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»Risikoselektion«

(September 2013) Das Bundesversicherungsamt (BVA) mit Sitz in Bonn führt die Rechtsaufsicht über die gesetzlichen Krankenkassen. Schwarze Schafe, die dem BVA Arbeit machen, fallen immer mal wieder auf. Einen Eindruck vermittelt der neue Tätigkeitsbericht für 2012. Unter der Überschrift »Risikoselektion bei der Anwerbung von Versicherten« beschreibt und rügt das BVA ab Seite 18 schier unglaubliche Praktiken: »Eine Reihe von Krankenkassen hat mit ihrem Vertrieb sog. ‘Zielgruppenvereinbarungen’ mit dem Ziel abgeschlossen, vorrangig einkommensstarke und gesunde Versicherte zu akquirieren. Oft zahlen die Krankenkassen ihrem Vertrieb keine Prämien für das Werben von einkommensschwachen oder kranken Versicherten oder verlangen Prämien zurück, wenn die Neumitglieder höhere Krankheitskosten verursachen als erwartet. Hierdurch verstoßen die Krankenkassen gegen das Diskriminierungsverbot und das in der gesetzlichen Krankenversicherung zu beachtende Solidaritätsprinzip.«

Ebenfalls »rechtswidrig« ist gemäß Klarstellung des BVA eine weitere Variante von »Risikoselektion«, die die Behörde veranlasst hat, »aufsichtsrechtliche Maßnahmen« gegen eine Krankenkasse zu ergreifen. MitarbeiterInnen dieser Kasse hatten laut BVA »in unzulässiger Art und Weise telefonisch Einfluss auf Versicherte (insbesondere behinderte und chronisch kranke Menschen) genommen, um diese zur Kündigung ihrer Mitgliedschaft zu bewegen«. Das BVA geht davon aus, dass dieses dreiste Vorgehen ein »Einzelfall« ist.



TOBIAS MICHEL, Betriebsrat im Alfried-Krupp-Krankenhaus in Essen

Risiken ermitteln, Köpfe jagen, Kasse machen

  • Die Krankenkassen kümmern sich weniger um die Kranken und mehr um gute Geschäftsergebnisse

aus: BIOSKOP Nr. 50, Juni 2010, Seite 4

Lag in Ihrem Briefkasten ein bunter Prospekt Ihrer Krankenkasse für Wellnessurlaub in Bad Kissingen oder an der Nordsee? Lädt die Barmer oder BKK Sie da unaufgefordert ein zu ein paar »Vitaltagen« mit Nordic Walking und Autogenem Training? Dann hat deren Marketing-Abteilung hinter Ihren Namen vielleicht vermerkt: »2+« (halten). Denn Sie sind ein gutes Risiko für Ihre Kasse.

Haben Sie Mühe, bei Ihrer Krankenkasse eine klare Auskunft zu bekommen? Hören Sie statt dessen bei Anrufen mehr Musik in den Warteschleifen, als Sie ertragen mögen? Vielleicht steht hinter Ihrem Namen eine verhängnisvolle »4-«. Ihre Sachbearbeiterin erkennt dann mit einem Blick: Ihre Beiträge und auch die Ausgleichszahlungen für Ihre Diagnosen decken nicht mehr alle Ausgaben für die Behandlung Ihrer Krankheiten ab. Ihre Kasse möchte Sie nur zu gerne zur Konkurrenz wechseln lassen.

Die Krankenkassen kümmern sich weniger um die Kranken und mehr um gute Geschäftsergebnisse. Die AOK macht als »Gesundheitskasse« Reklame und bewirbt Zusatzversicherungen. Die Versicherten sollen die Lücken beim Schutz selbst schließen – für den Zahnersatz, für das Zweibett-Zimmer in der Klinik oder für eine Vorzugsbehandlung vom Chefarzt.

Am Gesundheitsmarkt verkamen die Krankenkassen zu Wirtschaftsunternehmen. Und manche Kranke werden als schlechte KundInnen abgestempelt.

Die Gesundheitsreformen zeitigen Wirkung. Am Gesundheitsmarkt verkamen die Krankenkassen zu Wirtschaftsunternehmen. Und manche Kranke werden als schlechte KundInnen abgestempelt. Schuld daran ist noch nicht der neue Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP). Es war seine Vorgängerin Ulla Schmidt (SPD), die über Jahre hinweg in den rot-grünen und schwarz-roten Koalitionen die Weichen so falsch gestellt hat. Heute hat jede Behandlung und jeder Versicherte einen Festpreis. Heute haben viele Angst, dass im Ernstfall ihre Versicherung ihnen Notwendiges verweigert.

Viele Kliniken klagen zu Recht. In ihren Verhandlungen mit den Krankenkassen geht es fast nur noch um eines: Ergebnisse. Aber PatientInnen wollen nicht nur schnelle Ergebnisse und wieder entlassen werden. Kranke Menschen wollen, dass Pflegepersonal und ÄrztInnen sich kümmern können. Schmerzen sollen gelindert werden, Ängste besprochen werden.

Diejenigen, die in den Sozialwahlen unsere Stimmen bekamen, bleiben stumm.

Die Krankenkassen haben längst nicht mehr die Interessen der PatientInnen und Versicherten im Blick. In ihren bunten Internetauftritten suchen wir vergeblich nach Rechenschaft aus den Verwaltungsräten. Diejenigen, die in den Sozialwahlen unsere Stimmen bekamen, bleiben stumm.

Von der Bundesregierung ist nichts Gutes zu erwarten. Sie hat sich auf die Fahnen geschrieben, dass wir unsere Beiträge zur Krankenkasse unabhängig von der Höhe unseres Einkommens zahlen. »Keine Prämienzahlung pro Kopf« – beruhigen Minister Rösler (FDP) und seine KoalitionsfreundInnen aus CDU und CSU. Dann schränken sie schon ein – sie wollen zumindest kein »reines Prämienmodell« wie bei den Privatkassen.

Doch wichtig ist ihnen, die Rechnungen für die Behandlung unserer Krankheiten schrittweise von den »Arbeitskosten« abzukoppeln. Sie haben den Arbeitgebern versprochen, für sie die indirekten Löhne zu senken. Dazu wollen sie den »Arbeitgeberbeitrag« zur Krankenversicherung der Beschäftigten begrenzen.

Mit weniger Geld wird die Versorgung in den Praxen und Kliniken nicht besser werden. Rösler & Co. lassen derzeit durchrechnen, ob ein beherzter Griff in die Taschen der SteuerzahlerInnen 20 bis 30 Milliarden Euro herbei zaubert. Das wird wohl ernüchternd. Dann aber könnten sie ernst machen. Sie werden die bereits zur Grundversicherung beschnittene Krankenversorgung zu einer Rumpfversicherung zu verstümmeln suchen.

Dabei wäre eine Kasse für alle und alles so viel billiger und vernünftiger!

© Tobias Michel, 2010
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