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Fokus auf Bewährtes

»Da es sich um Kinder handelt, sind schwere, unter Umständen irreversible unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Tod durch Verabreichung neu eingeführter Substanzen ebenso wie bei Schwangeren besonders gravierende Ereignisse […]

Deshalb sollte gelten, dass neue Substanzen nur wenn unbedingt notwendig Kindern verabreicht werden. Hierzu sind vorherige Studien nötig, aber auch solche Studien können seltene Risiken nicht sicher ausschließen. Deshalb ist der Fokus auf die sichere Anwendung von bei Erwachsenen (und bei Kindern) schon lange angewandten Substanzen zu legen.

Auf keinen Fall darf eine Situation provoziert werden, in der verstärkt Reklame für die Anwendung neuer Substanzen bei Kindern gemacht wird, nur weil die Industrie hierfür eine Studie vorgelegt hat. Dies könnte von der Industrie induziert werden, indem dem Arzt haftungsrechtliche Konsequenzen bei der Anwendung älterer, nicht bei Kindern geprüfter oder bewährter Substanzen suggeriert werden.«

aus einer 2002 veröffentlichten Stellungnahme von Prof. Bruno Müller-Oerlinghausen zum Thema »Arzneimittelforschung an Kindern«. Müller-Oerlinghausen war 2002 Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

>>> Lesen Sie zur geplanten AMG-Novelle bitte auch:

Zum Wohle von PatientInnen?



KLAUS-PETER GÖRLITZER, Journalist und redaktionell verantwortlich für BIOSKOP

Gesetz für fremdnützige Arzneitests

  • Kranke Kinder sollen an klinischen Prüfungen teilnehmen, die ihnen weder Heilung noch Linderung bringen können

aus: BIOSKOP Nr. 25, März 2004, Seiten 10+11

Was hierzulande bisher zumindest rechtlich tabu war, will Rot-Grün nun erlauben: klinische Prüfungen mit kranken Kindern und Erwachsenen, die ihnen persönlich weder Heilung noch Linderung bringen können. Dies sieht der Entwurf zur Novelle des Arzneimittelgesetzes vor, der noch im März den Bundestag passieren und »die Konkurrenzfähigkeit des Pharmastandorts Deutschland verbessern« helfen soll.

Neue Wirkstoffe und Diagnostika dürfen gegenwärtig nur dann an PatientInnen ausprobiert werden, wenn ein therapeutischer Nutzen für die Testpersonen wahrscheinlich ist. Diese Bedingung soll nach dem Willen des Bundesgesundheitsministeriums nicht mehr zwingend gelten; künftig soll die Mitwirkung kranker Kinder auch zulässig sein, wenn die klinische Prüfung »für die Gruppe der Patienten, die an der gleichen Krankheit leiden wie die betroffene Person, mit einem direkten Nutzen verbunden« ist.

Diese vielfältig interpretierbare Formulierung ermöglicht zum Beispiel, dass – Einwilligung der Eltern vorausgesetzt – kleine PatientInnen als Kontrollgruppe benutzt werden, um Aufschluss über Wirkungen und Risiken einer neuen Arznei zu bekommen: Während ein Teil der ProbandInnen das zu prüfende Präparat erhält, wird der Kontrollgruppe ein Placebo (Scheinmedikament) verabreicht; anschließend wird untersucht, ob und wie sich das Krankheitsbild bei allen VersuchsteilnehmerInnen verändert hat.

Fragwürdig ist dieses Vorgehen vor allem, wenn eine neue Arznei gegen eine Erkrankung erprobt werden soll, für die es längst eine wirksame Standardtherapie gibt.

Fragwürdig ist dieses Vorgehen vor allem, wenn eine neue Arznei gegen eine Erkrankung erprobt werden soll, für die es längst eine wirksame Standardtherapie gibt. Selbst dann hält es das Gesundheitsministerium aber »zur Gewinnung verlässlicher wissenschaftlicher Aussagen« für gerechtfertigt, den PatientInnen der Placebo-Gruppe das bewährte Arzneimittel vorzuenthalten, sofern dieser Entzug nur mit einem »minimalen Risiko« verbunden sei. Allerdings definiert der Gesetzentwurf nicht, was ein »minimales Risiko« ist.

Reine Placebo-Gabe an Kranke bei gleichzeitiger Existenz einer erprobten Therapie verstoße gegen die geltenden ärztlichen Berufsordnungen, kritisiert dagegen der stellvertretende Vorsitzende der Medizinethik-Enquete, Hubert Hüppe (CDU). Auch die Bundesärztekammer (BÄK) sieht einen »erheblichen ethischen Konflikt« bei gruppennützigen klinischen Prüfungen an Kindern und Jugendlichen; sie will derzeit aber nicht eindeutig Position beziehen. »Der Meinungsbildungsprozess zu dieser Problematik«, heißt es in einer BÄK-Stellungnahme, »ist innerhalb der Ärzteschaft noch nicht abgeschlossen.«

Es fehlt eine Übersicht, die nachvollziehbar veranschaulicht, gegen welche Krankheiten und bei welchen Wirkstoffen es Versorgungslücken bei Kindern gibt.

Gleichwohl wird die geplante AMG-Reform, mit der Rot-Grün eine ab Mai anzuwendende EU-Richtlinie umsetzen würde, von diversen forschenden Kinderärzten und Pharmaunternehmen seit Jahren gefordert. Nach Darstellung des Marburger Professors Hannsjörg W. Seyberth gibt es für circa 70 Prozent der in der Kinderheilkunde eingesetzten Medikamente »keine gesicherten wissenschaftlichen Daten« – mangels Studien müssten sich KinderärztInnen häufig auf Erfahrungswerte verlassen und Präparate verordnen, die zwar für Erwachsene, nicht aber speziell für Minderjährige zugelassen seien. »Das Fehlen einer klinischen Prüfung im Kindes- und Jugendalter«, behauptet Seyberth, »führt dazu, dass bestimmte Arzneimittel im Kindesalter nicht angewendet werden und damit Kindern potenziell wirksame Arzneistoffe vorenthalten werden.«

Eine Übersicht, die nachvollziehbar veranschaulicht, gegen welche Krankheiten und bei welchen Wirkstoffen es Versorgungslücken bei Kindern gibt, haben bisher weder Seyberth noch das Gesundheitsministerium öffentlich vorgelegt. Und Belege dafür, dass Minderjährige auffällig häufiger als Erwachsene durch Medikamente geschädigt würden, sind bisher ebenfalls nicht bekannt geworden.

Eher zurückhaltend äußert sich denn auch der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. »Neue Substanzen«, schreibt Professor Bruno Müller-Oerlinghausen, sollten Kindern nur verabreicht werden “wenn unbedingt notwendig«. Er rät, sich auf die sichere Anwendung schon lange eingesetzter Wirkstoffe zu konzentrieren und mahnt MedizinerInnen, sich nicht von der Pharmaindustrie unter Druck setzen zu lassen.

Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA), der seit Jahren dafür wirbt, fremdnützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen PatientInnen zu ermöglichen, »begrüßt« die geplante AMG-Novelle. Allerdings haben die Firmen unter Beweis gestellt, dass sie auch mit der geltenden Rechtslage faktisch gut zurecht kommen. »Allein in den Jahren 2002 und 2003,« schreibt der VFA, »wurden zusammen 35 Medikamente und Applikationen für Kinder und Jugendliche zugelassen.« Die Einsatzgebiete reichen von Neurodermitis über Epilepsie bis zur Vermeidung von Nebenwirkungen bei der Leukämietherapie.

Die Enquete-Kommission zur Medizinethik traut sich bisher allerdings nicht, fremdnützige Forschungseingriffe an kranken Kindern kategorisch abzulehnen.

Im Bundestag können die Pharmaunternehmen wohl mit vielen offenen Ohren für ihre Wünsche rechnen; kritische Stimmen waren bisher nur vereinzelt aus der Medizinethik-Enquete zu vernehmen. Die Kommission traut sich bisher allerdings nicht, fremdnützige Forschungseingriffe an kranken Kindern kategorisch abzulehnen. Statt dessen empfiehlt sie, in das AMG eine »Ausnahmeregelung« aufzunehmen, die exemplarisch aufzählt, welche Untersuchungen, die keinen therapeutischen Nutzen für die ProbandInnen haben, unter Umständen erlaubt sein können, zum Beispiel: Messen, Wiegen, Befragen, Beobachten, Auswerten von Speichel-, Blut-, und Urinproben.

Wer die auf diese Weise gewonnenen Körpersubstanzen und (genetischen) Daten zu welchen Zweck nutzen wird, werden die Versuchspersonen weder bestimmen noch kontrollieren können.

© Klaus-Peter Görlitzer, 2004
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