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SILVIA BODES, Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin, freiberufliche gesetzliche Betreuerin

Medizinische Versorgung im Heim

  • Was ein gesetzlicher Betreuer mit dem ärztlichen Dienst einer großen Behinderteneinrichtung erleben kann

aus: BIOSKOP Nr. 11, September 2000, Seiten 4+5

Ende der siebziger Jahre lieferte die Bundestag-Enquete zur Psychiatrie viele Reformideen. Seitdem haben die meisten Anstalten und Wohnheime ihr Gesicht tatsächlich verändert.

Wohnbereiche wurden aus psychiatrischen Einrichtungen ausgegliedert. Damit trug man der Tatsache Rechnung, dass geistige Behinderung nichts mit Krankheit zu tun hat. Trotzdem leben weiterhin tausende behinderter Menschen in Großeinrichtungen, die einen eigenständigen ärztlichen Dienst unterhalten. Viele beschäftigen eine Reihe von Medizinern: Psychiater, Neurologen, Internisten, Allgemein- und Kinderärzte. Andere Fachärzte werden bei Bedarf hinzugezogen, manche haben einen Behandlungsraum im Heim, auch Sammeltermine für mehrere Bewohner gleichzeitig sind üblich. Die Krankenkassen zahlen eine Pauschale an die Einrichtung für ärztliche Versorgung, Heilmittel und Medikamente.

Der Chefarzt gehört in der Regel auch zur Anstaltsleitung. Psychiater der Einrichtung werden meist vom Amtsgericht als »unabhängige« Sachverständige bestellt, um zu Ausmaß und Weiterführung einer rechtlichen Betreuung Stellung zu nehmen. Die medizinische Versorgung der Bewohner findet somit praktisch abgesondert von der Außenwelt statt! Das kann schlimme Konsequenzen haben, wie folgende Beispiele aus einer Großeinrichtung für geistig behinderte Menschen zeigen, die von der Diakonie geführt wird.

Der Chefarzt halte es nicht für notwendig, einen Onkologen hinzuziehen.

Heimbewohner Knötschke (alle Namen geändert) wird zur Routinekontrolle im Krankenhaus aufgenommen, da er vor Jahren an Krebs erkrankt war. Dem gesetzlich bestellten Betreuer wird mitgeteilt, die Untersuchung habe keinen auffälligen Befund ergeben, der Patient müsse aber wegen Husten und Auswurf noch einige Tage in der Klinik bleiben. Beim nächsten Besuch im Heim hört der Betreuer per Zufall durch einen Mitbewohner von Herrn Knötschke, dass dieser erneut Krebs habe. Dem »Gerücht« geht der Betreuer nach und erfährt, dass bei einer wegen Husten durchgeführten Bronchoskopie Tumorzellen nachgewiesen wurden. Der Betreuer fordert eine Kopie des Krankenhausberichts an und stellt erstaunt fest, dass lediglich eine dreimonatliche Röntgenkontrolle des Befundes vereinbart wurde. Er kontaktiert das Krankenhaus, dort sagt man ihm, die behandelnde Ärztin sei inzwischen im Mutterschutz. Abends ruft ihn die Ärztin doch noch privat an und rät ihm dringend, einen Onkologen aus einer anderen Stadt hinzuzuziehen – eine Empfehlung, die im Bericht ihrer Klinik aber fehlt.

Einige Tage später erfährt der Betreuer, dass die medizinischen Unterlagen zwar im Heim bereit lägen, den Mitarbeitern von Herrn Knötschkes Wohngruppe aber untersagt worden sei, ihn zum Onkologen zu begleiten, Begründung: Der Chefarzt halte es nicht für notwendig, einen Onkologen hinzuziehen. Die Dienstanweisung des Chefarztes ist für die Mitarbeiter bindend, wer ihr nicht folgt, muss mit disziplinarischen Konsequenzen rechnen. Beim Onkologen stellt sich dann heraus, dass der allein gelassene Betreuer wichtige Fragen zur Krankengeschichte von Herrn Knötschke nicht beantworten kann. Auskunft könnten nur die Heimmitarbeiter geben, aber die dürfen – und trauen – sich ja nicht…

Den Bereitschaftsdienst, der solche Fälle ohnehin oft am Telefon erledigt, bemühen sie erst gar nicht.

Frau Pfeifer klagt über Unterbauchschmerzen und vermutet einen erneuten Leistenbruch. Mitarbeiter tasten den Bauch ab, können aber keine Schwellung feststellen – im Gegensatz zum Arzt, den der Betreuer trotzdem eingeschaltet hat. Noch schlimmer trifft es Frau Schneider, bei der ein Auge entzündet ist. Die Heimmitarbeiter meinen, es handele sich mal wieder um eine Bindehautentzündung und verabreichen ihr weiterhin Augentropfen. Den Bereitschaftsdienst, der solche Fälle ohnehin oft am Telefon erledigt, bemühen sie erst gar nicht. Fatal, denn die Tropfen hätten sofort abgesetzt werden müssen. Konsequenz: Einige Tage später muss das Auge operativ entfernt werden, Frau Schneider wird zur Empfängerin von Blindengeld.

Und kaum eine/r protestiert.

Die Untersuchungen und Visiten finden meist in den Wohnbereichen statt. Das ermöglicht zwar ständigen Austausch zwischen Ärzten und Mitarbeitern, beraubt die Betroffenen aber jeder Eigeninitiative. Eine freie Arztwahl gibt es praktisch nicht, Kontakte und Austausch mit anderen Patienten, wie in Wartezimmern bei niedergelassenen Ärzten möglich, entfallen im Heim.

Und kaum einer protestiert. Die Bewohner schweigen, weil sie die Alternative gar nicht kennen. Gesetzliche Betreuer sind in der Regel froh, dass ihre Schutzbefohlenen »so gut und umfassend« im Heim versorgt werden und übersehen gern, wie spärlich sie darüber informiert werden. Viele Mitarbeiter beruhigen sich mit der Vorstellung, dass Ärzten von außerhalb die Erfahrung zur sachgerechten Behandlung geistig Behinderter fehle. Und wer soll, bei der chronischen Personalknappheit, es auch noch schaffen, Bewohner zu einem Arzt außerhalb des Heimes zu begleiten?

Angesichts solcher Zustände und Einstellungen dürfte noch lange auf sich warten lassen, was längst fällig ist: die Abschaffung der ärztlichen Dienste in Behinderteneinrichtungen.

© Silvia Bodes, 2000
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