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ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin

»Altersbezogene Rationierung«

  • Wie Bioethiker und Ökonomen die Verteilung von Gesundheitsleistungen reformiert sehen wollen

aus: BIOSKOP Nr. 23, September 2003, Seiten 3+4

Der »Krieg der Generationen« und »zu hohe Gesundheitslasten im Alter« sind zum alltäglichen Thema in den Medien avanciert. Doch nicht nur im populären Diskurs sind die Hochbetagten zur Zielscheibe für Rationierungsvorschläge geworden. Bioethiker und Ökonomen modellieren an Kriterien, um alten Menschen Therapien zu verweigern – regelhaft und mit »wissenschaftlicher« Begründung.

Im Zenit der Debatte um die so genannte »Gesundheitsreform« gewann der Vorsitzende der Jungen Union, der 24-jährige Jurastudent Philipp Mißfelder, an Bekanntheit – durch seinen Vorschlag, Hochbetagten keine Hüftgelenke mehr zuzugestehen. Einige Wochen vorher, Anfang Juni, hatten der Konstanzer Ökonom Friedrich Breyer und der Bochumer Theologe Joachim Wiemeyer vor laufender Fernsehkamera darüber räsoniert, Operationen bei über 75-Jährigen nicht mehr von der gesetzlichen Krankenversicherung zu bezahlen. Die öffentliche Empörung war groß. Zwar halten es viele inzwischen für unvermeidlich, medizinische Angebote zu begrenzen. Uneinigkeit herrscht jedoch über die Kriterien.

Im weit gefächerten Feld der bioethischen »Rationierungsdebatte« hat sich Professor Breyer eindeutig positioniert – und das schon seit Jahren. Gemeinsam mit dem Duisburger Bioethiker Hartmut Kliemt dachte er sich ein Forschungsprojekt aus: »Altersbezogene Rationierung von Gesundheitsleistungen im liberalen Rechtsstaat – ethische, ökonomische und institutionelle Aspekte«. Sehr willkommen war dieses Vorhaben der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), für die Breyer auch als Fachgutachter zur Wirtschafts- und Sozialpolitik tätig ist. Die DFG, die aus Steuergeldern finanziert wird, bezahlte das Rationierungsprojekt zwischen 1998 und 2000 – im Rahmen ihrer »Förderinitiative Bioethik«.

Versatzstücke der politisch gewünschten Kriterienschmiede tauchen heute, populär formuliert, in vielen Medien auf. Was die meisten ZeitungsleserInnen und FernsehzuschauerInnen nicht mitbekommen: Die Ergebnisse sind auch Teil einer wissenschaftlichen Sphäre, in der öffentlich alimentierte ForscherInnen seit Jahren über rechtfertigungsfähige Zuteilungsregeln und Ausschlussverfahren nachdenken, publizieren und auf Fachtagungen diskutieren.

Wer nicht den puren Markt will, sondern auch die kollektive Finanzierung der Krankenbehandlung, muss zwangsläufig rationieren.

Wesentlich inspiriert hat diese Rationierungsdebatte der US-amerikanische Bioethiker Daniel Callahan. Der schrieb vor rund zehn Jahren über »das Lebensalter als entscheidendes (negatives) Kriterium« und empfahl, die Pflichtversicherung solle ab dem 80. Lebensjahr nur noch Kosten für leidensmindernde Leistungen übernehmen, nicht aber für lebensverlängernde. Hinter diese Formel stellen sich Experten wie Breyer und Kliemt ganz und gar, und sie wollen weitere Überzeugungsarbeit liefern.

Breyers Problembeschreibung, die er mit seinem Mitarbeiter Carlo Schultheiss zu Papier gebracht hat, liest sich so: Wer nicht den puren Markt will, sondern auch die kollektive Finanzierung der Krankenbehandlung, muss zwangsläufig rationieren. Die Optionen: Entweder legt »die Gesellschaft« den Anteil der Ausgaben am Sozialprodukt fest und »überläßt es im wesentlichen den einzelnen Ärzten, die Zuteilung der Leistungen … vorzunehmen«. Oder »die Gesellschaft legt genaue und transparente Richtlinien fest«, wer welche medizinischen Leistungen beanspruchen kann.

Die Lösung: Abgesehen davon, dass »in einem freiheitlichen Rechtsstaat« jedermann weitere Gesundheitsleistungen hinzu kaufen kann, schafft das »Alter als Abgrenzungskriterium bei lebenserhaltenden Maßnahmen (…) Transparenz« – und sorgt damit für Rechtssicherheit. Das kalendarische Lebensalter hat die Vorteile, die Institutionen brauchen: Es ist objektiv, homogen und schon heute Teil etablierter »Rationierungsmuster«. Das erhöht die Chance, breite »Akzeptanz in der Öffentlichkeit« zu erreichen. Offene »Rationierung« dieser Machart schafft »Planungssicherheit« – über das was man erwarten, privat dazu kaufen und anbieten kann oder muss.

»Je älter der Mensch bereits ist, desto weniger zukünftiger Konsum liegt noch vor ihm, um so weniger kann er noch gewinnen, wenn er seine augenblickliche Überlebenschance steigert.«

Wer sich schon so weit auf die monetäre und utilitaristische Weltsicht dieser Wissenschaftler eingelassen hat, wird auch noch ihrer an Effizienz orientierten Begründung folgen können: Sie »beruht ganz wesentlich auf der Annahme, dass die Erwartungen auf zukünftigen Konsum die entscheidende Quelle für Lebensfreude sind. Je älter der Mensch bereits ist, desto weniger zukünftiger Konsum liegt noch vor ihm, um so weniger kann er noch gewinnen, wenn er seine augenblickliche Überlebenschance steigert.«

Es bleiben offene Fragen, die es plausibel erscheinen lassen, weitere »wissenschaftliche« Projekte in Angriff zu nehmen. Rein praktisch: Wie kann in Anbetracht des rasanten medizinischen Fortschritts der Leistungskatalog der Krankenkassen auf Jahrzehnte voraus bestimmt werden, um die Ausschlussverfahren für die Institutionen verlässlich und planbar zu machen? Rein empirisch: Wie viel läßt sich durch altersbezogene Rationierung genau sparen?

Auch beim Blick auf das Individuum im Alterskollektiv sehen Breyer und Schultheiss weiteren Forschungs- und Förderungsbedarf in eigener Sache: Was, so fragen sie, wenn das »rationale Individuum … gewissen Formen der direkten Lebensverkürzung im Alter gegenüber dem bloßen Absehen von bestimmten lebensverlängernden Maßnahmen den Vorzug geben würde?« Gibt es eine Kombinatorik verschiedener Rationierungskriterien? Verringert beispielsweise eine selbst verschuldete Erkrankung den Behandlungsanspruch?

Bioethik formt das öffentliche Rede-Klima. In dieser Hinsicht, das wissen ihre Protagonisten, »wäre es von Nutzen, zu erforschen, wie die einschlägigsten Kriterien (das Alter einbezogen) in der deutschen Öffentlichkeit beurteilt werden«. So können Breyer und Kollegen die von ihnen selbst provozierten Mediendebatten zum Forschungsgegenstand erheben – und dabei auf politische Unterstützung hoffen.

© Erika Feyerabend, 2003
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