»Wenn Menschenwürde zum Luxus wird«
Über die Arbeit von ambulante dienste e.V. informiert ausführlich die Broschüre »Wenn Menschenwürde zum Luxus wird«, herausgegeben anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Vereins.
KONTAKT: ambulante dienste e.V., Urbanstr. 100, 10967 Berlin, Telefon (030) 690 48 70.
Persönliche Assistenz
URSULA AURIEN, Sozialarbeiterin
Alternative zum Leben im Heim
- Michaels Alltag mit persönlicher Assistenz in Berlin
aus: BIOSKOP Nr. 20, Dezember 2002, Seiten 6+7
Das erste, was ich über Michael (Name von der Redaktion geändert) erfahre, ist seine medizinische Prognose: Danach müsste er schon seit zwei Jahren tot sein. Michael ist noch keine 40 Jahre alt. Im Sommer 1995 fange ich als Sozialarbeiterin bei ambulante dienste e.V. in Berlin an. Seitdem bin ich Michaels zuständige Einsatzbegleitung.
ambulante dienste e.V. ist ein Assistenz und Pflegedienst, gegründet vor 21 Jahren von behinderten und nichtbehinderten Menschen als Alternative zum Heim. Bedarfsdeckende Assistenz hat ihren Preis. Man kann davon ausgehen, dass umfangreiche Assistenz praktisch immer über dem Level der Pflegeversicherung liegt. Daher verhandeln wir in der Regel mit dem Sozialamt um die Bewilligung der Kosten, und dies wird seit Einführung der Pflegeversicherung sowie angesichts zunehmender Sparmaßnahmen immer schwieriger. Hier soll es um Michael gehen, darum, wie sein Leben mit persönlicher Assistenz aussieht.
Als ich Michael kennen lerne, umfasst die Dauer der Assistenz acht Stunden am Tag. Ein Jahr später werden es zwölf Stunden sein und wieder ein Jahr darauf 24. Bewilligt sind anfangs in der Woche fünf Stunden täglich, am Wochenende je drei. Michael bewohnt eine geräumige Wohnung und ist dank seiner früheren Berufstätigkeit nicht auf Hilfe zum Lebensunterhalt durch das Sozialamt angewiesen. Schon lange benutzt Michael einen Rollstuhl. Er kann aber noch kurz stehen, sprechen, die Arme bewegen. Er liebt Musik, ganz besonders Opern. Und er nutzt jede Möglichkeit, abends auszugehen: ins Kino, ins Konzert, in die Oper. Ein großer Redner ist er nie, er lässt sich gern unterhalten. Bei ihm und mit ihm wird viel gelacht. Wie es wirklich in ihm aussieht, ist schwer zu sagen. Weiß er, was auf ihn zukommen wird? Ich habe mich nie getraut, ihn zu fragen. Seine Schwester starb bereits an derselben Behinderung, einer seltenen erblichen Erkrankung.
Nach einem Konzert in der Philharmonie passiert es durchaus, dass Michael aus dem Rollstuhl aufsteht und minutenlang Beifall klatscht.
Seine Frau ist vor kurzem ausgezogen. Ein Untermieter zieht ein. Michael trauert um alte Zeiten und verlorene Fähigkeiten, träumt davon, wieder laufen zu können. Der Abbau seiner Kräfte erfolgt allmählich und stetig. Am deutlichsten spürbar ist zunächst der behinderungsbedingte Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Was vor fünf Minuten gesagt wurde, ist meistens vergessen. Wichtig ist, ihm die Vergesslichkeit nicht übel zu nehmen, geduldig immer wieder neu zu erklären.
Einer seiner Assistenten dreht im Rahmen seines Studiums einen Film mit Michael. Es wird ein beeindruckendes Dokument, zeigt die Haltung und die Zuneigung seiner Assistenten, aber auch die Lebensfreude Michaels. Trotz zunehmender Erschöpfung werden die abendlichen Ausflüge so lange wie möglich beibehalten. Nach einem Konzert in der Philharmonie passiert es durchaus, dass Michael aus dem Rollstuhl aufsteht und minutenlang Beifall klatscht.
In meiner Funktion als Einsatzbegleitung bin ich zuständig für alle Fragen oder Probleme, die mit der Assistenz zu tun haben. Auf dieser Basis versuche ich, möglichst gute Rahmenbedingungen für Michael zu schaffen, damit er sein Leben individuell gestalten kann. Je weniger er selbst steuern kann, um so wichtiger wird die Regie von außen. Es ist ein Prozess der Veränderung, in den alle Beteiligten hineinwachsen. Seine festen Helfer, zunächst überwiegend Studenten, arbeiten gern bei ihm. Obwohl die Arbeit bei Michael immer anspruchsvoller und schwieriger wird, ist die Fluktuation gering. Einige hören auf, weil das Studium zu Ende ist. Der Abschied fällt schwer.
Wird der Betreuer Michaels Wunsch, zu Hause zu leben, respektieren – oder wird der Kostenaspekt wichtiger sein?
Irgendwann kann Michael nicht mehr selbst unterschreiben. Die Bank zieht seine Scheckkarte ein. Nun wird eine gesetzliche Betreuung unumgänglich. Die Angehörigen lehnen ab, aus persönlichen und sehr verständlichen Gründen. Im Rückblick eine weise Entscheidung. So bleibt die Freiheit für den familiären Kontakt ohne die Pflichten der Betreuung. Zunächst machen wir uns Sorgen: Wird der Betreuer Michaels Wunsch, zu Hause zu leben, respektieren – oder wird der Kostenaspekt wichtiger sein? Michael hat Glück. Der Betreuer, der vom Gericht bestellt wird, ist sehr kooperativ.
Über Michaels Prognose wird wenig geredet. Sie ist trotzdem präsent. Mein Angebot an die Helfer, eine Supervison zum Thema Tod und Sterben zu organisieren, wird lange abgeblockt; eine Fortbildung zum selben Thema dagegen nicht. So kann eine langsame Annäherung stattfinden.
Magensonde, Katheter durch die Bauchdecke, starke Verschleimung, Schluckbeschwerden, Dekubitusprophylaxe, Hautpflege und mehr erfordern sehr sorgfältige Arbeit. Es findet eine enge Zusammenarbeit mit unserer Krankenpflegefachkraft und mit Michaels Arzt statt. Alle Assistenten, die bei Michael arbeiten, sind sehr gründlich eingearbeitet. Da Michael praktisch nicht mehr sprechen kann, spielt die Art und Weise der Kommunikation eine große Rolle. Fragen müssen so gestellt werden, dass Michael darauf mit Ja oder Nein, mit Nicken oder Kopfschütteln reagieren kann. Außerdem haben wir auf der Grundlage der Erfahrung der alten Helfer eine Art Katalog angelegt mit Gewohnheiten und Vorlieben. Zum Beispiel welche Sendungen er gern hört, welche Fragen gestellt werden können, um herauszufinden, was ihm gefällt, was er möchte oder auch nicht, nach seiner Befindlichkeit usw. Dies ist wichtig für Vertretungen, die nicht so oft bei Michael arbeiten und ihn nicht so gut kennen. Bei einem Krankenhausaufenthalt werden Michaels Assistenten zu unverzichtbaren Dolmetschern, einmal abgesehen vom menschlichen Kontakt, der ebenso wichtig ist, der ihn lebendig erhält.
Eindeutig aber waren und sind zwei Dinge: Michael will nicht ins Heim, und seine Augen strahlen, wenn wir ihn fragen, ob er Urlaub machen möchte.
Im Rahmen einer eigenen Fortbildung lerne ich das Konzept der »basalen Stimulation« kennen, das ursprünglich für Komapatienten entwickelt wurde und kann erreichen, dass Michaels Team eine Fortbildung dazu erhält. Es bezieht sich auf die Wahrnehmung und den Umgang mit Menschen, die nicht mehr selbst reagieren können. Selten erhalte ich von Helfern so einhellig eine so positive Rückmeldung auf eine Fortbildung.
Oft sind wir nicht ganz sicher, was Michael wirklich denkt und wünscht. Eindeutig aber waren und sind zwei Dinge: Er will nicht ins Heim, und seine Augen strahlen, wenn wir ihn fragen, ob er Urlaub machen möchte. Der letzte Urlaub ist erst ein paar Wochen her. Michael freut sich schon wieder auf den nächsten.
© Ursula Aurien, 2002
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