»Underreporting«
Ende 2009 sorgte die H1N1-Grippe (besser bekannt als »Schweinegrippe«) für Schlagzeilen und verunsicherte viele BürgerInnen. Anlass für die Abgeordnete Kathrin Vogler und ihre linke Bundestagsfraktion, kritische Fragen an die Bundesregierung zu stellen, auch zum »Gefährdungsrisiko« der Impfungen. Das seinerzeit noch von Philipp Rösler (FDP) geführte Gesundheitsministerium (BMG) antwortete am 18. Januar 2010 (Bundestags-Drucksache 17/491). Bemerkenswert sind die BMG-Ausführungen zum (un-)möglichen Nachweis potenzieller Impfschäden:
»Neben den Vorzügen der passiven Überwachung (Surveillance) von Verdachtsfällen von Nebenwirkungen bzw. Impfkomplikationen (Signalgenerierung), sind auch Limitationen dieses Systems zu berücksichtigen. So können zumeist keine unmittelbaren Aussagen zur Kausalität gemacht werden. Auch kann die tatsächliche Häufigkeit der Nebenwirkungen nicht bestimmt werden, selbst wenn die Durchimpfungsrate exakt erfasst würde. Bekanntermaßen werden nicht alle Nebenwirkungen gemeldet. Dieses so genannte underreporting hat mehrere Gründe, beispielsweise meldet sich der Patient nicht beim Arzt oder der Arzt stellt den Zusammenhang mit einer stattgefundenen Impfung nicht her (beispielsweise weil die Symptome einer Grunderkrankung zugeordnet werden). Das genaue Ausmaß des ‘underreporting’ lässt sich nicht exakt beziffern. Offenbar werden aber schwerwiegende Nebenwirkungen vollständiger gemeldet als nichtschwerwiegende Nebenwirkungen.«
Impfen - um welchen Preis?
ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin
Impfen – um welchen Preis?
- Die Kampagne zur Erhöhung der Impfbereitschaft läuft, Interessen und Impfschäden sind dabei kein Thema
aus: BIOSKOP Nr. 12, Dezember 2000, Seiten 6+7
Impfen »ist die wirksamste präventive Maßnahme der Medizin«. So jedenfalls steht es in den offiziellen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Berliner Robert-Koch-Institut (RKI). Dem fühlt sich auch die rot-grüne Bundesregierung verpflichtet, ihr neues Infektionsschutzgesetz tritt im Januar 2001 in Kraft. Mit einem »10-Punkte-Programm zur Erhöhung der Impfbereitschaft und zur Steigerung der Durchimpfungsraten« wartet derweil das RKI auf. Zweifel scheint die offizielle Impfpolitik nicht zu kennen. Verbindungen zwischen ExpertInnen und Pharmaindustrie sind öffentlich kein Thema, Impfschäden auch nicht.
»Fit und geimpft« heißt der Slogan des Landessportbundes Rheinland-Pfalz. Offensiv und öffentlich wirbt die Sportler-Lobby gemeinsam mit dem Impfstoffhersteller Aventis Pasteur MSD und organisiert große Impfaktionen. »Fit for travel« heißt es im Reisemedizinischen Infoservice des Tropeninstitutes der Universität München. Unterstützt vom SmithKline Beecham (SKB), wird die »Aufklärung« der Reiselustigen via Internet angeboten. Der Pharmakonzern hatte 1999 in einer konzertierten Aktion die Kampagne »Take Care« durchgeführt. PR-Firmen sorgten dafür, dass Bildungsministerien und Schulleitungen mit Werbematerialien »fit gemacht« wurden: für den Konsum der SKB- Impfstoffe gegen Hepatitis A und B.
Nicht immer ist die Koalition von Behörden und Impfstoffherstellern auf den ersten Blick zu erkennen. Beispiel Dortmund: Dort vollzog das Gesundheitsamt Im November 2000 in einer Fachoberschule für Sozial- und Gesundheitswesen eine Impfaktion. Die Lokalpresse berichtete und forderte zur Nachahmung auf. Angeboten wurde der Impfstoff Gen H-B-Vax der Firma Chiron Behring/Pasteur Mérieux.
Doch wie unabhängig sind Infektionserfassung und Impfaufklärung wirklich?
Das Informationsmaterial bezog das Gesundheitsamt Dortmund weitgehend vom Deutschen Grünen Kreuz (DGK) in Marburg, einer »gemeinnützigen Vereinigung zur Förderung der gesundheitlichen Vorsorge«. Außerdem verweisen Amt und Schulleitung auf die STIKO. Die empfiehlt seit 1995 Hepatitis B-Impfungen bei allen Neugeborenen und Jugendlichen sowie »gefährdeten Erwachsenen«, etwa MitarbeiterInnen in Heimen, Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen. Alles in Ordnung, oder?
Das DGK ist eine zentrale Organisation der »Impfaufklärung«, als gemeinnützer Verein hat sie ein wohltätiges Image. Doch wie unabhängig sind Infektionserfassung und Impfaufklärung wirklich? Zwecks »Maser-Elimination«, berichtete das vom RKI herausgegebene Epidemiologische Bulletin im November 1998, wurde auf Initiative des RKI eine »Arbeitsgemeinschaft Masern« gegründet. Beteiligt sind die Impfstoffhersteller Chiron Behring, Aventis Pasteur MSD, SmithKline Beecham Pharma – und das DGK. Die Geschäftsführung einer weiteren »Arbeitsgemeinschaft Influenza« ist bei der Agentur medialog angesiedelt, einer gewinnorientierten DGK-Tochterorganisation. Gemeinsam mit vier Impfstoffherstellern will man der Grippe Herr werden. Die Auswertung der Daten wird in einem wöchentlichen Bulletin veröffentlicht, vom Kilian-Verlag, einer weiteren Tochtergesellschaft des DGK.
- Gezieltes Meinungssponsoring
Die intensive Liaison des DGK mit Pharmaproduzenten ist auch dem SPIEGEL aufgefallen. Das Nachrichtenmagazin berichtete im August über dubiose Werbungen im ZDF-Ratgeber »Gesundheit«. Eine interne ZDF_-Liste führte zahlreiche Pharmafirmen auf, die verdeckt für ihre Produkte warben. »Die Deals«, so _DER SPIEGEL, »wurden meist über die Fördergesellschaft des Deutschen Grünen Kreuzes abgewickelt.« »Meinungssponsoring« wird diese Praxis in Fachkreisen genannt.
Im »10-Punkte-Programm zur Erhöhung der Impfbereitschaft und zur Steigerung der Durchimpfungsraten« propagiert das RKI vor allem eine Botschaft: »regional Krankheitserreger eliminieren und schließlich weltweit ausrotten«. Sie soll auf allen Ebenen ankommen, von der Arztpraxis über Kindergärten und Schulen bis zu den öffentlichen Gesundheitsdiensten – und zwar »widerspruchsfrei«. Oberstes Gebot ist die »Durchimpfungsrate«, die durch »materielle Anreize« und »aktives Praxismarketing« gesteigert werden soll. Auch die Medien sind angehalten, den »Impfgedanken … im Rahmen von Infotainment-Konzepten« unterhaltsam zu verbreiten. Eine »effiziente Dramaturgie« eben.
- Prioritäten im Vorsorgestaat
Die im Januar 2000 vorgelegten Impfempfehlungen der STIKO stellen aktualisierte Impfkalender bereit, für Säuglinge, Kinder, Jugendliche und Erwachsene. An diesen Empfehlungen orientieren sich Krankenkassen, Gesundheitsämter und Arztpraxen. Im Mittelpunkt: der »Nutzen der Schutzimpfung für das Individuum und die Allgemeinheit«. ÄrztInnen sollen diesen Gedanken vermitteln und gleichzeitig Impfkomplikationen ansprechen.
Bei Einzelimpfungen ist die Einwilligung in mündlicher Form die Methode der Wahl und in den Patientenunterlagen zu dokumentieren. Für öffentliche Impftermine wie in Dortmund wird die schriftliche Aufklärung und Einwilligung angeraten – mit Merkblättern des DGK beispielsweise. Die Verbindungen von STIKO und DGK sind eng. Allein 6 der 15 STIKO-Mitglieder sitzen auch im Beirat des DGK, zum Beispiel der 2. Vorsitzende der STIKO, Professor Wofgang Jilg von der Universität Regensburg. Jilgs Rat wurde im »Take Care«- Wettbewerb von SmithKline Beecham und von Behörden zur Impfung gegen Hepatitis B millionenfach verbreitet. »Public-Private-Partnership« nennt man das in Fachkreisen.
Koordinierte Erfassungen sowie anonyme Testungen an »Restblutproben oder anderem geeigneten Material« gelten als selbstverständlich.
Ein neues Infektionsschutzgesetz (IfSG) wird ab Januar 2001 die Arbeit der STIKO erstmals auf eine gesetzliche Grundlage stellen. Veränderungen in der Praxis sind nicht zu erwarten. Viel Raum gilt der Meldepflicht von Infektionskrankheiten. Koordinierte Erfassungen sowie anonyme Testungen an »Restblutproben oder anderem geeigneten Material« gelten als selbstverständlich.
Aufklärung und freiwillige Teilnahme an Impfungen sollen oberstes Gebot sein. Der »Freiheit« setzt das IfSG aber immer dann Grenzen, wenn Gefahren »für den Einzelnen oder die Allgemeinheit« drohen. Das ist nicht neu und seit Jahren gesundheitspolitische Praxis. Doch kann laut IfSG selbst das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit fallen, wenn es darum geht, schwere Krankheiten und ihre drohende Verbreitung zu verhindern. Dann können, abgesichert durch besondere Rechtsverordnung, »bedrohte Teile der Bevölkerung« sogar verpflichtet werden, sich impfen zu lassen; der Grundrechtsschutz wird der »öffentlichen Gesundheit« geopfert. Dies ist dieselbe juristische Logik, die auch die Bioethik-Konvention des Europarates wie ein roter Faden durchzieht.
Ab 2001 wird der »Verdacht einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung« erstmals meldepflichtig sein. Ein Fortschritt? Was ein übliches und ein darüber hinausgehendes Ausmaß ist, soll ausgerechnet die STIKO festlegen; sie wird die Kriterien für Impfschäden entwickeln. Somit liegen gesundheitspolitische Impfprogramme und Schadensmodelle in einer Hand. Die neuen Kriterien werden nicht nur für Versorgungsansprüche im Schadensfall relevant sein. Denn in der Impfpolitik zählen vor allem Kalkulationen im Bevölkerungsmaßstab, nicht der Einzelfall. Überwiegt der Nutzen (die Prävention von Krankheit) gegenüber den Kosten (Krankheit durch Impfungen), dann geht die Rechnung auf.
- Alarmierende Berichte
Was in diesem Kalkül leicht untergeht, zeigt das Beispiel von Impfungen gegen Hepatitis B. Seit Jahren gibt es ernst zu nehmende Hinweise auf schwere Nebenwirkungen, beispielsweise Multiple Sklerose (MS), rheumatische Arthritis und Erblindung. In Frankreich haben 15.000 Menschen Einspruch gegen die staatliche Impfpolitik in Sachen Hepatitis B erhoben. PatientInnengruppen in Großbritannien und Kanada haben hunderte Berichte über Impfschäden gesammelt. Dem Impfstoff-Kontrollsystem der US-Arzneimittelbehörde FDA liegen laut der Wissenschaftszeitschrift Science mehr als 20.000 Berichte über Impfreaktionen vor.
Doch für Ursachenforschung ist angeblich kein Geld da. Um einen möglichen Zusammenhang von Impfung gegen Hepatitis B und MS untersuchen zu können, bat die Zellbiologin Prof. Bonnie Dunbar (Houston) mehrfach um öffentliche Mittel – vergeblich. Dagegen beeilten sich die Pharmariesen Merck, SmithKline Beecham Philadephia und Pasteur Merieux, selbst »unabhängige« Studien in Auftrag zu geben. Doch Langzeitbeobachtungen über Wirkungen, die jenseits einer Fünfwochenfrist nach einer Impfung auftreten, gibt es nicht. Trotz vieler Hinweise und leibhaftiger Erfahrungen Betroffener wird weiter geimpft und geworben – im »Dienst an der Allgemeinheit«.
© Erika Feyerabend, 2000
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