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Anspruch auf Informationen

Die AOK in Niedersachsen ziert sich, ihren Vertrag mit der Managementgesellschaft I3G über die Integrierte Versorgung (IV) von Schizophrenie-PatientInnen zu veröffentlichen. Fraglich ist, ob sie ihre Geheimniskrämerei wird fortsetzen können, wenn ein Mitglied der AOK mal zielstrebig nachfragt. Die Grundlage hat der Gesetzgeber gelegt, § 140b Abs. 3 des Sozialgesetzbuches V garantiert: »Die Versicherten haben das Recht, von der Krankenkasse umfassend über die Verträge zur integrierten Versorgung, die teilnehmenden Leistungserbringer, besondere Leistungen und vereinbarte Qualitätsstandards informiert zu werden.«

Dieser »allgemeine Informationsanspruch« diene der Förderung der Akzeptanz von IV, aber auch der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Versicherten, schreibt der schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte Thilo Weichert. Die Informationspflicht der Krankenkassen erschöpft sich laut Weichert nicht im Verbreiten von Hinweisblättern, Infobroschüren und Internetseiten. Auf Nachfrage müssen sie Versicherte auch persönlich beraten und ihnen direkt Auskunft geben. Zudem habe die an der IV beteiligten Kassenmitglieder grundsätzlich auch Anspruch auf Akteneinsicht.

Ausführliche und verständliche Informationen zum Datenschutz bei IV hält Weicherts Behörde im Internet bereit.

Klaus-Peter Görlitzer (September 2011)



ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin

Vernetzt mit Pharmafirmen

  • PatientInnen und Krankenkassen sollen von der »Integrierten Versorgung« profitieren – ein AOK-Projekt wirft Fragen auf

aus: BIOSKOP Nr. 55, September 2011, Seiten 8+9

Eine Zauberformel im Gesundheitswesen heißt »Integrierte Versorgung«. Sie soll die ambulante Betreuung stärken, Klinikeinweisungen vermeiden und PatientInnen besser durch den Dschungel der Leistungserbringer führen. Seit 2011 dürfen hier auch Pharmafirmen dabei sein.

Wenn von Privatisierung im Gesundheitswesen die Rede ist, denken viele vor allem an große Unternehmen wie die Rhön-Klinikum AG, Asklepios GmbH oder die Sana-Kliniken, die kommunale oder gemeinnützige Krankenhäuser aufkaufen (wollen). Doch auch Pharmakonzerne und Medizinproduktehersteller werden bald im ambulanten Sektor mitmischen. Denn das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG), gültig seit Januar 2011, hat ihnen ein neues Geschäftsfeld eröffnet: Der reformierte Paragraph 140b SGB V erlaubt ihnen, Vertragspartner der Krankenkassen im Rahmen der Integrierten Versorgung (IV) zu werden.

  • Große Versprechen

IV meint: Haus- und Fachärzte, ambulante Pflege, Kliniken, Rehabilitation, Apotheker, medizinische Versorgungszentren und andere Therapeuten kooperieren. Erklärtes Ziel ist es, Klinikaufenthalte zu vermeiden und die ambulante Betreuung der Kranken zu verbessern. Die berechtigte Kritik an einer unzureichenden ambulanten Regelversorgung wurde und wird seit Jahren als Hauptargument angeführt, um diese besondere Betreuungsstruktur zu bewerben. Das allerdings reichte nicht aus, um die Versorgungsnetze nach der Gesundheitsreform Horst Seehofers im Jahr 2000 den verschiedenen Leistungsanbietern von schmackhaft zu machen.

Mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz 2004 änderte sich das. Wie in anderen Bereichen des Gesundheitswesens geht es auch hier um die Verteilung von Geld und Entscheidungsbefugnissen. Krankenkassen können seither Einzelverträge mit Netzanbietern abschließen, und zwar ohne Vorgaben ihrer Spitzenverbände und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Ärztliche Honorare sind im Rahmen der IV nicht mehr budgetiert und können frei ausgehandelt werden. Und: Bis Ende 2008 wurde eine Anschubfinanzierung für die IV gewährt. Ein Prozent der Gesamtvergütung der KBV und der Rechnungen von Krankenkassen floss in diese Versorgungsnetze. Es profitierte, wer viele Verträge abgeschlossen hatte – wer keine hatte, musste mit einem 1-prozentigen Abzug von der Vergütung für die geleistete Regelversorgung rechnen. Bis 2008 wurden rund 4.600 Verträge mit den Kassen abgeschlossen. Ohne Anschubfinanzierung aber geriet diese Dynamik wieder ins Stocken. Für Abhilfe könnten oder sollen nun wohl private Investoren sorgen.

  • Integrierte Intransparenz

Die niedersächsische AOK macht es vor, ihr Ziel: eine flächendeckende IV für ihre Versicherten mit der Diagnose Schizophrenie. Ein Vertrag, geschlossen mit der Managementgesellschaft I3G GmbH, soll das ermöglichen. Der Inhalt liegt auch dem Landessozialministerium vor – aber die Öffentlichkeit ist außen vor. I3G ist eine hundertprozentige Tochter des Pharmaunternehmens Janssen-Cilag, das Neuroleptika wie Invega, Risperdal und Risperdal Consta vertreibt und wiederum zum Global Player Johnson & Johnson gehört, der 2009 weltweit 61,9 Milliarden US-Dollar umsetzte.

I3G hat ein Subunternehmen namens Care4S GmbH mit speziellen Dienstleistungen beauftragt. Care4S soll Ärzte zur Teilnahme am IV Schizophrenie bewegen; zudem organisiert die Firma vernetzte Expertenteams inklusive internetbasierter Plattformen, und sie sorgt auch für die Abrechnung. Geschäftsführer ist der Psychiater Matthias Walle, der vor Jahren Erfahrungen mit einem kleineren Pilotprojekt sammelte. Seine Firma gehört der Züricher Investmentgesellschaft Turgot Ventures, und die hat noch in eine weitere Managementgesellschaft mit Matthias Walle Geld gesteckt: IVPNetworks GmbH, ebenfalls spezialisiert auf ambulante Versorgungsnetze, für psychiatrische und neurologische Patienten. Investiert hat Turgot Ventures auch in die Novego AG. Deren Produkt ist ein webbasiertes Selbsthilfeprogramm für Menschen mit Depressionen oder Burnout. Wer in der Regelversorgung warten muss, kann hier schon mal einen kostenlosen »Selbsttest« machen oder für rund 230 Euro ein Hilfeprogramm erwerben – mit Geld-zurück-Garantie.

In der niedersächsischen AOK sind rund 13.000 Menschen mit Diagnose Schizophrenie versichert. Pro Patient erhält die AOK nach eigenen Angaben 4.000 Euro aus dem Gesundheitsfonds, sie kann also im Jahr 52 Millionen Euro für die Versorgung dieser Versichertengruppe kostendeckend ausgeben. Falls Mehrkosten auftreten, trägt IV-Partner I3G das Risiko. Wird Geld gespart, beispielsweise über weniger stationäre Krankenhausaufenthalte, teilen sich die Kasse und die I3G den Überschuss.
Außerdem bekommt die AOK pro IV-Schizophrenie-Patient 5.364,60 Euro als Vergütungszuschlag aus dem so genannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA), der solchen Krankenkassen zusteht, die unter anderem überdurchschnittlich viele Mitglieder mit 80 festgelegten, kostspieligen Krankheiten versichern. Voraussetzung ist allerdings, dass bestimmte Mindestmengen von Medikamenten verordnet werden.

  • Kritik und Befürchtungen

Im niedersächsischen Modell müssten die teilnehmenden Ärzte die Medikation so einstellen, dass die Patienten ein halbes Jahr den Tagesmittelwert beispielsweise von Neuroleptika verschreiben, meint Volkmar Aderhold, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Aderhold, der an der Universität Greifswald arbeitet, kritisiert diese Praxis: Bei guter psychotherapeutischer Behandlung würden 40 % der Patienten ohne die nebenwirkungsreichen Medikamente auskommen, und wo das nicht der Fall ist, sollte eine möglichst niedrige Tagesdosis angestrebt werden.

Die beteiligten Pharmaunternehmen, so die allgemeine Befürchtung, könnten im Versorgungsnetz ihre Produkte bewerben und erfolgreich verkaufen. Eine Evaluierung des Programms soll das verhindern, sagt die AOK in Niedersachsen. Sollte sich Ende diesen Jahres aber herausstellen, dass bestimmte Medikamente bevorzugt verschrieben werden, müsse man gegensteuern.

  • Neue Geschäftsfelder

Pharmaunternehmen haben nicht nur das kurzfristige Interesse, mehr Arzneimittel zu verkaufen. Sie möchten Rundum-Dienstleister werden und in einem zunehmend privatisierten Gesundheitswesen ganze Anwendungs- und Versorgungsbereiche besetzen. Das könnte perspektivisch gelingen, sollte das Pilotprojekt in Niedersachsen als Erfolg gewertet werden.

Unabhängige Beobachtungen werden sich wohl verflüchtigen, wenn sich das erklärte Ziel des Bundesgesundheitsministeriums zukünftig durchsetzen sollte. Die IV mit Beteiligung von Pharmaunternehmen und Managementfirmen soll zur Regel werden – auch um Kosten zu sparen. Das Krankheitsbild Depression könnte beispielsweise den Pharmakonzern Pfizer interessieren, die Firma Lilly hat schon Interesse an anderen psychiatrischen Störungen signalisiert. Das ist keine reine Spekulation. Denn schon heute beeinflussen Firmen die universitäre Ausbildung, Forschung, Weiterbildung und die Entwicklung wissenschaftlicher Leitlinien.

  • Informierte Entscheidung?

Auch die Kranken sollen profitieren – durch weniger Klinikaufenthalte, weniger Doppeluntersuchungen und ermäßigte Praxisgebühren. Ob sie teilnehmen oder nicht, sollen sie freiwillig und aufgeklärt entscheiden. Der offizielle Anspruch ist schwierig umsetzen. Viele Schizophreniepatienten dürften praktisch nicht einwilligungsfähig sein. Zudem liegt weder ihnen, noch ihren gesetzlichen Vertretern die wesentliche Informationsgrundlage vor, da I3G und die aus Versichertenbeiträgen finanzierte AOK sich bislang weigern, Einsicht in ihren Kooperationsvertrag zu gewähren. Daten über solche Versorgungsstrukturen gibt es bei der Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung – auch diese sind nicht öffentlich.

Fest steht: Die Daten und Befunde können innerhalb des Netzwerkes ausgetauscht und zentral gespeichert werden. I3G-Geschäftsführer Walle beteuerte in der Ärztezeitung, dass sein Unternehmen »nur aggregierte Daten« erhalte, die »keinen Rückschluss auf Patienten, Verordnungen oder einzelne Ärzte zulassen«. Diese Beteuerung allein reicht der niedersächsischen Ärztekammer nicht, ihr Justiziar Karsten Scholz fordert wie andere Skeptiker auch, den IV-Vortrag offenzulegen. Scholz verweist darauf, dass gemäß AMNOG »Patientendaten potenziell an die Industrie gehen« könnten – zum Beispiel wenn Pharmaunternehmen im Rahmen der IV die Abrechnung übernehmen.

Setzt sich das IV-Konzept durch, wird eine ambulante Behandlung außerhalb der Versorgungsnetze zunehmend schwieriger werden. Freie Arztwahl, eine zweite Expertenmeinung, eine selbst ausgesuchte Reha-Klinik, all das dürfte es in Netzwerken aus Pharmainteressen, kostenbewussten Krankenkassen und Leistungserbringern mit Gewinnerwartungen perspektivisch nicht geben.

© Erika Feyerabend, 2011
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