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pflegenoten.de

Pflegeheime sollen vergleichbar werden. Das bezweckt eine Transparenzvereinbarung von Pflegekassen, kommunalen Spitzenverbänden sowie Sozialhilfe- und Heimträgern. Anhand von 82 Kriterien gibt es Noten von 1 (»sehr gut«) bis 5 (»mangelhaft«), die man seit Dezember 2009 via Internetseite www.pflegenoten.de anklicken kann. Beurteilt werden vor allem Pflege und medizinische Versorgung, aber auch soziale Betreuung, Wohnen und Hygiene oder der Umgang mit Demenzkranken.

Allerdings gibt es Zweifel, wie aussagekräftig die Benotung wirklich ist. Der MDK Reinland-Pfalz spricht sogar von »Volksverdummung«. Dessen PrüferInnen mussten die Gesamtnote 2,8 an eine Einrichtung vergeben, obwohl deren Pflege mangelhaft war. Im Saarland bekam ein Heim die Note 3,1, obwohl Kassen und Heimaufsicht dessen Schließung notwendig finden. Wie ist das möglich?

Was zählt, ist der Mittelwert – nicht der Einzelne. Wenn bei 5 von 11 begutachteten Pflegebedürftigen Druckgeschwüre verhindert wurden, erhält das Heim dafür das Urteil »ausreichend«. Dass sechs BewohnerInnen solche Geschwüre haben, erfahren wir nicht. Oder: Für den Bereich »Pflege und medizinische Versorgung« erhält ein Heim die Note »gut«. Dabei erfahren wir nicht, dass die meisten der Pflegebedürftigen zu schaden kommen. Denn der Durchschnittswert dieser Mängel kann mit anderen Mittelwerten, etwa für die Dokumentation, ausgeglichen werden. Rund 1.000 Heime wurden bis Dezember 2009 bewertet. Über die Hälfte schneiden mit »gut« oder »sehr gut« ab, nur 12 sollen »mangelhaft« sein.




DÖRTE ANDERSON, Gesundheitsökonomin an der Universität Bayreuth

Ökonomisierte Altenpflege

  • Die chronische Personalknappheit in Heimen führt zu negativen Folgen für Pflegebedürftige und Beschäftigte

aus: BIOSKOP Nr. 48, Dezember 2009, Seiten 8+9

Die Lebenserwartung steigt, und auch die Zahl der Menschen, die Pflege benötigen, nimmt zu. Angesichts der demografischen Entwicklung streiten Fachleute vor allem über die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme. Derweil schreitet die Ökonomisierung des Pflegealltags voran. Offensichtlich ist: Gute Ausbildung und moralisch einwandfreies Wollen der Pflegenden führen nicht automatisch zu einer guten Pflege.

Die Pflegeversicherung, zuletzt 2008 reformiert, verfolgt erklärtermaßen zwei Ziele: Sie soll individuelle Risiken der Pflegebedürftigkeit besser absichern. Und sie sollte auf Dauer unbezahlbare Strukturen im Altenpflegesektor aufbrechen und so den rasanten Anstieg der Pflegesätze in stationären Einrichtungen stoppen. Auf den so in Gang gesetzten Wettbewerb reagierten die Einrichtungen vorwiegend mit Einsparungen beim größten Kostenblock: den Personalkosten. Viele Heime bauten Pflegekräfte ab, noch bevor sie alle übrigen Rationalisierungspotentiale ausgeschöpft hatten. Ziel war es, mit einem konkurrenzfähigen Heimentgelt am Markt auftreten zu können.

Mit zunehmender Professionalisierung der Pflege tritt die Reflexion der Pflegetätigkeit in den Vordergrund. Es wird klar, dass erlernte Theorie und moralischer Anspruch einerseits und die tägliche Praxis mit den institutionell vorgegebenen Bedingungen andererseits ohne Verschulden der Pflegenden stark auseinander fallen.

Schon 2003 stellte das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung (dip) in einer Studie fest, dass 20.000 ausgebildete Fachkräfte in Pflegeheimen fehlen und 5.000 Vollzeitstellen nötig wären, um die damals 9 Millionen Überstunden abzubauen. Die Situation hat sich laut dip seither nicht verbessert. Eine Studie des Bundesfamilienministeriums besagt, dass das Betreuungsverhältnis heute zwischen 3,22 und 5,33 Bewohnern je Vollkraft liegt – und somit deutlich über den 2,4 Bewohnern, die als angemessen gelten.

  • Auffälliger Krankenstand

Welche negativen Folgen sich aus einer derart angespannten Personalsituation ergeben, zeigt eine Veröffentlichung der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienste und Wohlfahrtspflege. Der Krankenstand der Altenpfleger liegt um 20 % höher als beim Durchschnitt der Bevölkerung; Arbeitsunfähigkeiten aufgrund von psychischen Erkrankungen und Burnout liegen sogar um 62 % über dem Bevölkerungsmittel. Unter diesen Voraussetzungen werden in der pflegerischen Versorgung Notlösungen zu Dauerzuständen.

Wie aber gehen Pflegekräfte persönlich damit um, wenn Erwartungen an das Verhalten gestellt werden, die den eigenen Einstellungen zuwider laufen? Was passiert, wenn sie als letztes Glied in der Kette aufgrund ihrer persönlich empfundenen ethischen Verantwortung zur Kompensation gesundheitspolitischer Defizite missbraucht werden? Derartige Situationen wiederholen sich häufig, und sie verursachen psychische Spannungen und Stress. Eine intensive Pflege und Beschäftigung mit dem einzelnen Bewohner ist kaum im Arbeitsablauf vorgesehen. Negative Folgen können Gereiztheit, Ungeduld, Schlaf- und psychosomatische Störungen, unterschwellige Aggressionen sowie ein Sensibilitätsverlust sein. Die Pflegenden fühlen sich um den attraktiven und befriedigenden Teil ihres Berufs betrogen.

  • Gefährliche Strategie

Eine Bewältigungsstrategie, um die täglichen Konfliktsituationen aushalten zu können und nicht, wie beim Burnout, unterzugehen, ist das so genannte »Coolout«, was einen Verlust an Sensibilität gegenüber den zu Pflegenden meint. Gefährlich an der Coolout-Strategie ist, dass diejenigen Pflegenden, denen egal geworden ist, was ihnen im Pflegealltag widerfährt, gar nicht auffallen. Und auch für die Heimbewohner hat diese Strategie gravierende Folgen, zum Beispiel vorzeitige Unmündigkeit und mangelhafte pflegerische Versorgung.

Schwerpunkte der Pflege sollten die Anleitung und Hilfestellung bei Tätigkeiten sein, die von den Pflegebedürftigen weitestgehend selbst ausgeführt werden können, um möglichst lange selbständig zu bleiben. In der Praxis passiert vielfach das Gegenteil: So erfahren zum Beispiel laut verschiedenen Schätzungen in deutschen Pflegeheimen zeitweise bis zu 30 % der Bewohner freiheitsentziehende bzw. freiheitseinschränkende Maßnahmen. Verletzungen aufgrund nicht fachgerecht angebrachter Fixierungen werden dabei oft in Kauf genommen. Als Rechtfertigungsgründe werden Hin- und Weglauftendenzen oder forderndes und aggressives Verhalten angeführt.

  • Fixieren und Ruhigstellen

Solches Vorgehen wird oft als Versagen auf pflegerischer Seite verstanden. Aber das Betreuungsverhältnis lässt kaum Zeit, möglicherweise leicht zu behebende Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten herauszufinden und so Fixierungen jeglicher Art überflüssig zu machen. Dass Fixierungen positiv wirken, konnte bisher keine Studie nachweisen.

Das Verabreichen von Sedativa (Medikamente zur Ruhigstellung) ist eine weitere Methode, den Bewegungsdrang verhaltensauffälliger Bewohner einzuschränken. Verschiedene Studienergebnisse lassen vermuten, dass in einigen Einrichtungen unter anderem bei demenzbedingter Dämmerungsunruhe starke Schlaf- oder Beruhigungsmittel auch ohne ärztliche Verordnung verabreicht werden, um Personal während der Nachtwachen zu sparen. Eine denkbare Alternative wäre spätabendliche Betreuung, etwa in Nachtcafés. Diverse Einrichtungen, die so die Gabe von Sedativa deutlich reduziert haben, berichten von einem Rückgang des Arzneiüberhangs und dass Heimbewohner weniger stürzen.

  • Zeitknappheit und mangelhafte Qualifikation

Das sich mit steigendem Alter ändernde Ernährungsverhalten sowie das schwächer werdende Hunger- und Durstempfinden bergen die Gefahr der Unterernährung. Eine große Rolle spielen dabei körperliche, psychische, aber auch soziale Ursachen. Folgen einer Mangelernährung sind zum Beispiel: allgemeine Schwäche, Infektanfälligkeit, steigendes Dekubitusrisiko, Verstopfung, Verwirrtheit und so eine ansteigende Hospitalisierungsrate.

Meist genügt es, beim Essen oder Füttern genügend Zeit und Aufmerksamkeit zu geben und Zeitpunkte, Anzahl, Darreichungsform und Ort der Mahlzeiten an die individuellen Bedürfnisse anzupassen. Eine differenzierte Ursachenforschung gestaltet sich aber in vielen Fällen wegen Zeitknappheit und mangelhafter Qualifikation der Pflegekräfte als schwierig bis unmöglich. Häufige Folge ist die Ernährung über eine Magen- oder PEG-Sonde, wobei der Medizinische Dienst der Krankenversicherung feststellte, »dass ein Fünftel der PEG-Sonden nicht (mehr) notwendig waren«. Wenn eine Magensonde aber erst einmal gelegt ist, verschwinden auch die sinnlichen Reize (Geruch, Geschmack, Genuss), die durch Nahrungsaufnahme durch den Mund vermittelt werden.

  • Strukturelle und personelle Gewalt

Gewalt kann ebenfalls eine Folge der Ökonomisierung sein. Einerseits spricht man von struktureller Gewalt, etwa wegen inhumaner Arbeitsbedingungen, unzureichendem Personalschlüssel oder mangelnder Qualifikation der Mitarbeiter. Andererseits gibt es personelle Gewalt. Gemeint sind körperliche, verbale oder psychische Übergriffe auf Pflegebedürftige sowie das Nicht-Ernst-Nehmen von Beschwerden oder das Vorenthalten von Kleidung, Nahrung oder Medikamenten.

Die Gründe für Übergriffe auf alte Menschen sind vor allem in den institutionellen Rahmenbedingungen zu suchen. Die Pflegenden können die Betreuung und Versorgung der alten Menschen vielfach nicht so ausführen, wie es der eigene moralische Anspruch von ihnen verlangt. Die Folgen sind Frustration und Aggression, die sich – in Ermangelung passender Bewältigungsstrategien – auch gegen Bewohner richten können. Die einzelne Pflegekraft hat sicher eine Mitverantwortung. Aber: Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass solche Übergriffe in Einrichtungen mit teilweise schwierigsten Arbeitbedingungen passieren, die vom Heimbetreiber forciert oder zumindest geduldet werden.

  • Beispielhafte Projekte

In Deutschland geht es heute in der Mehrheit der Einrichtungen nicht um den Anspruch, perfekt zu pflegen, sondern vor allem darum, der Menschenwürde der Pflegenden und Pflegebedürftigen wieder gerecht zu werden und damit auch moralisch akzeptabel zu arbeiten.

Dabei gibt es durchaus auch Häuser, die gut pflegen, ohne dass ihre Mitarbeiter nach kürzester Zeit so ausgebrannt sind, dass sie ihren Beruf aufgeben. Beispielhaft sind zudem Projekte wie »Besondere stationäre Dementenbetreuung in Hamburg«, das untersuchte, wie sich der Pflegealltag auf die erkrankten Menschen und auf die Pflegenden auswirkte; das Projekt »Redufix« das die Reduzierung von Fixierungen in der Altenpflege anstrebt sowie das Projekt »Vom Referenzmodell zum Referenzkonzept«, womit die Unterstützung vollstationärer Pflegeeinrichtungen bei der Qualitätsentwicklung in der Pflege und der Weiterentwicklung qualitätsgesicherter Versorgungsformen verfolgt wurde.

© Dörte Anderson, 2009
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