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SILVIA BODES, Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin, freiberufliche gesetzliche Betreuerin

Betreuung pauschal

  • Geplante Reform macht engagierte Betreuung kranker und behinderter Menschen praktisch unmöglich

aus: BIOSKOP Nr. 23, September 2003, Seiten 6+7

Als 1992 das neue Betreuungsrecht in Kraft trat, wurde es als »Jahrhundertreform« gefeiert. Kranke und behinderte Menschen sollten endlich ernst genommen und ihre Rechte gestärkt werden; mit Entmündigung und Massenverwaltung sollte Schluss sein.

Auch wenn dies in der Praxis nicht immer gelungen ist, Verbesserungen gibt es: Heute ist der rechtliche Betreuer verpflichtet, nach dem Willen des Betreuten zu handeln. Freiheitsentziehende Eingriffe wie Fesselungen und medikamentöses Ruhigstellen sind nur noch erlaubt, um den Betroffenen vor »erheblichen Gefährdungen« zu schützen – und sie müssen vom Vormundschaftsrichter genehmigt werden.

Die Zahl der Betreuungen ist seit der Reform stetig gestiegen. 1992 hatten schätzungsweise 74.100 Menschen einen Vormund, 1999 wurden bereits 856.628 Betreute registriert, die Millionengrenze wird bald erreicht sein. 70 Prozent aller Betreuungen werden ehrenamtlich geführt, 30 Prozent hauptberuflich.

  • Effizienzsteigerung und Kostendämpfung

Vor diesem Hintergrund wurde im Juli 2001 eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe (BL-AG) gebildet, die eine erneute Reform des Betreuungsrechts vorbereiten soll. Im Vordergrund sollen dabei Effizienzsteigerung und Kostendämpfung stehen. Zwei Jahre später, im Juni 2003, hat die AG einen dicken Abschlussbericht veröffentlicht. Dessen Vorschläge zielen im Kern darauf, Betreuungen deutlich zu reduzieren; statt dessen will man Vorsorgevollmachten stärken und verbindlich regeln, dass Angehörige kraft Gesetz die Interessen nicht einwilligungsfähiger Menschen wahrnehmen. Gleichzeitig soll ein neues Vergütungssystem eingeführt werden, das Arbeit und Aufwendungen hauptberuflicher BetreuerInnen künftig pauschal bezahlt – erhebliche finanzielle Einbußen wären die Folge.

Hauptberufliche BetreuerInnen rechnen bisher minutengenau ab, pro Stunde erhalten sie maximal 31 Euro brutto. Wer sich intensiv für seine KlientInnen einsetzt, muss sich pro Person durchschnittlich mindestens zehn, mitunter auch zwanzig Stunden im Monat Zeit nehmen, denn die Aufgaben sind vielfältig: Haus- und Heimbesuche gehören ebenso dazu wie Gespräche und Korrespondenz mit ÄrztInnen und HeimmitarbeiterInnen sowie regelmäßiger Austausch mit Behörden und Banken. Sehr zeitintensiv sind Wohnungsauflösungen oder auch juristische Auseinandersetzungen, die gar nicht so selten sind.

  • Kalkulationen und Modellrechnungen

Die BL-AG will die abrechenbare Arbeitszeit nun gedeckelt sehen: Die Stundenzahl pro Betreuungsfall soll nicht mehr individuell nachgewiesen, sondern allgemein festgelegt werden, wobei die bezahlten Stunden mit zunehmender Betreuungsdauer abnehmen sollen. Ein Betreuter, der zu Hause lebt, soll nach Vorstellungen der BL-AG in den ersten drei Monaten jeweils sieben Stunden Arbeitsaufwand verursachen, nach einem Jahr soll nur noch halb so viel Zeit erforderlich sein und vergütet werden. Bei HeimbewohnerInnen sollen im ersten Vierteljahr viereinhalb Stunden pro Monat genügen, ab dem 13. Monat dann monatlich zwei Stunden. Außerdem sollen arbeitsbedingte Aufwendungen künftig nur noch pauschal mit drei Euro pro Stunde abgespeist werden. Zur Zeit können real entstandene Kosten für Porto, Telefon und gefahrene Kilometer geltend gemacht werden.

»Die Pauschalen ermöglichen den effektiv arbeitenden Betreuerinnen und Betreuern auskömmliche Einnahmen«, heißt es im Bericht der Bund-Länder-AG. Diese Aussage sollen Modellrechnungen belegen. Im Muster-Beispiel vertritt der Betreuer je zur Hälfte Betroffene in Einrichtungen und zu Hause, 50% im ersten Jahr, 50% länger. Er kommt so auf ein »Einkommen« von 47.604.53 Euro. »Der bisher erforderliche Zeitaufwand für die Erstellung der Abrechnung«, meint die BL-AG, »kann nunmehr für die Betreuungsarbeit genutzt werden.« Diese Rechnung geht an der Realität vollkommen vorbei. Denn eine zeitgenaue Dokumentation ist schon aus haftungsrechtlichen Gründen weiterhin erforderlich, weshalb eine Zeiteinsparung für BetreuerInnen nicht erfolgen wird. Und meine Erfahrung zeigt: Die von der Arbeitsgruppe angenommenen 50% Neufälle sind in der Praxis gar nicht leistbar! Als hauptberufliche Betreuerin übernehme ich in der Regel solche Fälle, die für Ehrenamtliche zu aufwändig wären. Bei betreuten Demenzkranken können viele Besuche notwendig sein, um herauszubekommen, was die Betroffenen wirklich wollen.

  • Wahrscheinliche Effekte

Um wirtschaftlich zu überleben, wird ein Vollzeit arbeitender Betreuer die Zahl seiner KlientInnen auf mindestens siebzig aufstocken müssen. Damit ist eine kontinuierliche persönliche Beziehung praktisch unmöglich. Diese ist offensichtlich politisch auch gar nicht erwünscht. Denn laut BL-AG-Bericht soll das Pauschalierungssystem die Bereitschaft fördern, länger dauernde Betreuungen an geeignete Ehrenamtliche abzugeben. Abgesehen davon, dass ein Wechsel für viele Betroffene seelisch schwer zu verkraften ist, kann es sich kein Betreuer ökonomisch leisten, weniger aufwändige Betreuungen abzugeben. Vielmehr werden zeitintensive Fälle wieder zu Behördenbetreuungen werden.

Der absehbare Effekt: Viele qualifizierte und engagierte BetreuerInnen werden sich wohl beruflich umorientieren. GewinnerInnen werden diejenigen sein, die wenig Wert auf persönliche Beziehung zum Betreuten legen, sondern lieber vom grünen Tisch aus per Fax und Telefon entscheiden. Zeitaufwändige Gespräche mit Betreuten und ÄrztInnen über medizinische Behandlungen oder Alternativen könnten dann der Vergangenheit angehören

  • Erreichte Verbesserungen gefährdet

Dabei konnten inzwischen bemerkenswerte Verbesserungen erreicht werden. Viele meiner Betreuten, die überwiegend geistig behindert und seit Jahrzehnten in Heimen untergebracht sind, haben inzwischen gelernt, dass sie einen eigenen Willen haben dürfen. Und es war möglich, ihnen Alternativen aufzuzeigen, etwa in der ärztlichen Versorgung: So haben 75 Prozent der von mir betreuten HeimbewohnerInnen ihren Hausarzt gewechselt. Andere haben gelernt, dass ihnen Bargeld persönlich zur Verfügung steht – und nicht dem Heimpersonal. Das vorgeschlagene Pauschalsystem würde das bisher Erreichte gefährden, denn Einrichtungen können dann wieder ziemlich sicher sein, dass hauptberufliche BetreuerInnen keine Zeit mehr für Kontrollen und zeitaufwändige Auseinandersetzungen haben.

Die JustizministerInnen-Konferenz hat die Bund-Länder-AG beauftragt, bis zum Herbst 2003 Gesetzentwürfe zur Reform des Betreuungsrechts vorzulegen. Würden die bisherigen Ideen realisiert, würden die Rechte der Betroffenen in der Praxis stark beschnitten. Dann drohen Zustände wie vor 1992.

© Silvia Bodes, 2003
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