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Zweigeteilter Blick

Anders als in Deutschland ging Eugenik in Israel nie mit staatlichem Zwang einher, und der Zionismus als egalitäre sozialistische Bewegung entwickelte keine Rassenhierarchie. Selbst israelische Behinderten-Organisationen sehen deshalb keine Verbindung zwischen vorgeburtlicher Selektion und den Verbrechen, die im Namen der Eugenik verübt wurden. Im Gegenteil: Laut einer Studie des Soziologen Aviad Raz begrüßen viele Initiativen Gentests sogar als Mittel der Prävention. Raz, der an der Universität des Negev in Beer-Sheva forscht, spricht von einem zweigeteilten Blick der israelischen Gesellschaft auf Behinderung: Vor der Geburt würden Abweichungen von der genetischen Norm bekämpft, nach der Geburt habe ein behinderter Mensch jedes Recht auf Anerkennung und Unterstützung.




MARTINA KELLER, Journalistin

Ehe verhüten

  • Die Organisation Dor Yeshorim prüft die genetische Veranlagung jüdischer HeiratskandidatInnen

aus: BIOSKOP Nr. 40, Dezember 2007, Seiten 6+7

Eine Schwangerschaft abzubrechen, ist in Israel leicht möglich und gesellschaftlich akzeptiert, wenn etwa bei einem Fötus Fehlbildungen entdeckt werden. In der orthodoxen jüdischen Welt allerdings sind Abtreibungen verboten. Hier hat man einen Weg gefunden, der einzigartig ist, um die Geburt behinderter oder kranker Kinder zu verhindern: Männer und Frauen, die Träger versteckter genetischer Krankheiten sind, sollen gar nicht erst ein Paar werden.

Wer die Rufnummer 001-718-384-6060 wählt, erreicht einen Anrufbeantworter in New York – den der Brooklyner Einrichtung Dor Yeshorim. Das heißt wörtlich »Generation der Gerechten«, frei übersetzt »Generation derer, die eine gute Entscheidung treffen«. Im Zentralcomputer von Dor Yeshorim sind genetische Daten von mehr als 200.000 orthodoxen Juden aus Israel, den USA und Europa gespeichert.

Die Organisation wurde Anfang der 1980-er Jahre von dem New Yorker Rabbiner Joseph Ekstein gegründet, der vier seiner zehn Kinder durch das Tay-Sachs-Syndrom verloren hatte. Diese angeborene Fettstoffwechselstörung tritt bei Juden osteuropäischer Herkunft gehäuft auf – eines von 2.500 Neugeborenen ist betroffen. Die Krankheit zeigt sich etwa ein halbes Jahr nach der Geburt und führt innerhalb der ersten Lebensjahre zum Tod.

  • Massentests in Schulen

»Es ist ein unbeschreiblicher Schmerz, wenn man nach neun Monaten Schwangerschaft sechs bis sieben Monate warten muss, nur um zu sehen, ob ein Kind gesund ist oder sterben wird«, erklärte Ekstein dem New Scientist seine Beweggründe in einem seiner seltenen Interviews. Bereits mit 17 Jahren liefern junge Orthodoxe Dor Yeshorim ihre Blutproben und lassen sie auf versteckte genetische Krankheiten testen. Die Massentests werden meist in Schulen durchgeführt, vor allem an so genannten Yeshivos, Akademien für religiöse Bildung. Die jungen Leute oder ihre Eltern zahlen für die Analysen einen subventionierten Preis von bis zu 200 Dollar – Zuschüsse kommen von privaten Spendern und dem Staat.

Zehn Tests sind derzeit üblich, zum Beispiel wird nach dem Gen der Mukoviszidose gefahndet, einer Stoffwechselstörung, die sich in chronischem Husten und schweren Lungenentzündungen äußert. Im Programm sind außerdem die Canavan-Krankheit, bei der aufgrund eines Enzymmangels Nervenzellen im Gehirn absterben, oder die Fanconi-Anämie, eine Knochenmarkserkrankung, die mit Anomalien an Organen und zahlreichen Tumoren einhergeht. Nicht alle gescreenten Krankheiten enden nach kurzer Zeit tödlich. So leben Menschen mit Mukoviszidose aufgrund besserer Therapie zunehmend länger, einige werden 40, 50 oder sogar 60 Jahre alt. Das Gaucher-Syndrom, das auf Wunsch ebenfalls getestet wird, lässt sich medikamentös behandeln. Betroffene mit einer leichteren Variante der Krankheit führen ein fast normales Leben.

  • 500 »Risiko-Paare« entdeckt

Jeder Teilnehmer von Dor Yeshorim bekommt eine mehrstellige Codenummer mitgeteilt. Wenn zwei Kandidaten von den Eltern für die arrangierte Hochzeit ausgesucht wurden, wählen sie die Brooklyner Nummer, geben ihre Codes durch und erfahren, ob sie vom Erbgut her zueinanderpassen. Lautet die Antwort »genetisch kompatibel« können sie sich näher kennenlernen und sehen, ob sie sich auch sympathisch sind. Falls ihrem Nachwuchs genetische Probleme drohen, verzichten die Aspiranten in der Regel auf weitere Kontakte.

Nach Angaben von Dor Yeshorim wurden bislang rund 500 »Risiko-Paare« entdeckt. Welche Konsequenzen die Betroffenen aus der Mitteilung ziehen, wird nicht erfasst. Es ist jedoch anzunehmen, dass sie der Empfehlung von Rabbi Ekstein folgen und auf eine Heirat verzichten, sagt die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack. »Niemand würde auf die Idee kommen, keine Kinder haben zu wollen oder schwerstkranke Kinder in Kauf zu nehmen.« Falls ein Paar trotz des Risikos erbkranker Kinder aneinander festhält, muss es mit erheblichem Widerstand der Familien und der Rabbis rechnen.

Es ist schwierig, von Dor Yeshorim Informationen zu erhalten. So gibt die Organisation keine Auskunft darüber, nach welchen Kriterien ein Gentest ins Programm aufgenommen wird und wo die Grenze zwischen akzeptablen und nicht-akzeptablen Tests verläuft. Ein Sprecher der Organisation teilte Anfang der 1990-er Jahre mit, man werde jeden verfügbaren Gentest berücksichtigen. Rabbi Ekstein schränkte später in einem Brief an eine jüdische Zeitschrift ein, man teste nur auf solche Veranlagungen, die schwere Krankheit oder den Tod zur Folge hätten. Dor Yeshorim engagiert sich zunehmend für Genforschung, indem die Organisation ausgesuchte Wissenschaftler finanziell unterstützt oder Patienten für Studien rekrutiert.

  • Ein echtes Problem

Nach eigenen Angaben erfasst Dor Yeshorim 90 Prozent der streng orthodoxen Juden. Weder die Betroffenen noch ihre Angehörigen erfahren zu irgendeinem Zeitpunkt das individuelle Genprofil. Dadurch bleiben Dor Yeshorim die Kosten für die genetische Beratung erspart. »Zudem wird Stigmatisierung verhindert, wie es die jüdische Religion gebietet«, sagt Politikwissenschaftlerin Prainsack, die am Londoner King’s College lehrt. Allerdings bleibt es der Umwelt nicht verborgen, wenn zwei füreinander ausgesuchte junge Menschen Dor Yeshorim in Anspruch nehmen und dann entscheiden, nicht zu heiraten. »Das macht jedem in der Jüdischen Gemeinschaft unmittelbar klar, dass da zwei Menschen mit Makel sind«, sagt Rabbi Moshe David Tendler, Professor für Medizinische Ethik an der Yeshiva Universität in New York.

Stigma sei in jüdischen Gemeinschaften ein echtes Problem, sagt auch der Krebsarzt Mark Levin aus Ontario in Kanada, der eine Studie zu Gentests durchgeführt hat. Ein Ergebnis seiner Untersuchung: »Identifizierte Träger scheinen vermehrt unter Angst zu leiden. Unter High School Studenten fühlte sich fast die Hälfte der Träger ‘bedrückt oder deprimiert’.«

  • Keine kritische Diskussion

Ob Gencheck vor dem ersten Rendezvous oder Gentests bei Schwangeren – eine kritische ethische Diskussion hierzu gebe es in der israelischen Öffentlichkeit nicht, sagt die Soziologin Yael Hashiloni-Dolev. Das mag mit der Gründungsgeschichte des Landes zusammenhängen. »Zionismus und Eugenik waren Kinder derselben Zeitperiode«, erklärt Raphael Falk, emeritierter Genetikprofessor aus Jerusalem. Die Zionisten propagierten den gesunden und starken muscle jew, als Gegenbild zum unterdrückten Diasporajuden. »In der Praxis der Gentests lebt dieser Wunsch nach dem ‘besseren Menschen’ weiter«, meint die Politologin Prainsack.

© Martina Keller, 2007
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