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In den therapeutischen Bereich abgeschoben

»Nicht zuletzt taucht auch die These von der Ererbtheit der Legasthenie wieder auf. ´Legasthenie ist nicht heilbar´, schreibt Anja Krumpholz-Reichel in der populären Zeitschrift Psychologie heute (1999). Allen diesen Konzepten ist gemeinsam, dass sie sich mit der Sachlogik des Gegenstandes ´Schriftsprache´ und seiner Vermittlung nicht auseinander setzen. Die Ursache wird im Kind gesehen. (…)

Wenn Lese-Rechtschreibschwierigkeiten durch Krankheit bedingt oder als vererbt angesehen werden, ist ihre Behebung keine originär schulische Aufgabe mehr, sondern kann leicht in den ´therapeutischen´ Bereich abgeschoben werden. Die Schule wäre dann nur noch für den Schriftspracherwerb der Kinder zuständig, die beim Lesen- und Schreibenlernen keine Probleme entwickeln. Weder müssten sich Kultusministerien mit der Frage einer verbesserten Lehrerversorgung auseinander setzen, um ausreichende Förderung in der Schule sicherzustellen, noch müssten die Wissenschaftsministerien um eine Verbesserung der Lehrerausbildung bemüht sein. (…)

Wer wollte es Lehrpersonen verdenken, wenn sie keine Notwendigkeit sehen würden, sich über die neuen Konzepte der Schriftspracherwerbsdidaktik zu informieren und die Mühen eines an die Voraussetzungen der Kinder angepassten Unterrichts auf sich zu nehmen?«

Warnung der Regensburger Grundschulpädagogik-Professorin Sigrun Richter, nachzulesen in ihrem Aufsatz »Der lange Abschied von einem Irrtum. Das Konstrukt ´Legasthenie´ und seine Folgen«, veröffentlicht in der Zeitschrift GRUNDSCHULE 1/2000, S. 25f.



KLAUS-PETER GÖRLITZER, Journalist und redaktionell verantwortlich für BIOSKOP

»Genort für Rechtschreibleistung«

  • »Legasthenie«-Forschung in Marburg, Würzburg und Bonn

aus: BIOSKOP Nr. 15, September 2001, Seite 11

Wer erhebliche Probleme mit Lesen und Rechtschreibung hat, muss damit rechnen, als »Legastheniker« eingestuft zu werden. Es gibt Forscher, die Legasthenie für eine Krankheit halten, die zudem vererbt sein soll. Und es gibt Wissenschaftler, die soziale und pädagogische Ursachen sehen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert nun eine Studie, die genetische Ursachen der Lese-Rechtschreibstörung aufdecken soll.

Dass Rechtschreibung Probleme machen kann, weiß jeder Schüler: Die Palette reicht von Fehlern bei Diktaten, Zeichensetzung und Grammatik über Schwierigkeiten beim Abschreiben bis zur unleserlichen Handschrift. Beim Lesen kann man Wörter oder Wortteile fälschlicherweise auslassen, ersetzen oder hinzufügen, man kann die Zeile im Text verlieren oder einfach nur langsam sein.

Wann solche Schwierigkeiten als »Legasthenie« (»Lese-Rechtschreibstörung« = (LRS) eingestuft werden sollen, darüber sind sich Wissenschaftler aber keineswegs einig. »Das Kernsymptom einer Rechtschreibstörung«, erläutert die einschlägige Marburger Forschungsgruppe um Gerd Schulte-Körne, »ist eine im Vergleich zur Norm geringe Rechtschreibleistung. Dieses Maß ist kontinuierlich, d.h. es gibt erst einmal keine zwangsläufige Definition, ab wann genau eine Minderleistung als auffällig zu bezeichnen ist. Jegliche Festlegung ist somit relativ willkürlich.«

  • Wissenschaftliche Berater im Selbsthilfeverband

Trotz solcher grundlegenden Unklarheiten steht für das Team aus der Marburger Uni-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters aber fest: »Zur Genese (Entstehung) der LRS tragen erbliche Faktoren bei, wobei bislang noch keiner dieser Faktoren auf molekularer Ebene identifiziert worden ist. Durch Kopplungsuntersuchungen konnten in unabhängigen Studien Gene auf den Chromosomen 6 und 15 lokalisiert werden.« Dass auf Chromosom 15 »ein Genort für Rechtschreibleistung liegen muss«, glaubt auch der Humangenetiker Tiemo Grimm. Der Würzburger Professor, bundesweit bekannt geworden durch den Eisinger Fall (Siehe BIOSKOP Nr. 8-13), sagt auch: »Alle bisher vorliegenden Befunde zeigen also, dass mehrere Gene für die Ausbildung einer Legasthenie verantwortlich sein können.«

Grimm und Schulte-Körne engagieren sich auch als wissenschaftliche Berater des Bundesverbandes Legasthenie e.V., der sich als »Selbsthilfeverband Betroffener und ihrer Eltern« darstellt. Gemeinsam mit dem Bonner Humangenetiker Peter Propping fahnden sie nun nach »Legasthenie-Genen«. 1,2 Millionen DM hat die DFG Wissenschaftlern der Universitäten Würzburg, Marburg und Bonn im April bewilligt, um das Zusammenspiel genetischer Gegebenheiten mit visuellen und sprachlichen Informationsabläufen im Gehirn zu studieren.

  • Politische Folgen und Alternativen

»Ziel dieser multizentrischen Studie«, erläutert die Gruppe um Schulte-Körne das Projekt, »ist die molekulargenetische Untersuchung einer großen, bzgl. basaler Informationsverarbeitungsprozesse charakterisierten Stichprobe von 400 rechtschreibschwachen Probanden und ihrer Geschwister. In den ersten beiden Antragsjahren wird die Stichprobe phänotypisiert und DNA-Proben gewonnen.« Im dritten Antragsjahr sollen »durch genomweite Kopplungsuntersuchung Genorte identifiziert werden, die es erlauben werden, die molekularen Grundlagen basaler Informationsprozesse und ihre Beziehung zur LRS zu verstehen«. Was Menschen mit Lese- und Rechtschreibproblemen von diesem DFG-Projekt konkret haben sollen, steht nicht in den Mitteilungen aus Marburg und Würzburg.

Diverse Pädagogikfachleute lehnen das Konstrukt der Legasthenie als – angeborene oder wie auch immer verursachte – »Krankheit« ab. Das klassische Legasthenie-Konzept sei »eine profitable Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Ärzte, Psychologen und Therapeuten«, kritisiert etwa die Berliner Professorin für Grundschulpädagogik, Renate Valtin. Ihre Regensburger Kollegin Prof. Sigrun Richter warnt vor politischen Folgen der LRS-Vererbungstheorien. Richter empfiehlt, »die Schulen in die Lage zu versetzen, allen Kindern einen effektiven Schriftsprachunterricht zu ermöglichen: durch verbesserte Lehrerversorgung, Lehreraus- und -weiterbildung«.

© Klaus-Peter Görlitzer, 2001
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