BioSkop unterstützen! Kontakt Über uns


THOMAS LEMKE, Soziologieprofessor an der Universität Frankfurt a.M.

Das Regime des Risikos

  • Genetische Diagnostik als moralische Technologie

aus: BIOSKOP Nr. 24, Dezember 2003, Seiten 14+15

GenforscherInnen machen Gene für immer mehr Krankheiten (mit-)verantwortlich. BioethikerInnen propagieren – passend zum neo-liberalen Politikmodell – »genetische Eigenverantwortung«. Gendiagnostik wird zur moralischen Technologie.

Brustkrebs ist in Industrieländern die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Seit Mitte der 1990er Jahre sind einige Gene identifiziert worden, die am Entstehen von Brustkrebs beteiligt sein sollen. Man schätzt, dass eine von 500 Frauen das BRCA1-Gen (BRCA steht für breast cancer = Brustkrebs) und eine von 500 – 2.000 Frauen das BRCA2-Gen tragen. Allerdings sollen die BRCA-Gene nur für fünf bis zehn Prozent aller Brustkrebsfälle verantwortlich sein. Und selbst wenn die gesuchte Genmutation festgestellt worden ist, bedeutet dies nicht, dass die Krankheit tatsächlich ausbrechen wird; der Test besagt nur, dass ein höheres Erkrankungsrisiko bestehe. Andererseits sind »intakte« BRCA-Gene kein Schutz vor Brustkrebs. Denn die meisten Krebsfälle werden nach überwiegender wissenschaftlicher Einschätzung durch Schadstoffe in Nahrungsmitteln, Luft und Wasser oder schädliche Wohn- und Arbeitsbedingungen ausgelöst.

In jedem Fall ist das Ergebnis eines BRCA-Tests für die getesteten Frauen sehr bedeutsam. Denn auf dieser Risikoinformation basieren Entscheidungsprozesse, die selbst wiederum medizinische, psychologische und soziale Risiken produzieren können.

Die psychischen und sozialen Folgen von Gentests sind erheblich.

Die medizinischen Risiken ergeben sich aus den verfügbaren Strategien zum Vorbeugen und Überwachen. Zwar wird den Trägerinnen des mutierten Gens empfohlen, mit der Mammographie im Alter von 25-35 Jahren zu beginnen, aber die Wirksamkeit dieser frühen Überwachung ist zweifelhaft. Die Mammographie ist nicht ohne Risiko, weil regelmäßige Bestrahlungen selbst jene Mutation bewirken können, die den Krebs auslösen soll. Falsche positive Diagnoseergebnisse, die nicht selten sind, können überflüssige medizinische Eingriffe und Operationen begründen. Im Extremfall entscheiden sich Frauen zu einer »vorbeugenden«, operativen Brustentfernung. Vor allem in den USA empfahlen MedizinerInnen in der Vergangenheit diesen massiven Eingriff, nachdem Mutationen auf einem der beiden BRCA-Gene entdeckt worden waren.

Auch die psychischen und sozialen Folgen der Gentests auf Brustkrebs sind erheblich. Studien, basierend auf Interviews, zeigen, dass nach einer Diagnose der BRCA-Mutation viele Frauen ihr erhöhtes Risiko nicht in Begriffen von Wahrscheinlichkeit, sondern als Gewissheit auffassten: Sie gingen schlicht davon aus, sicher Brustkrebs zu bekommen. Die meisten Frauen leiteten aus der Risikoinformation die Verpflichtung zum Risikomanagement ab; sie unterzogen sich weiteren medizinischen Eingriffen und nahmen regelmäßig an Kontrolluntersuchungen teil.

Obwohl sie all dies ohne formalen Zwang taten, betrachteten sie es doch als unbedingt notwendig. Die Möglichkeit, keine weiteren Eingriffe vornehmen zu lassen, schlossen die betroffenen Frauen de facto aus. Die Getesteten glaubten, nicht nur für sich selbst verantwortlich zu sein. Sie fanden die Ergebnisse auch für ihre Verwandten bedeutsam, etwa für Kinder, Schwestern, Mütter, Nichten und Tanten. Darüber hinaus werteten viele Befragte dies als Verpflichtung gegenüber Toten, etwa gegenüber der an Brustkrebs gestorbenen Mutter oder Schwester. Andere sahen den Test weniger als eine private Angelegenheit, sondern als persönlichen Beitrag für die Allgemeinheit. Durch Bereitstellen von genetischem Material wollten sie die Erforschung des Brustkrebs und die Entwicklung von Therapeutika fördern.

Die Konstruktion von Risikopersonen, Risikopaaren, Risikoschwangerschaften etc. erleichtert es, abweichendes Verhalten zu moralisieren und Schuld und Verantwortung zuzuweisen.

Viele der befragten Frauen suchten ihre Angst über den diagnostizierten Risikostatus zu kontrollieren, indem sie ihre Körper einem Kontrollregime unterwarfen. Sie gingen zu Vorsorgeuntersuchungen und verfolgten einen Lebensstil, der das Krankheitsrisiko herab zu setzen versprach. Auch wenn den Interviewten klar war, dass sie keine wirkliche Kontrolle über die Krankheit besaßen, betonten fast alle ihre persönliche Verantwortung, das »Risiko« zu verringern. Sie glaubten, selbst ein Risiko zu verkörpern und hielten es für ihre Pflicht, ihr Leben auf die Risikoinformation einzustellen.

Obwohl unklar ist, ob die Betroffenen jemals an Krebs erkranken, erfahren doch ihr eigenes Selbstverständnis, ihr Verhältnis zu anderen und ihre Lebensplanung eine »Mutation«: Durch die Konzeption von Krebs als genetisch diagnostizierbare Krankheit wurde das, was zuvor als unglückliches Schicksal außerhalb menschlicher Kontrolle galt, zu einem vorhersagbaren Ereignis, das durch genetisches Wissen beherrschbar zu werden verspricht.

Auch wenn dieses Versprechen illusionär bleibt, so verweist der Einsatz von Gentests doch auf eine individualisierte Form der Prävention, die riskante Umweltfaktoren allerdings völlig ausblendet. Im Mittelpunkt der Vorsorgestrategie stehen »Ursachen«, die im Körper der Einzelnen zu lokalisieren sind, während soziale und physische Bedingungen der Krebsentstehung unberücksichtigt bleiben. Statt Krebs durch Verringern von Schadstoffen zu bekämpfen oder Arbeitsbedingungen zu verbessern, wird der bösartige Tumor im Rahmen des genetischen Krankheitskonzepts zur individuellen Angelegenheit, deren Wurzel in persönlichen Anfälligkeiten und Dispositionen zu suchen und nur durch Ändern des eigenen Lebensstils zu bekämpfen sei.

In dieser Hinsicht ist der permanente Verweis auf Eigenverantwortung und Selbstbestimmung materieller Bestandteil eines Risikokonzepts, in dem die Individuen mehr sind als Opfer oder Gefangene ihres Erbmaterials. Die Konstruktion von Risikopersonen, Risikopaaren, Risikoschwangerschaften etc. erleichtert es, abweichendes Verhalten zu moralisieren und Schuld und Verantwortung zuzuweisen. Sie ermöglicht, Präventionsformen auch in nicht medizinischen Bereichen zu entwickeln und erhebt die prädiktive Gendiagnostik zum Modell einer sozialen Medizin. In dieser Hinsicht sind Gentests nicht nur eine medizinische, sondern auch eine moralische Technologie.

Der Appell an die »genetische Verantwortung« erfasst heute tendenziell jede/n.

Die massive finanzielle Förderung und zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz humangenetischer Forschung ist Teil einer umfassenden sozialen Umwälzung, die Verantwortung für soziale Risiken individualisiert und privatisiert. Dabei werden die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme durch Dispositive der Unsicherheit ergänzt und tendenziell ersetzt. Die Einzelnen sollen sich durch Risikosensibilität auszeichnen und persönliche »Risiken« vorausschauend managen. Dies gilt nicht nur für ihre Gesundheit, sondern auch für Altersvorsorge, Berufsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit, Vorbeugung vor Verbrechen etc.

Der Appell an die »genetische Verantwortung«, der sich Mitte der 1970er Jahre ausschließlich an Schwangere und Paare mit Kinderwunsch gerichtet hatte, erfasst heute tendenziell jede/n. Bei genetischen Reihenuntersuchungen und der Einführung der Pränataldiagnostik ging es zunächst um Reproduktionsverantwortung – im Mittelpunkt standen die Sorge um »gesunde« Nachkommen und das Ziel, die Vererbung »krank machender« Gene zu verhindern. Inzwischen fordern Experten wie der Bochumer Bioethiker Hans-Martin Sass Eigenverantwortung auch im Umgang mit persönlichen genetischen Risiken. In dieser Perspektive erlaubt erst die Kenntnis des individuellen genetischen Profils eine verantwortliche Lebensführung. Der Bezug auf die Gene hat hier nichts mehr mit Schicksal zu tun, sondern eröffnet ein Feld möglicher Untersuchungen und Interventionen.

Die Bedeutung der Gendiagnostik dürfte vor allem darin liegen, dass sie ein »reflexives« Verhältnis von individuellem Risikoprofil und sozialen Anforderungen konstruiert. Je weniger die Subjekte an ihren objektiven Lebensbedingungen ändern können, desto mehr wird ihnen eine imaginäre Kontrolle zugesprochen und auch aufgebürdet. Gesundheit erscheint als Ergebnis umsichtiger Lebensführung, die den eigenen genetischen Empfindlichkeiten Rechnung tragen soll. An krank machenden Umwelt-, Lebens- und Arbeitsbedingungen sollen die zum »Risiko« erklärten Menschen dagegen nichts ändern können. Die Rede von einer »genetischen Verantwortung« hat nichts mit zunehmendem Wissen und sich daraus ergebenden Pflichten zu tun, sondern ist Teil einer politischen Strategie. Deren offensichtliche Wirksamkeit besteht gerade darin, sich als einzig denkbare und mögliche Form von Verantwortung zu präsentieren. Dabei bleiben die Zumutungen und Zwänge – letztlich: die Unverantwortlichkeiten – ausgeblendet, die der herrschende Verantwortungsdiskurs produziert.

© Thomas Lemke, 2004
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Autors