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DRG und die Folgen

»Die Auswirkungen von DRG und fallpauschaliertem Medizin- und Qualitätsmanagement auf das Handeln in Krankenhäusern« lautet der Titel der sozialwissenschaftlichen Untersuchung und sozialethischen Bewertung, die Arne Manzeschke unter Mitarbeit von Thomas Pelz abgeschlossen hat.

Im Rahmen des Forschungsprojekts, das von Oktober 2004 bis Februar 2007 lief, führten die Bayreuther Wissenschaftler einstündige Leitfadeninterviews mit 80 Personen aus sieben Krankenhäusern: ÄrztInnen, Pflegekräfte, Beschäftigte aus Verwaltung, Sozialdienst und Seelsorge. Die Interviewpartner wurden gefragt, wie sie Auswirkungen von DRG auf ihre Arbeit wahrnehmen, einschätzen und damit umgehen.

Eine Zusammenfassung der Projektergebnisse und der Fragebogen sind ONLINE.

Unterstützt wurde die Studie, die am Bayreuther Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften (Lehrstuhl Prof. Eckhard Nagel) stattfand, von zwei Stiftungen und den Diakonischen Diensten Hannover.




Im BIOSKOP-Interview: ARNE MANZESCHKE, Leiter der Arbeitsstelle Theologische Ethik und Anthropologie an der Universität Bayreuth

»Industrialisierung des Krankenhauses«

  • Wie das Abrechnen nach Fallpauschalen den Klinikalltag verändert hat

aus: BIOSKOP Nr. 43, September 2008, Seiten 4+5

Deutschlands Krankenhäuser müssen nach dem Fallpauschalensystem abrechnen. Wie sich die politisch verordnete DRG-Reform im Alltag auswirkt, hat Arne Manzeschke erforscht, der an der Universität Bayreuth die Arbeitsstelle für Theologische Ethik und Anthropologie leitet. Seine Ergebnisse erläutert Manzeschke im Gespräch mit Erika Feyerabend.

BIOSKOP: Was bedeutet eigentlich DRG?

ARNE MANZESCHKE: DRG heißt Diagnosis Related Groups und lässt sich mit an der Diagnose orientierte Fallpauschalen übersetzen. Seit 2004 dienen DRG als Patientenklassifikations- und Abrechnungssystem in den Kliniken hierzulande.

BIOSKOP: Welche Zwecke verfolgt die Reform?

ARNE MANZESCHKE: Einmal geht es darum, Patienten mit ähnlichem Krankheitsbild in einen gleichen, möglichst standardisierten Behandlungsverlauf einzuschleusen. Man kann hier von einer »Industrialisierung des Krankenhauses« sprechen. DRG als Abrechnungssystem funktionieren in umgekehrter Logik zu den früher geltenden Tagespauschalen. Damals wurde der Klinik pro Liegetag ein pauschaler Satz zugewiesen. So war der Anreiz hoch, die Kranken länger zu behalten. Nun werden Patienten mit einer Hauptdiagnose aufgenommen, die durch Nebendiagnosen wie Bluthochdruck, Diabetes oder Übergewicht etwas differenziert werden kann. Aber im Grundsatz gilt: eine Diagnose, eine Behandlungsform, eine Verweildauer, ein Entgelt. Die Kliniken haben jetzt also einen großen Anreiz, die Patienten möglichst frühzeitig, aber nicht zu früh zu entlassen. Dann erhalten sie den vollen Erlös, das Bett ist schnell für eine Neuaufnahme wieder frei und dadurch entstehen keine Leerzeiten im Versorgungsbetrieb – praktisch eine »Ökonomisierung des Krankenhauses«. Damit Patienten nicht zu früh entlassen werden, gibt es eine untere Verweildauergrenze, die nur in begründeten Ausnahmefällen unterschritten werden darf.

BIOSKOP: Welche Rolle spielen DRG bei der Umstrukturierung des Gesundheitswesens?

ARNE MANZESCHKE: Den Wechsel auf das DRG-System darf man nicht ohne die aktuell stattfindende Privatisierung des Kliniksektors betrachten. Immer mehr kommunale Krankenhäuser werden geschlossen oder an private Träger verkauft. Sie müssen Gewinne erwirtschaften – und zwar in einer Höhe, die ihre Kapitalgeber, häufig Aktionäre oder Private-Equity-Investoren, befriedigt. Mit den hohen Renditeerwartungen wird Geld zunehmend nicht mehr Mittel zum Zweck der Versorgung von Kranken, sondern Kranke werde ein Mittel zur Erzielung von Erlösen.

»Patienten mit mehreren Erkrankungen werden mehrfach ins Krankenhaus bestellt, um eine Diagnose nach der anderen zu behandeln – und jeweils abrechnen zu können.«

BIOSKOP: Wie ergeht es den Beschäftigten im DRG-Zeitalter?

ARNE MANZESCHKE: Die Mitarbeitenden in der Pflege und der Medizin haben mit einer »moralischen Dissonanz« zu kämpfen. Sie wissen aus fachlicher Erfahrung, was bei einem Patienten zu tun wäre, sollen aber tun, was sich ökonomisch rechnet. Zum Beispiel: Patienten mit mehreren Erkrankungen werden mehrfach ins Krankenhaus bestellt, um eine Diagnose nach der anderen zu behandeln – und jeweils abrechnen zu können.

BIOSKOP: Wie sieht das praktisch aus?

ARNE MANZESCHKE: Ein Chirurg, befragt im Rahmen unserer Studie, beschrieb das so: »Wenn ich alle drei Befunde auf einmal operiere, dann kriege ich nur für einen Geld. Das kann dazu führen, dass man sagt: Weißte, ich mache erst einmal die Galle, in fünf Wochen kommst du wieder mit den Leisten. Da ist doch der Patient das Objekt, mit dem Profit gemacht wird. Und früher habe ich alle drei operiert, statt drei Tage wären es zehn Tage gewesen, aber ich habe für meinetwegen jeden Tag früher 500 Euro bekommen, und dann hat sich das erledigt.(…) Aber ich glaube, wir müssen uns anpassen an die DRG. Ich muss es beichten: Heute macht man das.«
Umgekehrt kann es auch dazu kommen, dass Leistungen erbracht werden, die zwar im Rahmen der jeweiligen DRG möglich, aber im konkreten Fall gar nicht indiziert sind. So ergibt sich eine Dynamik: Es wird alles dokumentiert, was an Leistungen erbracht wurde, damit es abgerechnet werden kann. Entsprechend steigt der Dokumentationsaufwand. Umgekehrt wird auch geleistet, was dokumentiert werden kann, weil es eben abrechenbar ist. Das ist in der Anreizlogik begründet, also ein strukturelles Problem.

BIOSKOP: Welche Erfahrungen machen andere Berufsgruppen?

ARNE MANZESCHKE: Der Tag im Krankenhaus ist derart optimiert, dass es kaum noch freie Zeiten gibt für Gespräche. Aber wie viel Effizienz verträgt der Mensch, besonders, wenn er bedrohlich krank ist? Hier sind nach meiner Beobachtung manchmal eher Entschleunigung und Besinnung nötig. Ein Klinikseelsorger berichtete mir von seinem Erfahrungsaustausch mit einer Krankenschwester, deren Patient nach intensiver Begleitung gestorben war. Als schwierig empfindet er, dass die von der Krankenschwester investierte Zeit in die Sterbebegleitung und deren Verarbeitung einfach als unproduktive Zeit gewertet wird, die anschließend wieder reinzuarbeiten ist. In der DRG-Logik zählt, was Geld einspielt. Und nun erwägt auch der Pflegebereich, DRG einzuführen. Das ist in der Systemlogik nachvollziehbar, aber problematisch. Denn eine stark am Einzelnen orientierte Pflege soll über standardisierende Prozeduren abgebildet und bewertet werden.

»Der Effekt der Rhetorik: Wir beruhigen uns mit Worten wie Qualität oder Wirtschaftlichkeit und brauchen nicht mehr genauer hinzuschauen, was tatsächlich passiert.«

BIOSKOP: Wie wirkt die begleitende Rhetorik?

ARNE MANZESCHKE: »Transparenz«, »Wirtschaftlichkeit«, »Qualität« – mit diesen Begriffen ist das DRG-System beworben und eingeführt worden. Und wer will schon gegen solche Versprechen sein? Aber das sind »Plastikwörter«, wie der Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen sie genannt hat. Plastikwörter zeichnen sich durch einen hohen Abstraktionsgrad aus. Sie sind fast unbegrenzt einsetzbar, einprägsam und bringen riesige Erfahrungsfelder auf einen einzigen Nenner. Qualität in der Gesundheitsversorgung ist zum Beispiel ein so komplexes Feld, das durch einen solchen, positv besetzten Begriff kaum angemessen beschrieben werden kann. Aber alle werden sagen: Qualität ist ganz wichtig und muss angestrebt werden. Hierfür gibt es ein Managementsystem. Aber es dokumentiert lediglich, dass Maßnahmen zur Qualitätssicherung ergriffen werden. Was Qualität bei der Behandlung einer 95-jährigen mit Schlaganfall genau bedeutet, welche Elemente ihrer Biographie und wie Angehörige zu berücksichtigen sind, das alles wird von den medizinisch-ökonomischen Qualitätsparametern kaum erfasst. Der Effekt der Rhetorik: Wir beruhigen uns mit Worten wie Qualität oder Wirtschaftlichkeit und brauchen nicht mehr genauer hinzuschauen, was tatsächlich passiert.

BIOSKOP: Wer begutachtet die DRG-Effekte?

ARNE MANZESCHKE: Vorgeschrieben wurde vom Gesetzgeber eine Begleitforschung, die erst jetzt, vier Jahre nach dem Start, eingesetzt wird. Zuständig ist das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (INEK). Vieles lässt sich gar nicht mehr genau rekonstruieren. Die Frage, ob das DRG-System die vorgegebenen Ziele tatsächlich erreicht, lässt sich heute kaum mehr seriös beantworten. Ich vermute außerdem, dass sich die Forscher im Wesentlichen an betriebswirtschaftlichen Kennzahlen und medizinischen Parametern orientieren werden.

»Es liegt in der DRG-Systematik, unlukrative Patienten zu vermeiden. Solche Systeme sind anfälliger dafür, die ohnehin bestehenden und sozial bedingten Ungleichheiten in der Versorgung zu verstärken.«

BIOSKOP: Was heißt all das für die Patienten?

ARNE MANZESCHKE: Hat man den Patientenbegriff schon damit zu neutralisieren versucht, dass man den »autonomen Patienten« proklamiert, der mündig, informiert und selbst bestimmend auftritt, so wird in der nächsten Stufe der »Kunde« das vorherrschende Paradigma. Ein Gesundheitsmarkt braucht keine Kranken, sondern »Medizin-Konsumenten«, wie sie etwa Eugen Münch, dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Rhön-Kliniken AG, vorschweben. Es sind Konsumenten, die immer mehr haben wollen, die ein potenziell unendliches Begehren nach immer neuen Gütern, Trends und Moden haben. Die sogenannte Wunsch erfüllende Medizin zeigt uns an, in welche Richtung die Reise gehen könnte.

BIOSKOP: Welche Weichen stellen hier DRG?

ARNE MANZESCHKE: Es liegt in der DRG-Systematik, unlukrative Patienten zu vermeiden. Die sind chronisch krank und multimorbid. Ihr Krankheitsbild lässt vermuten, dass sie die vorgeschriebene Verweildauer deutlich überschreiten werden. Kliniken werden versuchen, diese Patienten weiterzureichen. Solche Systeme sind anfälliger dafür, die ohnehin bestehenden und sozial bedingten Ungleichheiten in der Versorgung zu verstärken. Arme sind kranker und können weniger gute Behandlungen einfordern. Wer es sich leisten kann, könnte zukünftig effizient und auf höchstem Niveau versorgt werden. Immer weniger Zeit bleibt für die existentielle Dimension von Kranksein. Es ist eben keine Krankheit, die im Krankenhaus bekämpft wird, sondern hier liegt immer ein Mensch, der nicht nur als Kranker angesprochen und wahrgenommen werden will. Diese andere Dimension wird immer weniger thematisierbar – oder erst dann wieder, wenn sie als Dienstleistung lukrativ ist. Ich habe keinen Zweifel daran, dass ein solchermaßen hocheffizientes, aber inhumanes Gesundheitssystem nicht erstrebenswert ist.

© Erika Feyerabend / Arne Manzeschke, 2008
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