die Risiko-Ziffer als hoch eingeschätzt wurde.

  • »Lass Experten entscheiden«

Frauen erklärten uns, wie fundamental sie dieser Grenzlinie vertrauten. Eine sagte: »Unsere Risikoziffer war 1:415, was höher als 300 ist, deshalb entschieden wir gegen eine Amniozentese. Wäre sie niedriger, hätten wir uns dafür entschieden. So, die Grenze ist wichtig. Für mich ist das so was wie: Lass die Experten entscheiden (…) Klar, Du musst dir selbst vertrauen, aber (…) Du bist in einem Feld, in dem Du nicht irgendwelche Erfahrungen hast. Dann denke ich, ich mache es, per Definition.«

Der Gesundheitsrat wertet – über den statistischen Grenzpunkt – indirekt die Zukunft mit einem Down-Syndrom-Kind als gefährlicher denn die Gefahr, ein gesundes Kind zu verlieren. Diese Kategorisierung gibt zu denken. Eine Frau sagte uns: »Nach der Fruchtwasseruntersuchung erwähnten wir, dass ich gerade mein Risiko erhöht hatte, mein Kind zu verlieren. Das Fehlgeburtsrisiko liegt ja bei 1%. Und ich machte das, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber das Ding ist: Wenn Du einen Test von Professionellen angeboten bekommst, dann akzeptierst Du, dass da ein großes Risiko sein muss.«

  • Allein verantwortlich

Eine andere Frau erklärte: »Die Risikoziffer wurde mir in einer sehr professionellen Weise erklärt, aber ich war nicht fähig, dem einen Sinn zu geben. Klar, sie müssen sehr vorsichtig sein, nicht etwas anzudeuten. Sie betonten immer und immer wieder, dass, gut, dass es meine Wahl ist (…) So war ich allein verantwortlich (…) Normalerweise übernehme ich gerne Verantwortung (…) Aber in dieser Situation war es keine gute Erfahrung, weil, ich fühlte mich, also, das Klinikpersonal sind Experten, und ich weiß nichts und ich, ja ich bin in ihrem Feld, und sie haben das professionelle Wissen, so sollte es doch möglich sein, mir mehr Informationen zu geben oder einen Rat.«

Eine isolierte, individuelle Risikoziffer steht im Zentrum des Screenings und wird als wertfrei und non-direktiv präsentiert. Die Verantwortung für die »Wahl« liegt damit allein bei den Schwangeren und ihren Partnern. Es ist aber eine Tatsache, dass die Politik sich intensiv engagiert hat, um dieses Testangebot bereit zu stellen – und sie muss deshalb auch dessen Gebrauch mit verantworten.

© Nete Schwennesen / Mette Nordahl Svendsen / Lene Koch, 2009
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