Aus dem Gehirn lesen
Diese Pressemitteilung erregte Aufsehen: »Ein Team von Wissenschaftlern entschlüsselt den neuronalen Prozess der Entscheidungsfindung«, verkündete das Berliner Bernsteinzentrum für Computational Neuroscience im April 2008. Die Forscher um John-Dylan Haynes hatten mittels Magnetresonanz-Tomographie (MRT) Veränderungen im Gehirn von Probanden untersucht, Ergebnis: »Schon etliche Sekunden bevor wir eine Entscheidung bewusst treffen, können erste Anzeichen der Absicht aus dem Gehirn ausgelesen werden.« Die Studie, folgert Professor Haynes, stelle »in Frage«, dass Menschen Entscheidungen bewusst fällen.
Der Versuch sei wie folgt abgelaufen: »Die Testpersonen konnten sich frei entscheiden, ob sie mit der rechten oder der linken Hand einen Knopf betätigen. Anhand einer vor ihren Augen abgespielten Buchstabenfolge sollten sie anschließend angeben, zu welchem Zeitpunkt gefühlsmäßig ihre Entscheidung gefallen war. Ziel des Experiments war es, herauszufinden, wo im Gehirn solche selbstbestimmten Entscheidungen entstehen und vor allem, ob dies geschieht, bevor es uns bewusst wird.«
Was Haynes und Kollegen mit dieser Methode festgestellt haben, schildert die Bernstein-Pressemitteilung so: »Bereits sieben Sekunden vor der bewussten Entscheidung konnten die Wissenschaftler aus der Aktivität des frontopolaren Kortex an der Stirnseite des Gehirns vorhersagen, welche Hand der Proband betätigen wird. Zwar ließ sich die Entscheidung der Probanden nicht mit Sicherheit voraussagen, die Häufigkeit richtiger Prognosen lag aber deutlich über dem Zufall.«
»Kritik der Hirnforschung«
Den ideologischen und gesellschaftspolitischen Gehalt der modernen Hirnforschung verdeutlicht Christine Zunke in ihrem Buch Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit. Das 222 Seiten starke Werk erschien im November 2008 im Akademie Verlag, Berlin.
CHRISTINE ZUNKE, Philosophin an der Universität Oldenburg
Das Gehirn ist nicht frei – na und?
- Eine philosophische Kritik an Annahmen, Anmaßungen und inneren Widersprüchen moderner Hirnforschung
aus: BIOSKOP Nr. 46, Juni 2009, Seiten 8+9
Die moderne Hirnforschung diskutiert Grundsatzfragen wie Freiheit und Autonomie. Haben wir einen freien Willen? Oder ist diese Vorstellung nur eine Illusion, die neuronal erzeugt ist?
Wenn der freie Wille tatsächlich eine neuronal erzeugte Illusion ist, wenn wirklich keiner anders handeln kann, als er es tut, dann wären schlechte Schulnoten nur durch hirnoptimierte Lernmethoden zu verbessern – und Straftäter könnten nicht im moralischen Sinne schuldig sein. Wenn der freie Wille tatsächlich eine neuronal erzeugte Illusion ist, wenn wirklich keiner anders handeln kann, als er es tut, dann können Pädagogen allerdings auch nur so unterrichten, wie sie es tun – und wir könnten gar nicht anders, als dem Straftäter seine Schuld im moralischen Sinne zuzuschreiben und ihm seine Tat vorzuwerfen. Wenn also aus der Erkenntnis, der Mensch habe keinen freien Willen, eine handlungsverändernde Einsicht folgen soll, dann ergibt sich ein logisches Problem: das Paradox, dass ich anders handeln soll, weil ich einsehe, dass ich nicht anders handeln kann.
Doch diese Sophisterei hilft uns auch nicht viel weiter bei der Frage, ob wir nun einen freien Willen haben oder nicht. Und das Argument der Hirnforscher, das uns zeigen soll, dass wir keinen freien Willen haben, wirkt zunächst recht überzeugend. Denn sie haben das allgemeinste Naturgesetz auf ihrer Seite, das Gesetz der Kausalität: Jede Wirkung ist durch ihre Ursache gesetzmäßig hervorgebracht. Das heißt, dass nichts einfach so da sein kann, ohne dass es eine Ursache hätte, die es bewirkt hat.
Also hat die Hirnforschung recht, wenn sie feststellt: Wir können den freien Willen im Gehirn nicht finden.
Wenn ich also den Arm hebe, dann lässt sich diese Bewegung auf ihre Ursachen zurückführen: auf die Muskelkontraktion, die durch Nerven hervorgerufen wurde, die den Arm mit dem Gehirn verbinden, bis hin zum Bereitschaftspotential im Gehirn, das vor dem subjektiv wahrgenommenen Entschluss zur Armbewegung diese Bewegung neuronal verursacht. Das Heben des Arms ist also ein naturkausal bestimmter, nach bekannten Naturgesetzen ablaufender Prozess, in dem so etwas wie der freie Wille nicht als wirkende Ursache auftaucht.
Folgerichtig schreibt der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth: »Trotz intensiver Erforschung des Gehirns hat man auch keinerlei Hinweis darauf gefunden, dass es so etwas wie eine ‘rein geistige’ (oder ‘mentale’) Verursachung gibt. Jeder Willensakt, jede sonstige geistige Tätigkeit ist untrennbar an physiologische Vorgänge gebunden, die ihrerseits bekannten chemischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen.« Diesen Befund in Frage stellen hieße, die Naturwissenschaft in Frage stellen. Denn eine ‘rein geistige oder mentale Verursachung’ ließe sich nur feststellen, wenn man eine Wirkung ohne Ursache hätte. Nur wenn jede mögliche Verursachung nach ‘bekannten chemischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten’ ausgeschlossen wäre, könnte man möglicherweise von einer ‘rein geistigen Verursachung’ reden.
Dies wäre gleichbedeutend mit der Aussage: Es gibt keine Ursache für dieses Phänomen. Wenn aber Phänomene einfach so spontan und ohne Ursache auftauchen und verschwinden könnten, dann wäre naturwissenschaftliche Forschung obsolet. Also hat die Hirnforschung recht, wenn sie feststellt: Wir können den freien Willen im Gehirn nicht finden. Die neuronalen Prozesse im Gehirn unterliegen – wie alles in der Natur – vollständig naturkausalen Gesetzmäßigkeiten.
Um zu zeigen, dass Freiheit keine Materialeigenschaft des Gehirns sein kann, braucht man keinen Magnetresonanztomographen,
sondern bloß einen Begriff von Freiheit.
Diese Erkenntnis ist nun alles andere als neu, genau genommen braucht es dafür nicht einmal die fortgeschrittenen technischen Methoden der heutigen Hirnforschung. Um zu zeigen, dass Freiheit keine Materialeigenschaft des Gehirns sein kann, braucht man keinen Magnetresonanztomographen (MRT), sondern bloß einen Begriff von Freiheit. Es reicht hierfür sogar der bloß logische, negative Begriff aus: Was frei ist, ist nicht determiniert. Da jede Wirkung durch ihre Ursache bestimmt ist, ist Freiheit das, was keine Ursache hat, die es bestimmt. Hiermit ist zugleich klar, dass Freiheit keine Materialeigenschaft irgendeines Stoffes sein kann, denn in der Natur gilt das Gesetz der durchgängigen Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Damit kann Freiheit nur im Denken sein. Das bedeutet, dass der freie Wille in den Handlungen des Menschen auf der empirischen Ebene der experimentellen Beobachtung gar nicht auftauchen kann.
Schon Immanuel Kant, der die Freiheit des Menschen zur Grundlage seiner Philosophie machte, schrieb: »Der Wille in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen) ist dem Naturgesetze gemäß und sofern nicht frei.« Wenn ich also den Arm hebe, erscheint in dieser Bewegung so wenig Freiheit wie in einem vom Baum fallenden Apfel. Wenn Sie fragen, warum der Apfel fällt, wird Ihnen ein Physiker was von Gravitation erzählen. Wenn Sie fragen, warum ich den Arm hebe, wird Sie eine Erklärung der hieran beteiligten neuronalen Prozesse nicht zufrieden stellen, sondern Sie wollen meine Absicht erfahren – zum Beispiel, dass ich einer Bekannten winken möchte. Wenn ich einer Bekannten winke, so passiert nichts, was nicht vollständig den Naturgesetzen gemäß wäre – aber die hinreichende Erklärung meines Tuns liegt in meinem Willen. Nicht über die naturkausalen Ursachen, sondern nur durch Kenntnis der Gründe wird Ihnen meine Handlung verständlich. Nur mit dem Begriff von Freiheit machen menschliche Handlungen Sinn.
Die Frage, ob ich einen freien Willen habe oder ob diese Vorstellung eine neuronal erzeugte Illusion ist, ist mit der Möglichkeit des Fragens, der Möglichkeit der gedanklichen Reflexion, schon positiv beantwortet. Denn die Reflexion fragt nach Gründen, nach Argumenten; sie will verstehen, fordert Einsicht. Damit ist schon gesetzt, dass das Denken nicht blinden naturkausalen Ursachen folgt, sondern Verknüpfungen, die es selbst herstellen muss, um etwas zu begreifen. Entsprechend passieren Handlungen nicht nur, sondern sind – im Gegensatz zu Reflexen – zugleich im Bewusstsein inhaltlich begründet.
Was in den bildgebenden Verfahren der Neurophysiologie sichtbar wird, sind neuronale Aktivitäten, nicht Bewusstsein.
Weil gedachter Inhalt keine physikalische Eigenschaft ist, ist die Frage nach der Wirklichkeit der Willensfreiheit ähnlich müßig wie die Frage nach der Wirklichkeit des Bewusstseins. Wenn es mir so vorkommt, als ob ich ein Bewusstsein habe, dann habe ich Bewusstsein – auch wenn es der empirischen Forschung nicht als solches Gegenstand sein kann. Was in den bildgebenden Verfahren der Neurophysiologie sichtbar wird, sind neuronale Aktivitäten, nicht Bewusstsein.
Wenn ich den Begriff der Freiheit zur Grundlage meiner bewussten Handlungen machen kann, dann bin ich frei. Denn meine Handlungen passieren mir nicht bloß, sondern ich weiß mich als ihr Urheber. Ich habe Gründe für mein Handeln. Hierüber hängen Bewusstsein und Freiheit notwendig zusammen – ein unfreies Bewusstsein ist unmöglich! Die Idee der Freiheit ist darum keine zufällige, sondern fällt mit der Selbstreflexion des Bewusstseins zusammen.
Aber folgt aus der Notwendigkeit dieser Idee ihre Wirklichkeit? Bei Kant heißt es: »Der Mensch handelt nach der Idee von einer Freiheit, als ob er frei wäre, und eo ipso ist er frei.« Die Idee der Freiheit wird durch die Handlung wirklich, die auf dieser Idee gründet. Der Mensch ist also frei, nicht bloß im ideellen Sinne, sondern indem er seine Freiheit in seinen Handlungen verwirklicht.
Der freie Wille nimmt also im Produkt der Handlung materielle Gestalt an; die Handlung ist die Vermittlung zwischen Idee und Material, durch sie wird das Material Träger einer Idee.
Diese Freiheit, die in jeder menschlichen Handlung steckt – auch in Konzeption und Durchführung naturwissenschaftlicher Experimente – bleibt für den naturwissenschaftlichen Blick unsichtbar. Denn der bearbeitete Naturstoff bleibt Naturstoff, mag seine neu geschaffene Form die gedachte Intention auch noch so deutlich herausschreien. Picassos berühmtes Gemälde Guernica enthält kein Atom Krieg, sowenig wie Waffen oder Soldaten – dennoch wäre kein Wissenschaftler so zynisch, Kriege als bloße Gedankenkonstrukte oder Illusionen zu bezeichnen. Der freie Wille nimmt also im Produkt der Handlung materielle Gestalt an; die Handlung ist die Vermittlung zwischen Idee und Material, durch sie wird das Material Träger einer Idee.
Sie werden sich nun vermutlich fragen, wie sich denn der Willensentschluss dem naturkausal bestimmten Material des Gehirns mitteilen kann. Sie werden versuchen, eine Schnittstelle zwischen Geist und Gehirn zu suchen; und Sie werden eine solche Schnittstelle nicht finden – nicht, weil die Neurophysiologie noch in den Kinderschuhen steckt, sondern weil es zwischen Bewusstsein und Gehirn (dem rohen Naturstoff, der nicht Resultat einer Handlung ist) prinzipiell keinen sukkzessiven Übergang, keine positiv geleistete Vermittlung geben kann. Ein Reflexionsbegriff kann als solcher nicht als eine physikalische Eigenschaft in irgendeinem Material erscheinen. Im Gehirn werden Sie kein Molekül Freiheit finden und in der Verfassung kein Atom Demokratie.
Kann man also sagen, die Hirnforschung hat in gewisser Weise doch recht und unsere Freiheit ist nur ein Gedankending? Ja, das kann man sagen. Aber lassen Sie bitte das Wort ‘nur’ weg.
© Christine Zunke, 2009
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