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Ausweitung absehbar

»Berücksichtigt man die dynamische Entwicklung bei der Identifizierung krankheitsassoziierter genetischer Marker und Gene, bei der nichtinvasiven Gewinnung fetaler DNA und die wissenschaftlich-technologische Entwicklung bei DNA-Arrays zur parallelen Durchmusterung zahlreicher Genvarianten, so dürften sich mittelfristig die pränatalen genetischen Untersuchungen in Qualität und Quantität verändern:

- Ausweitung der Zahl der untersuchbaren und untersuchten genetischen Anomalien und Erkrankungen nach Amniozentese bzw. Chorionzottenbiopsie; […]

- zunehmende Substitution von Amniozentesen und Chorionzottenbiopsien durch nichtinvasive Gewinnung fetaler Zellen bzw. DNA aus mütterlichem Blut mit anschließender genetischer Untersuchung;

-Ausweitung des Spektrums der untersuchbaren genetischen Anomalien und Erkrankungen an nichtinvasiv gewonnen fetalen Zellen bzw. fetaler DNA

Einschätzung des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag in seinem Zukunftsreport Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem vom Juni 2008 (Seiten 226f)



ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin

Früher, sicherer, einfacher

  • Der Zukunftsentwurf der vorgeburtlichen Diagnostik

aus: BIOSKOP Nr. 47, September 2009, Seiten 8+9

In den Laborwelten der Gegenwart wird eine bedenkliche Zukunft entworfen: Bald sollen im Blut schwangerer Frauen – direkt und ohne invasive, risikobehaftete Fruchtwasseruntersuchungen – genetische Besonderheiten wie das Down-Syndrom erkannt werden können.

Mehr als zehn Jahre haben WissenschaftlerInnen vergeblich versucht, Zellen oder frei zirkulierende Nukleinsäure-Fragmente des Ungeborenen im Blut schwangerer Frauen zweifelsfrei aufzuspüren. 2008 wurde dann eine Erfolgsgeschichte bekannt gemacht: Dennis Lo und sein Team von der Chinesischen Universität in Hongkong berichteten über gelungene Analysen, mit denen das Down-Syndrom diagnostizierbar sei. Die Verlässlichkeit ihres Verfahrens wollen sie an 400 Blutproben erprobt haben.

Der Medizinprofessor ist kein Neuling in diesem Gebiet. Schon 1997 hatte er bei Frauen, die einen Jungen erwarteten, DNA-Stückchen des männlichen Geschlechtschromosoms im Blut nachgewiesen. Die Veröffentlichung in der international beachteten Zeitschrift The Lancet hatte damals die Laborwelten mobilisiert. Eine weitere Studie lief an der Stanford Universität in Kalifornien. Stephen Quake und Christina Fan berichteten im vorigen Jahr über fehlerfrei nachgewiesene Trisomien bei 18 Schwangeren.

  • Nicht-invasive Methoden

Unter ExpertInnen wird die Suche nach zellfreien, fötalen DNA- oder RNA-Fragmenten favorisiert. Mit den Technologien und Apparaturen der Genomforschung lassen sie sich vervielfältigen und ab der siebten Schwangerschaftswoche nachweisen. Nach der Geburt sollen sie – anders als ganze fötale Zellen – vollständig verschwinden. Eine nicht-invasive Diagnostik im ersten Schwangerschaftsdrittel gilt deshalb als »machbar«. Die Kombination aus hochtechnisierten Laborverfahren und klinischer Anwendung motiviert Forschergemeinden und öffentliche wie private Geldgeber.

Die Gruppe aus Stanford analysierte im so genannten Schrotflinten-Verfahren, nach dem Zufallsprinzip und mittels Sequenzierautomaten, rund fünf Millionen Genabschnitte im Blut der Schwangeren. Sind überproportional viele Fragmente dem verdächtigen Chromosom zuzuordnen, wird eine Trisomie 21 (Down-Syndrom) vermutet. Die Methode soll in beliebigen Bevölkerungen funktionieren und ohne eine Differenzierung zwischen fötalen und mütterlichen Gen-Fragmenten auskommen.

Die Konkurrenten aus Hongkong nutzen molekulare Vervielfältigungstechniken und hochspezialisierte Massenspektrometrie, um die fötale Erbsubstanz anhand ihrer Größe zu identifizieren. Zusätzlich – und das ist die zentrale Arena für viele forschende Kollektive – wird nach »universellen« fötalen Markern Ausschau gehalten, zum Beispiel Genregionen, die nur in der Embryonalentwicklung aktiv sind und/oder nur bei bestimmten Fehlentwicklungen. Ergebnisse von Studien mit vielen Blutproben und Frauen stehen aber noch aus.

  • Biomarker und Patente

Biomarker und verdächtige Genabschnitte, gewonnen aus Blut oder anderen Körperflüssigkeiten, prägen die gesamte biomedizinische Forschung, sei es Genetik, Krebs- oder Infektionsforschung. Hier liegen Karriere- und Finanzierungschancen. Hier entwickeln Biotechfirmen und Pharmaunternehmen Sequenzierautomaten, Mikroarray-Technologien und Massenspektrometer und bilden monopoltaugliche Technologie-Plattformen für immer neue Anwendungsgebiete. Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) schreibt in seinem Bericht »Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem«, dass »die Zahl der Publikationen, die über die Entdeckung von Biomarkern mit potenzieller klinischer Anwendbarkeit berichten, in die Hunderttausende« gehe. Tatsächlich in Gebrauch seien aber nur »einige wenige« Biomarker.

Das Schlüsselpatent im pränatalen Gelände heißt EP 0994963B1 und wurde 2003 erteilt; es gilt für Europa, USA, Australien, Kanada, Japan und Hongkong. Dennis Lo, der früher an der Universität Oxford angestellt war, ist als einer der Erfinder registriert. Die Eigentumsansprüche reichen von diversen Entdeckungsmethoden für fötale Nukleinsäuren im Blut der Schwangeren bis zu zukünftigen vorgeburtlichen Diagnosen. Für die klinische Anwendung sind unter anderem aufgelistet: Erkennen des fötalen Geschlechts (über Sequenzen des Y-Chromosoms), Nachweis des Rhesusfaktors (bei RhD-negativen Frauen), chomosomale Aneuploidie (speziell das Down-Syndrom).

Die Technologietransferagenturen der Universitäten Hongkong und Oxford verkaufen Lizenzen, die es erlauben, mit den Verfahren kommerziell zu arbeiten. Das US-amerikanische Unternehmen Sequenom hat sich die Lizenzen exklusiv gesichert und verfügt über eine Technologieplattform namens SEQureDx™, die firmeneigene und ebenfalls patentgeschützte Methoden wie digitale PCR (eine Vervielfältigungstechnik) und Massenspektrometrie umfassen.

  • Marktreife in 2010?

Sequenom wollte im Juni seinen Test zum Nachweis des Down-Syndroms auf den Markt bringen und sich gemeinsam mit der global operierenden Biotechfirma Qiagen eine dominierende Position in diesem Segment verschaffen. Qiagen, eine niederländische Holdinggesellschaft mit europäischem Hauptquartier in Hilden bei Düsseldorf, ist auf den Verkauf von Testprodukten spezialisiert: vor allem für Gebärmutterhalskrebs, neue und alte Grippeviren oder Tumordiagnostik mit Biomarkern.

Zunächst sollte der vorgeburtliche Test im Rahmen von Screenings angeboten werden – und zwar vor einer zusätzlich eingesetzten Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung). Doch es kam anders: Ende April musste Sequenom erklären, dass MitarbeiterInnen Daten klinischer Studien manipuliert hätten. Daraufhin stürzten die Aktien der börsennotierten Firma rasant ab. Eine Untersuchungskommission soll die Vorgänge bis Ende 2009 aufklären. Sequenom hofft nun, dass der Down-Syndrom-Test 2010 marktreif sein wird.

Verschiedene soziale Welten müssen sich treffen, um aus Laborexperimenten klinische Verfahren zu machen, mit denen in diesem Fall schwangere Frauen im Behandlungsalltag konfrontiert werden. Das Exzellenz-Netzwerk Safe bot fünfzig Fachmännern und -frauen aus 19 Ländern solche Anknüpfungspunkte, um Studien durchzuführen, politische Rahmenbedingungen, organisatorische Fragen und Kosteneffektivitäten zu klären – finanziert mit 13 Millionen Euro aus dem sechsten EU-Rahmenforschungsprogramm. Neben Firmen wie Sequenom und Forschern wie Dennis Lo waren auch deutsche WissenschaftlerInnen beteiligt.

  • Eugenik politisch gewollt

Selbst wenn die molekularen Genfragmente und Marker bloße Laborartefakte bleiben, sich als manipuliert erweisen sollten und noch nicht flächendeckend verwendet werden: Der Routineeinsatz nicht-invasiver Pränataldiagnostik ist absehbar! Die Verfahren werden als bedeutungsvoll angesehen, die Forschungsverbünde und der politische Wille sind geschmiedet.

Zunächst wird die neue Diagnostik die etablierten Screeningprogramme ergänzen. Auf lange Sicht soll sie aber die verbreiteten invasiven, risikobehafteten Verfahren wie Amniozentese und Chorionzottenbiopsie ersetzen. Genau das macht die Attraktivität aus: für Firmen, die allein den US-Markt für den nicht-invasiven Test auf eine Milliarde Dollar projektieren, für Gesundheitsökonomie und -politik, die auf billigere Verfahren und effektivere Erkennung setzen. Nachfrage und Bedürfnisse sind ohnehin schon da. Auch die Risikoscreenings und Fruchtwasseranalysen, die Frauen an Körper und Seele schädigen, haben das gleiche Ziel: die Geburt behinderter Kinder zu vermeiden.

  • Ansprüche und Entscheidungsdruck

Die Aussicht »früher, sicherer und einfacher« genetische Besonderheiten erkennen zu können, wird die Ansprüche, Wünsche und Ertragbarkeitsvorstellungen aller verändern. Der Druck zur Entscheidung (und zum Schwangerschaftsabbruch) für Frauen, die mit einem »auffälligen« Kind schwanger gehen, wird steigen, aber auch der Erklärungsdruck für Frauen, die aus sozialen Gründen abtreiben wollen. Die Grenze zwischen »sozial« und »gesundheitlich« motiviertem Abbruch erodiert, wenn dieser vor der zwölften Schwangerschafswoche liegt. Perspektivisch – und in bestimmten Gesellschaften besonders – wird man sich fragen und fragen lassen müssen: Ist das Geschlecht des Ungeborenen unerwünscht? Oder passt es nicht in die Geschlechterbalance der Familie? Welche – möglicherweise leichten – Behinderungen sind noch tolerabel?

Faktisch wird die nicht-invasive Diagnostik die individuelle »Entscheidung« zum Abbruch entdramatisieren. Symbolisch wird sie genetische Qualitätsurteile gesellschaftlich verstärken und Eugenik als Politik und als persönliche Orientierung weiter normalisieren. Die Problematisierung der Methode (nicht-invasiv) und die Hoffnung, Beratung möge das Schlimmste verhindern, sind trügerisch. Auf den Prüfstand gehören Selektionspolitik, ökonomische Logiken und die dazugehörigen Wissensproduktionen. Die neuen Verfahren bieten Anlass für alte Fragen: Es kann alles andere als eine Chance sein, wenn unser Leben und das unserer Kinder planbar wird. Es könnte sich individuell und gesellschaftlich als Unglück erweisen.

© Erika Feyerabend, 2009
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